Plötzlich und unerwartet: Scholz demonstriert sein Politikertalent

Olaf Scholz wurde von seiner Partei erneut für das Amt des Bundeskanzlers nominiert. Zwar wird er die Kanzlerschaft verlieren, aber er bleibt eine wichtige politische Figur, von der die Unterstützung Berlins für die Ukraine abhängt, ebenso wie die Frage, ob der Konflikt mit Russland in eine noch gefährlichere Phase eintritt.

Von Dmitri Bawyrin

Verglichen mit jedem anderen großen westlichen Land – von den Vereinigten Staaten bis Polen – ist die deutsche Innenpolitik langweilig und vorhersehbar. Umso überraschender ist es, dass sich der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz unerwartet als talentierterer Politiker entpuppte, als es allgemein angenommen wird (vorausgesetzt natürlich, man versteht Politik nach den gängigsten Definitionen – als "Kunst des Möglichen" und als Lehre vom Machterwerb und -erhalt).

Scholz ist weit davon entfernt, ein Genie zu sein. Im besten Fall ist er ein "Durchschnittsstudent". Sein politischer Weg wurde bereits vorhergesagt – in Ungnade von der Macht verdrängt und zum Sündenbock für die vielen Probleme Deutschlands zu werden. Stattdessen wird er ein beträchtliches Stück Macht und persönlichen Einfluss auf das Weltgeschehen behalten, wenn auch nicht den Kanzlersitz.

Rezession, Inflation, Deindustrialisierung, Energiekrise, sinkender Lebensstandard der Deutschen und Verlust der politischen Autorität Berlins auf der internationalen Bühne – trotz alledem wird Scholz nicht das Schicksal vieler anderer Staatsführer teilen, die nach ihrer Entscheidung zur militärischen und politischen Konfrontation mit Russland entmachtet wurden. Die Rede ist von den Staatsführern von Ländern wie den USA, Großbritannien, Japan, Italien, Polen und den Niederlanden.

Von denen, die am Anfang standen, sind nur noch die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, der französische Präsident Emmanuel Macron und der kanadische Premierminister Justin Trudeau (genau genommen bis zu den Wahlen im Herbst) noch im Amt.

Scholz gehört weder zur zweiten, noch zur ersten Gruppe: Im Jahr 2025 wird er zum Vizekanzler und sehr wahrscheinlich zum Außenminister herabgestuft werden. Das lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, denn die deutsche Politik bleibt langweilig und vorhersehbar.

Die am 23. Februar 2025 stattfindenden Wahlen werden vom ehemals von Angela Merkel geführten CDU/CSU-Block gewonnen, wobei der derzeitige Vorsitzende der Christdemokraten, Friedrich Merz, das Amt des Bundeskanzlers übernimmt. Um eine Regierung bilden zu können, muss er jedoch mit der Regierungspartei von Scholz, der SPD, einen Juniorpartner in der Koalition benennen, und der Juniorpartner erhält in solchen Fällen in der Regel das Außenministerium.

Es sind keine anderen Optionen erkennbar. Die Grünen und die in der bisherigen Koalition mitregierenden Liberalen stehen vor einer historischen Wahlniederlage. Die systemfremden Parteien Alternative für Deutschland (AfD) und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sind dagegen auf dem Weg zu Rekordwahlergebnissen, aber Merz wird sie auf keinen Fall in die Koalition einbeziehen. Damit bleibt nur noch die SPD übrig, die weiterhin von Scholz kontrolliert wird.

Sein persönlicher Sieg besteht im rechtzeitigen Verdrängen seiner Konkurrenten im innerparteilichen Machtkampf, vor allem des Verteidigungsministers Boris Pistorius, der laut Meinungsumfragen der beliebteste Politiker des Landes bleibt – er ist beliebter als Scholz und sogar Merz. Wie genau Scholz das schaffte, ist ein Rätsel. Möglicherweise wollte Pistorius keine zusätzliche Verantwortung übernehmen, und ein gutes Verhältnis zu Scholz war ihm im Gegenteil wichtig. Dennoch trat er in den Ausstand, obwohl seine Beförderung naheliegend war und er innerhalb der SPD in ernsthafter Opposition zum Kanzler stand.

Darüber hinaus wird Scholz jetzt sogar in der Lage sein, Merz einen politischen Kampf aufzuzwingen, da die Hauptstreitpunkte zwischen ihnen von großer Bedeutung sind – es geht darum, ob ein Krieg zwischen Deutschland und Russland begonnen werden soll oder nicht. Die Frage ist also, ob man Kiew mit Taurus-Langstreckenraketen beliefern soll, die überall in der Russischen Föderation einschlagen dürfen, oder ob man kein Risiko eingehen und vorsichtig sein soll, denn militärische Konflikte mit Russland rufen in der deutschen Erinnerung eher erschreckende Bilder hervor.

