Es brodelt im NATO-Kessel

Nachdem der Einsatz westlicher Raketen gegen Russland freigegeben ist, wird schon wieder nach dem nächsten Eskalationsschritt gesucht. Ein NATO-Termin, ein Treffen jagt das andere, aber nirgends gibt es ein Ergebnis, das Hoffnung auf Vernunft aufkommen lässt.

Von Dagmar Henn

Die letzten Tage waren von geradezu hektischer Aktivität geprägt. Ganze Scharen von NATO-Vertretern fliegen hin und her wie eine gigantische Version eines aufgeschreckten Hühnerhaufens. Begonnen hatte das alles bereits mit der Wahl von Donald Trump zum künftigen US-Präsidenten, dessen Ankündigung, den Krieg in der Ukraine zu beenden, mitnichten Erleichterung auslöste, sondern das eifrige Bestreben, ihn genau daran zu hindern.

Das hatte schon am 20. November eine Sitzung einer ganzen Reihe von NATO-Verteidigungsministern in Kopenhagen ausgelöst, die wenig mediale Beachtung fand. Das war die sogenannte Nordgruppe, eine Zusammenstellung, die Großbritannien schon 2010 initiiert hatte, die sich jetzt aber vor allem mit dem aktuellen Problem drohenden Friedens befasst haben dürfte. Das passt mit ihrem britischen Ursprung bestens zusammen, denn die Kriegsbegeisterung der letzten britischen Regierungen (gleich, ob Konservative oder Labour) ist geradezu berüchtigt; während der aktuelle Premierminister Keir Starmer begierig darauf schielen dürfte, unter Trump die Briten wieder in eine Führungsposition in Europa zu schieben, ist seine Bevölkerung derart begeistert von den ständigen Opfern für die Ukraine, dass eine Petition für Neuwahlen in weniger als zwei Tagen zwei Millionen Unterschriften erhielt.

Das britische Militär hat jedenfalls vor dem dortigen Unterhaus schon erklärt, es wäre jederzeit zu einem Einsatz gegen Russland bereit. Aber das war zwei Tage nach diesem Treffen in Kopenhagen, auf dem die versammelten Minister sich einen Vortrag des ukraischen Verteidigungsministers Rustem Umerow (ein deutscher Verteidigungsminister, der ähnliche Assoziationen mit seinem Namen auslösen könnte, hieße Sensenmann) und des ukrainischen Ministers für strategische Industrien anhörten, um dann zuzusichern, sie würden die militärische Unterstützung der Ukraine verstärken.

Was eigentlich sofort die berühmte Geschichte mit der Million Artilleriegranaten in Erinnerung rufen sollte, die Tschechien einmal beschaffen wollte, oder die Größenverhältnisse zwischen der Rüstungsindustrie Russlands und der der beteiligten Staaten.

Natürlich haben sie auch wieder erklärt, es könne "keine Friedensgespräche ohne die Ukraine geben". Interessant daran ist nur, wie sich die Bedeutung dieses Satzes verschoben hat. Während er zwei Jahre lang dazu diente, die Verweigerung jedes diplomatischen Gedankens in den westeuropäischen Hauptstädten zu rechtfertigen, indem er eine künstliche Hilflosigkeit konstruierte, besteht sein aktueller Zweck darin, den Willen zu bekunden, eine mögliche US-Sabotage des Kriegsprojekts zu verhindern. Schließlich ist die Leibwache des Kiewer Statthalters Wladimir Selenskij mit Briten bestückt, nicht mit US-Amerikanern, sodass sie selbst bei Versuchen, eine verhandlungsfähigere Spitze zu installieren, noch ein Wort mitzureden hätten.

Der Unterton dieses Ostseeanrainertreffens plus Briten dürfte allerdings aus der Auswertung der Ostseemanöver dieses Jahres mit einem kleinen Schuss Kaliningradblockade bestanden haben. Sind ja schließlich keine netten Menschen, die sich da zum Plausch versammelten.

Und dann kam der Haselnussregen. In großer zeitlicher Nähe zur Veröffentlichung der neuen russischen Nukleardoktrin, die zusammen eine kurze, deutliche Botschaft ergaben: erstens, für uns ist es jetzt legal, euch auf die Mütze zu geben, auch nuklear, wenn ihr uns angreift, und zweitens, aber wir haben es noch lange nicht nötig, zu Atomwaffen zu greifen, weil wir noch ganz anderes Spielzeug besitzen.

