Die kleine Welt der Angela M.

Es gibt Memoiren von Politikern, die erhellend sind. Die Memoiren der Angela Merkel, die noch dazu mit dem bescheidenen Titel "Freiheit" versehen sind, gehören gewiss nicht dazu. Man erhofft einen Blick hinter den Vorhang, aber hinter diesem Vorhang ist – nichts.

Von Dagmar Henn

Für künftige Historiker werden die Memoiren von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel weder neue Einsichten zu politischen Ereignissen noch Grundlagen für eine Charakterstudie liefern. Um sich davon zu überzeugen, reicht der Auszug, den die Zeit veröffentlicht hat.

Selbstverständlich muss man davon ausgehen, dass sie diesen Text nicht selbst verfasst hat. Und dass der Ghostwriter, der dafür zuständig war, so reflektiert und gebildet ist, wie es in seinem Beruf üblich ist. Und dennoch – selbst unter Einbeziehung all dieser Gesichtspunkte ist der entstandene Text eigenartig leer. Denn es gibt zwei Dinge, die man üblicherweise von solchen Erinnerungen erwarten kann. Der erste ist ein Einblick in die Persönlichkeit, der zweite ist eine detailgenauere Sicht auf die historischen Ereignisse.

Persönlichkeit? Da ist die Tatsache, dass Merkel Sekretärin für Agitation und Propaganda in der FDJ war. Sie erzählt ihre Kindheit und Jugend in der DDR als eine ständige Bedrohung:

"Das Leben in der DDR war ein ständiges Leben auf der Kante. Begann ein Tag auch noch so unbekümmert, konnte sich alles durch das Übertreten politischer Begrenzungen in Sekundenschnelle verändern und die Existenz gefährden. Dann kannte der Staat kein Pardon und schlug erbarmungslos zu."

Nun, wenn man ihre Position in der DDR und ihre spätere Karriere betrachtet, würde man erwarten, dass sie entweder erklärt, warum sie es für richtig hielt, etwas zu tun, das sie, wenn man ihre Aussagen über ihre Kindheit ernst nimmt, hätte ablehnen müssen, oder was es war, wodurch sich ihre Überzeugungen geändert haben. Und wenn es nur um des Saulus-Paulus-Effektes willen ist.

Denn Ablehnung ist das eine, das sei ihr ja unbenommen, aber wer dann die Sekretärin für Agitation und Propaganda gibt, täuscht seine Umgebung über seine wahren Ansichten. Das kann auf Opportunismus und dem Wunsch nach einer einfachen Karriere beruhen oder auf einer Tätigkeit für ganz andere Stellen, nur – ist das ein Charakterzug, der sympathisch macht oder gar eine Eignung für politsche Ämter darstellt? Welchen Grund gäbe es, jemandem, der zuvor getäuscht hat, hinterher zu glauben, nur weil ein anderes Hemd plötzlich besser sitzt?

Es ist jedenfalls nicht glaubwürdig, dass die kleine Angela so gedacht hat. Der Abschnitt über die Kindheit, der von der Zeit abgedruckt wurde, ist ein sehr dummes Stück Propaganda, garniert mit einzelnen Details ("Einmal im Jahr fuhr meine Familie nach Berlin ins Theater"). Wobei selbst dieser Satz implizit den Eindruck erweckt, es hätte in ihrer Umgebung kein Theater gegeben; was nahelegt, dass der Ghostwriter aus dem Westen kommt, denn Kulturhäuser mit Theateraufführungen gab es auch in der Nähe von klein Angela. Es mag nur sein, dass sie ihren Eltern nicht vornehm genug waren. Oder dass es Merkel selbst ist, deren Vorstellung von Kultur so elitär ist, dass sie die damals vor der Haustür gelegene ablehnt.

Es ist erschütternd, in einer Selbstbeschreibung so wenig Reflexion zu finden. So wenig Differenziertheit auch in der Wahrnehmung anderer Personen. Es gibt ein Ich, das im Grunde ständig mit sich selbst identisch ist, ohne zu zweifeln, ohne zu reifen, ohne Leidenschaften und Irrungen. Es mag ja sein, dass der Ghostwriter so schlecht war, dass er nur Klischees liefern konnte, aber wäre in ihrem Denken etwas anderes als Klischees, hätte sie das zurückgewiesen. Nur, da sind nur Klischees:

"Ich verstand den Wunsch der mittel- und osteuropäischen Länder, so schnell wie möglich Mitglied der NATO zu werden, denn sie wollten nach dem Ende des Kalten Kriegs zur westlichen Gemeinschaft gehören. Es stand außer Zweifel, dass Russland diesen Ländern nicht das bieten konnte, wonach sie sich sehnten: Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand."