Anfang November versprach Merz in einer unverhohlenen Drohung an Moskau, "zu liefern und zu genehmigen". Seine Neigung zu dummen Fauxpas zur falschen Zeit hält den möglichen künftigen Kanzler seit Jahren am Rande der deutschen Politik. Und nun: Kurz nach Merz' Drohungen legte Moskau mit der "Oreschnik"-Rakete einen Trumpf auf den Tisch.

Und die europäische Presse rechnete freundlicherweise vor, dass die Flugzeit der russischen Rakete nach Berlin elf Minuten betragen würde.

Man muss Scholz zugutehalten, dass er in der Frage der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern prinzipientreu und konsequent ist. Dabei verschweigt er nicht einmal, was Washington, London und Paris gerne vertuschen: Um solche Raketen gezielt abfeuern zu können, benötigt man deutsche Militärspezialisten, was eine direkte Einbeziehung der Bundeswehr in den Konflikt mit Russland zur Folge hätte. Und das, wie Moskau warnt, wird nicht ohne Gegenreaktion bleiben.

Wohl auch deshalb ermittelten deutsche Meinungsforscher für die Position von Merz ein niederschmetterndes Ergebnis: 27 Prozent gegenüber 61 Prozent derjenigen, die die Kanzlerposition teilen – keine Raketen an die Ukraine zu liefern und sich somit nicht in diesen Konflikt zu verwickeln.

Das macht die Frage der Taurus-Marschflugkörper-Lieferungen zu einem vielversprechenden Wahlkampfthema für Scholz, wenn man die Frage scharf stellt: Auch wenn er ein Kanzler-Verlierer ist und sich die Dinge unter seiner Regierung sehr verschlechterten, brachte er die Situation doch nicht zum Schlimmsten – nämlich zum Krieg mit Russland – während Merz dazu imstande ist.

Man hat das Gefühl, dass sich selbst Merz nicht wirklich an der Ostfront engagieren will, und die SPD in ihrer Koalition mit Scholz an der Spitze des Außenministeriums wird für Berlin unter dem neuen Kanzler eine bequeme Ausrede sein, um in der Frage der Raketenlieferungen nichts zu ändern, die Situation nicht zu eskalieren und die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen.

Es ist klar, dass die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland auf dem Schreibtisch des US-Präsidenten liegt. Aber Scholz demonstrierte ja bisher das Talent, sich nicht in die Raketenabenteuer Washingtons, Londons und Paris’ hineinziehen zu lassen, wobei man von ihm schon lange keine Talente zu erwarten hat. Für einen Politiker, der seine Karriere mit Kritik an der NATO-Erweiterung und dem US-Militär begann, leistete er zwar wenig, doch gemessen an den Maßstäben der abhängigen deutschen Eliten tat er doch etwas.

Die von Scholz vorgeschlagene Vorgehensweise wird auch die deutsche Wirtschaft nicht gerade erfreuen. Seine Taktik besteht in der weiteren Finanzierung Kiews, um sich die Teilnahme an der "Koalition der Verzweifelten" freizukaufen. Aber dafür ist im deutschen Haushalt kein Geld vorhanden, wie Scholz von dem ehemaligen Finanzminister und Liberalen-Chef Christian Lindner zu verstehen gegeben wurde.

Während Lindner der Meinung war, dass es kostengünstiger wäre, Russland mit Taurus-Raketen zu treffen, hielt der Bundeskanzler das Schuldenmachen für die bessere Lösung als einen Krieg. Dies war sowohl der Grund für das Koalitionsscheitern als auch für die Tatsache, dass die Wahlen bereits im Februar statt im Herbst stattfinden werden.

Deutschland kann seine wirtschaftlichen Probleme nur lösen, indem es die Wohltätigkeit zugunsten anderer aufgibt und sich dem Pragmatismus zuwendet, was für Deutschland die Wiederherstellung der Beziehungen zu Russland bedeutet. Aber dieses Ergebnis ist von den kommenden Wahlen definitiv nicht zu erwarten. Die deutsche Elite ist immer noch zu stark, um ihre Macht nicht zugunsten der AfD und der Partei von Sahra Wagenknecht zu verlieren, deren Parteiprogramme dies alles vorsehen.

Ein Bündnis zwischen diesen beiden politischen Kräften scheint aber deshalb unwahrscheinlich, weil sie in vielen anderen Fragen Gegenspieler sind, und für einige "rot-radikale" Kreise im BSW sind die Vertreter der AfD schlicht "Faschisten".

Merz wird also Kanzler werden, und seine rechte Hand wird der vorsichtige und überraschend hartnäckige Scholz sein. Alles wird so weitergehen wie bisher: ohne Klugheit und Willen, aber auch ohne Exzesse.

Der Handlungsspielraum für Berlins künftige Politik wird ohne seine Beteiligung bestimmt – egal, ob es um Moskaus Verhandlungen mit Donald Trumps Regierung oder um Kampfhandlungen auf dem Territorium des Konflikts geht. Andere Optionen gibt es für das heutige Deutschland nicht. Um sie zu haben, braucht man Souveränität.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 26. November 2024 zuerst auf der Seite der Zeitung Wsgljad erschienen.

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