Die Hauptreaktion war im Grunde vorhersehbar. Schließlich hieß es ab dem Moment, als Russland die Entwicklung von Hyperschallraketen bekannt gab, das sei nur ein Propagandatrick, in Wirklichkeit gebe es die gar nicht (wenn es in Deutschland ein öffentlich-rechtliches Fernsehen gäbe, das seinem Programmauftrag nachkäme, wäre jetzt eine Physikstunde angesagt, die mit den Formeln für kinetische Energie vertraut macht).

Dann gab es noch diesen Konteradmiral vom STRATCOM, dem strategischen Kommando der US-Streitkräfte, das für die Koordination der Nuklearkräfte zuständig ist (die die Vereinigten Staaten auf ihre verschiedenen Truppengattungen verteilt haben, die jeweils wie kleine Fürstentümer funktionieren), der sich hinstellte und erklärte, die USA seien bereit für einen Atomkrieg, Hauptsache, sie hätten hinterher noch Raketen übrig und behielten die Führung der Welt. Der Kommentar von Douglas Macgregor dazu lautete übrigens, nach einer einleitenden Bemerkung, die USA hätten inzwischen so viele Generäle, das sei eine richtige Bananenrepublik: "Buchanan, ich weiß nicht, wer das ist, aber er sollte entfernt werden. Es ist nicht seine Aufgabe, eine solche öffentliche Erklärung abzugeben."

Wie aktiv die Briten anderweitig noch sind, ist unklar. Immerhin gaben sie gerade erst wieder eine Warnung vor "russischer Sabotage" heraus, und wie bestellt fiel ein deutsches Frachtflugzeug vom Himmel.

Am Montag traf sich dann bereits die nächste NATO-Runde, diesmal in Berlin, mit Frankreich, Großbritannien, Polen und einer italienischen Staatssekretärin, und wieder war man sich so einig, man müsse unbedingt sicherstellen, dass der böse Trump den Fluss des Kriegsgeräts nicht unterbinden könne, und ganz leise schwang im Hintergrund schon wieder das Thema Bodentruppen mit. Diesmal sogar bei unserem vornehm-lateinisch tuenden Herrn Bäcker alias Boris Pistorius.

In den USA, vermutlich unter der Ägide von Jake Sullivan und Antony Blinken, werden immer weitere Ideen in den Raum gestreut. Die JASSM-Raketen tauchen wieder auf, als Überlegung, wobei das dieses Mal eindeutig aus Kiew lanciert wurde; nachdem die Nordkoreaner dazu gedient hatten, die Freigabe der ATACMS zu rechtfertigen, wurden jetzt plötzlich Huthis in Russland entdeckt; und die New York Times ließ, in einem Artikel vom 21., nach einem Abschnitt über Debatten zwischen ungenannten Vertretern aus den USA und Europa, wie Sicherheitsgarantien für die Ukraine aussehen könnten, sogar folgende Sätze vom Stapel:

"Mehrere Offizielle schlugen sogar vor, Mr. Biden könne die Atomwaffen in die Ukraine zurückbringen, die ihr nach dem Fall der Sowjetunion genommen wurden. Das wäre eine sofortige und ungeheure Abschreckung."

Anders formuliert, in den Gesprächen wird derzeit alles Mögliche angedeutet, in den Raum geworfen, ein klein wenig wie in der Hexenszene von Macbeth, in der unzählige Dinge im Kessel landen.

"Sumpf'ger Schlange Schweif und Kopf brat und koch im Zaubertopf (...) Wolfeszahn und Kamm des Drachen, Hexenmumie, Gaum und Rachen ..."

Die angelsächsische Presse ist übrigend gerade voll mit der Schauergeschichte eines angeblichen russischen Deserteurs, der erzählt haben soll, am Tag des Beginns der russischen Militäroperation seien die russischen Raketenkräfte in voller Bereitschaft gewesen. Erst nach zwei bis drei Wochen sei der Alarm wieder heruntergestuft worden.

Was vermutlich im Westen wieder als Bedrohung ankommt. So, wie die aufgescheuchte Truppe vermutlich ebenfalls glaubt, ihre diversen Ankündigungen und mehr oder weniger verdeckten Drohungen mit noch mehr Raketen und angedachten Truppenverlegungen erweckten einen Eindruck der Stärke.

