Damit der Mensch Mensch bleibt: Schützt die Heiligtümer!

Der Mensch lebt nicht von Brot allein: Um mehr zu sein als eine effektive Arbeitsmaschine und ein spendabler Konsument, braucht er Sinn und Hoffnung. Beides gibt ihm das, was man gemeinhin "das Heilige" nennt. Religiös oder weltlich, bislang hatte jeder Mensch etwas, das ihm heilig war. Mit aller Kraft wird versucht, ihm das zu nehmen.

Von Oleg Jassinski

Kürzlich stieß ich auf ein Video, das in den USA über ein soziales Netzwerk massenhaft verbreitet wurde. Das Video zeigt einen Orang-Utan, der die Melodie "Bella Ciao" auf einer Geige zu spielen schien, unter dem idiotischen Gegacker des belustigten Publikums.

"Bella Ciao" ist die weltweit bekannteste Hymne der italienischen Partisanen des Zweiten Weltkriegs und eines der wichtigsten antifaschistischen Symbole der Menschheit. Aus irgendeinem Grund wurde für das Affenstück nicht die US-Hymne oder eines der schwachsinnigen Musikvideos von Maluma ausgewählt (um das Tier nicht zu quälen, da sie dem Gehirn eines Affen eher entsprechen, aber noch schlichter sind), sondern eben "Bella Ciao".

Das Ziel dahinter ist die Zerstörung des menschlichen Konzepts des Heiligen, des Absoluten, des Unantastbaren. Es ist eine Art Aufwärmung vor dem Niederreißen der Denkmäler für die Befreier unserer Welt vom Faschismus. Der erste Akkord jeder Nazi-Hymne ist das ungehobelte Lachen des selbstgerechten Mobs, der auch noch stolz darüber ist.

Betrachten wir die Situation einmal von einer anderen, unkonventionellen Seite. Als die Mitglieder von Pussy Riot, einer Punkband, die weder in Russland noch in der Welt bekannt war, in bunten Sturmhauben in die Christ-Erlöser-Kathedrale eindrangen, um ihren satanischen "Gebetsgottesdienst" abzuhalten, scherten sie sich nicht um die Gefühle der Gläubigen, die sie damit verletzten. Des musikalischen und poetischen Talents beraubt (wer es nicht glaubt, dem hilft Google), starteten sie ihre internationale Karriere und lagen schon bald in den Armen von Madonna, Hillary Clinton und anderen globalen Stars.

Erstaunlicherweise konnten die professionellen Feinde aller Arten von Diskriminierung, die Retter wilder Tiere und die Hüter der Rechte aller sexuellen, ethnischen und religiösen Minderheiten, die bei der engelsgleichen Verteidigung ihrer Schützlinge Schaum vor dem Mund bekamen, nicht die grenzenlose Verachtung der "Vaginas" für den Glauben und die Gefühle der normalen Bürger ihres eigenen Landes erkennen, für die Tempel heilige Orte sind. Für alle normalen Menschen – ob religiös oder nicht – ist die Ewige Flamme kein Ort zum Braten von Eiern, was entwurzelten Mankurten nicht zu vermitteln ist. 

Wenn in Ländern, die nach Jahrhunderten ihrer Ausplünderung durch westliche Imperien verarmt sind, den hungernden Eingeborenen Fortschritt versprochen wird und in dessen Namen heilige Berge abgetragen, Wälder gerodet und Flüsse trockengelegt werden, um Bergbau zu betreiben oder Autobahnen zu bauen, dann findet eine Auslöschung der Erinnerung und eine Kastration ganzer Kulturen statt. Ganze Völker werden danach von den Stürmen des Kapitalismus hinweggefegt und gehen ohne ihre Wurzeln und ohne jeden kulturellen Anker unter. Sprachen, Kulturen, Religionen und menschliche Welten, die für immer verschwunden sind, sind ein unwiederbringlicher persönlicher Verlust für die Menschheit und für jeden von uns.

Um das Menschliche im Menschen endgültig zerstören zu können, muss es zuerst das Konzept des Heiligtums in uns auslöschen. Es ist schon seltsam: Indem sie den wildesten Obskurantismus, den absurdesten Aberglauben und den irrationalen Glauben an das Geld als den einzigen realen Wert in der Welt verbreiten, versuchen sie, in uns die Reste des rationalen, kritischen Denkens auszurotten, die uns zusammen mit dem Sinn für das Heilige, den wir in uns kultiviert haben, noch erlauben, uns als Menschen zu bezeichnen.

Das Heilige ist kein Start-up für ein spirituelles Spiel oder ein Ersatz für Weisheit. Es ist ein Mysterium, das in uns lebt, wo sich die Mischung von Zeiten und Generationen, Noten und Poesie in das Gewebe des Lebens einzeichnet, Kindern einen Durst nach Sinn und alten Menschen eine Vorahnung der Ewigkeit gibt. Schützt den Menschen, schützt seine Heiligtümer!

Oleg Jassinski (englische Transliteration: Yasinsky), ein aus der Ukraine stammender Journalist, lebt überwiegend in Chile und schreibt für RT Español sowie unabhängige lateinamerikanische Medien wie Pressenza.com und Desinformemonos.org. Man kann ihm auch auf seinem Telegram-Kanal folgen.

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