Die "westliche Gemeinschaft"? Und "die Länder wünschen"? Es hätte ja die Möglichkeit gegeben, diese Ost-West-Spaltung zu überwinden; da waren doch gar keine unterschiedlichen Gesellschaftssysteme mehr. Tatsächlich befand sich die NATO über Jahre hinweg in einer Sinnkrise, weil ihr plötzlich der Feind (und damit der Daseinsgrund) abhanden gekommen war. Die "westliche Gemeinschaft", so weit müsste ihre Logik als Physikerin reichen, ergibt selbst als Begriff nur Sinn, wenn da eine "östliche Gemeinschaft" ist. Sogar unter den Voraussetzungen, dass sie eine zutiefst NATO-Gläubige ist – die ganze Darstellung ist geschichtslos geschrieben, aus einer heutigen Sicht, die auf die Vergangenheit projiziert wird.

Selbst wenn man fest davon überzeugt ist, dass die NATO irgendwie die irdische Verkörperung des absolut Guten sei – in allen Ländern, die Gegenstand der NATO-Osterweiterung waren, gab es innere Widersprüche. Bezogen auf die Ukraine beispielsweise gesteht sie sogar ein: "Außerdem unterstützte nur eine Minderheit der ukrainischen Bevölkerung eine Mitgliedschaft des Landes in der NATO." Warum schreibt sie dann dennoch, "die Ukraine" habe "in die NATO" gewollt? Wer ist es denn, wenn nicht die Mehrheit der Bevölkerung, der da wollte? Warum diese extrem oberflächliche Sicht von "den Ländern", die "in die NATO wollten"? Warum gibt es in diesem Zusammenhang keine Personen, keine wirklichen Gespräche? So wenig, wie es Interessen und Bedürfnisse gibt? Gibt es denn eine Person Angela Merkel?

Es ist sehr eigenartig, wenn sie dann, vergleichsweise abrupt, im Zusammenhang mit Russland plötzlich personalisiert. Aber so, wie es schlechte Journalisten tun:

"Seit Putin im Jahr 2000 Präsident seines Landes geworden war, hatte er alles darangesetzt, Russland wieder zu einem Akteur auf der internationalen Bühne zu machen, an dem niemand vorbeikonnte, besonders die Vereinigten Staaten von Amerika nicht. Um den Aufbau demokratischer Strukturen oder Wohlstand für alle durch eine gut funktionierende Wirtschaft ging es ihm nicht, weder in seinem Land noch anderswo. Vielmehr wollte er der Tatsache, dass die USA aus dem Kalten Krieg als Sieger hervorgegangen waren, etwas entgegensetzen. Er wollte, dass Russland auch in einer multipolaren Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs ein unverzichtbarer Pol war. Um das zu erreichen, griff er vor allem auf seine Erfahrungen im Bereich der Sicherheitsdienste zurück."

Das sind fünf Sätze. Exakt einer, der erste, hat zumindest einen rationalen Gehalt. Der ganze Rest sind Vermutungen. Nicht, dass Vermutungen grundsätzlich unzulässig wären – aber wenn man einer Person begegnet, dann beruhen diese Vermutungen auf bestimmten konkreten Wahrnehmungen, und ein reflektierter Mensch weiß zu benennen, welche Wahrnehmung welche Vermutung ausgelöst hat. Vielleicht gibt es eine Angela Merkel, die wahrnimmt und reflektiert, dann ist aber ihr Bedürfnis, ihre eigene Persönlichkeit unsichtbar zu lassen, so hoch, dass sie gar keine Memoiren veröffentlichen sollte.

Allerdings ist auch nirgends die andere mögliche Sicht auf historische Ereignisse zu erkennen, die, in der von gesellschaftlichen Entwicklungen und von Interessen die Rede ist. Von der aus man anmerken könnte, dass der Zustand Russlands im Jahr 2000 für die Bevölkerung eine Katastrophe war (was der Absturz der Lebenserwartung deutlich belegt), dass aber Russland auf jeden Fall allein durch seine Bevölkerung ein großes, und durch seine geografische Ausdehnung ein sehr großes Land ist. Tatsachen, die ebenso sehr die russische Politik bestimmen wie die Mittellage Deutschlands die deutsche. Auch diese Sicht gibt es nicht.