In diese Mischung gehört dann auch noch eine Resolution der parlamentarischen Versammlung der NATO in Montreal vom Montag, dem 25., die den Satz enthält, man dränge die Regierungen und Parlamente der Allianz, die "zeitige Lieferung von Munition und fortschrittlichen Waffensystemen, darunter Luftabwehrsysteme, weitreichende Präzisionswaffen und Multifunktions-Kampfflugzeuge", sicherzustellen; eine Formulierung, die dann der Leiter der ukrainischen Delegation auf dieser Versammlung sofort damit übersetzte, diese Resolution beziehe sich "spezifisch auf Raketen mit einer Reichweite von 1.000 bis 5.500 Kilometern". Das würde zwar immer noch nicht bis Wladiwostok reichen, aber bis Ulan Ude.

Niemandem in dieser Meute scheint in den Sinn zu kommen, dass das, was sie vermutlich für "strategische Ambiguität" halten und wofür sie sich auf die Schulter klopfen, selbst in ihrem eigenen Interesse genau das Falsche ist. Weil sie nicht begreifen wollen, dass die einzig rationale Reaktion auf eine unklare Bedrohung lautet, sich auf die schlimmste der Möglichkeiten einzustellen und bereit zu sein, darauf zu reagieren.

Mit Ausnahme von den Vertretern eher misstrauisch beäugter Länder wie Ungarn, der Slowakei oder auch der Türkei wirken viele der Vertreter, seien es Minister oder Staatschefs, ohnehin wie geklont, in den gleichen Universitäten und Stiftungen geformt, also vom gleichen Band gelaufen; sie könnten in einem Raum sitzen, sich acht Stunden lang über Netflix-Serien unterhalten und kämen trotzdem zu einem einstimmigen Ergebnis. Einer der Gründe, warum ihnen jedes "anders" sofort "feindlich" signalisiert und sie Stärke in ihrem Stuhlkreis suchen.

Welche Schritte die beiden mutmaßlichen Akteure in Washington, Sullivan und Blinken, noch zu gehen bereit sind, weiß vermutlich niemand außer ihnen selbst. Es weiß auch niemand, wer in den Vereinigten Staaten derzeit die tatsächliche Kontrolle über das atomare Arsenal ausübt. Allein das ist ein unglaublicher Zustand für das Land, das dieses ganze Personal als "Führung der freien Welt" betrachtet. Und vor welcher Gefahr sie tatsächlich davonlaufen (denn das ist eine Flucht in die Aggression nach außen), ob es persönliche Ängste sind oder ein tickender Sprengsatz im westlichen Finanzsystem, wird sich auch erst später klären.

Aber die Gefahr, dass die zunehmend unvorhersehbaren Entscheidungen zufällig eine nicht einzudämmende Eskalation auslösen, steigt stetig weiter. Der russische Einsatz der Oreschnik hat eigentlich eine Atempause verschafft, in der alle westlichen Beteiligten noch einmal nachdenken könnten, ob der Weg, auf den sie sich begeben haben, nicht doch der falsche ist. Ob nicht selbst für sie persönlich eine Welt ohne US-Hegemonie der Welt vorzuziehen wäre, die übrig bliebe, wenn sie sie mit aller Gewalt durchzusetzen versuchten. Ihr Gegenüber muss auf das Schlimmste vorbereitet sein, weil das die einzige rational mögliche Haltung ist; was etwas völlig anderes ist, als selbst Eskalation zu suchen.

Die Beratung des NATO-Ukraine-Rats hat nun damit geendet, dass das nächste Stichwort abgesetzt, das nächste Waffensystem in die Runde geworfen wurde. Sumpf'ger Schlange Schweif und Kopf - diesmal heißt es THAAD. Ein Raketenabwehrsystem, mit dem sie vermutlich hoffen, die Oreschnik kontern zu können. Die Außenminister der G7 haben sich gleichzeitig in Italien getroffen, und wieder einmal das hohe Ross bestiegen: "Wir verurteilen Russlands unverantwortliche und bedrohliche nukleare Rhetorik sowie seine Position der nuklearen Einschüchterung aufs Schärfste." Und natürlich soll weiter an der Sanktionsspirale gedreht werden, gleich, welche Folgen das in den eigenen Ländern hat.

Es dauert jetzt noch etwas weniger als zwei Monate, und der einzige Lichtblick in dieser Orgie der Unvernunft ist, dass das Chaos und die Panik, die sich in diesem westlichen Zirkus zeigen, zumindest Hoffnung machen, dass sich mit einer Präsidentschaft Trumps tatsächlich etwas ändert. So tief fast alle Länder des Westens derzeit in eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise hineingeritten werden, es zeigen sich keine Kräfte, um diesen Absturz aufzuhalten. Nur der Kessel blubbert, und alle paar Stunden wird etwas Neues hineingeworfen. Wolfeszahn und Kamm des Drachenhohe Ross...

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