Wenn aber weder ein in der Persönlichkeit noch ein in politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen liegender Grund benannt wird – wie kommt sie dann darauf, dass es Wladimir Putin nicht "um den Aufbau demokratischer Strukturen oder Wohlstand für alle" gehe? Und wie kann sie diese Sicht im Rückblick aufrechterhalten, wo zumindest klar belegbar ist, dass – im Gegensatz zu Deutschland mit seinen seit 30 Jahren stagnierenden Reallöhnen – die Einkommen in Russland in diesem Zeitraum in der Breite gestiegen sind? Also zumindest Schritte in Richtung auf "Wohlstand für alle" nicht bestritten werden können?

Ein guter Ghostwriter hätte an dieser Stelle nachgefragt und versucht, genau diese Momente herauszuholen. Wenigstens entweder ihre Sicht auf die Fakten in Frage gestellt oder versucht, die kleinen persönlichen Details herauszukitzeln. Vielleicht wurde Merkel von ihrem Vater ja so indoktriniert, dass sie hinter jedem Baum den bösen Stasi-Mann vermutete; dann wäre die spontane Projektion eines derartigen Feindbildes erklärbar. Eigentlich eher unwahrscheinlich für eine ehemalige Sekretärin für Agitation und Propaganda, die zumindest so weit Kontakt mit Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit gehabt haben muss, um zu wissen, dass ihnen bei Vollmond weder Fell noch Klauen wachsen.

Aber Merkel hat nicht nur Russisch gelernt, sie hat in der Sowjetunion studiert. Selbst wenn die Selbstbeschreibung des "Ich war schon immer dagegen" zuträfe, sie muss Menschen begegnet sein. Sie muss auch mitbekommen haben, wie sehr die Wunden des Zweiten Weltkriegs die Menschen geprägt haben.

Oder ist das, was in diesem Text steht, alles, was es gibt? Ist da nichts und niemand außer propagandistischen Phrasen, gibt es Merkel nur in der Rolle der Kanzlerette und gar nicht als Person?

"In der Münchner Rede [2007] präsentierte sich Putin, so wie ich ihn erlebte: als jemand, der immer auf der Hut war, bloß nicht schlecht behandelt zu werden, und jederzeit bereit, auszuteilen, Machtspiele mit Hund und Andere-auf-sich-warten-Lassen inklusive. Das alles konnte man kindisch, verwerflich finden, man konnte den Kopf darüber schütteln. Aber damit verschwand Russland nicht von der Landkarte."

Das ist eine sehr eigenartige Konsequenz aus einer nachdenklichen – und, das ist das Spannende daran – teils suchenden Rede. In der auf einen Satz über die unipolare Welt, den sie selbst zitiert, ein geradezu prophetischer Nachsatz folgt:

"Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört."

Wie diese Zerstörung "von innen" aussieht, kann man gerade am Personal der US-Regierung bewundern. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass sie Nachdenklichkeit nicht zu begreifen scheint und als Eitelkeit oder Schwäche interpretiert, und das ihr – auch das ist dem Text anzumerken – jeglicher Humor fehlt.

Die "Machtspiele mit Hund" beziehen sich darauf, dass Putin 2007, bei ihrem ersten Besuch in Russland, eine schwarze Labradorhündin in ihre Nähe brachte. Selbst wenn ihre Hundephobie so stark ist, dass sogar noch der freundlichste Labrador sie in Panik versetzt, das ist eine klassische Situation, in der die meisten erwachsenen Menschen vielleicht nicht im Moment selbst, aber hinterher über sich selbst lachen können. Dass sie Putin das noch immer vorhält, zeigt einen geradezu verblüffenden Mangel an Souveränität.

In einem Interview im Jahr 2022 hat sie übrigens zu der Hundegeschichte erklärt: "Eine tapfere Bundeskanzlerin muss mit so einem Hund fertigwerden. Wenn solche psychologischen Probleme dazu führen, dass man nicht mehr handlungsfähig ist, dann läuft da etwas falsch." Zumindest ein bisschen weniger infantil. Und es deutet vielleicht an, warum sie unbedingt Kanzlerin werden wollte, aber das sei den Fachleuten überlassen.

Mit einem passen diese Memoiren überhaupt nicht zusammen: mit ihrem (begründeten) Ruf als gerissene Intrigantin. Die Voraussetzung für Intrigen ist nämlich, Menschen, ihre Interessen, ihre Stärken und Schwächen sowie die Interessen jener, die hinter ihnen stehen, wahrnehmen und analysieren zu können. Merkel hat über Jahre hinweg äußerst zielstrebig ihre innerparteiliche Konkurrenz ausgeschaltet. Also entweder ist dieses Buch eine einzige Lüge, oder es war immer eine äußere Kraft, die die Karriere der Angela Merkel gestützt hat, weil sie selbst dafür zu hohl ist. Erkenntnisse jedenfalls erwartet man hier vergebens.

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