Geschichte zu ignorieren rächt sich – Polen und Ukraine erneut im Zwist

Bemühungen darum, weit zurückreichende polnisch-ukrainische Fehden zu begraben, waren seit Februar 2022 sehr gefragt. Im letzten Vierteljahrhundert zeigte sich Warschau dahingehend äußerst kulant. Der gemeinsame Feind Russland hatte stets Priorität. Aber manches lässt sich eben nicht begraben.

Von Elem Chintsky

Der polnische Außenminister Radosław Sikorski zeigte erneut sein Unverständnis über die Tatsache, dass Kiew nach wie vor nicht bereit ist, den Polen die Exhumierung der über Hunderttausend polnischen zivilen Opfer während des Zweiten Weltkriegs in der heutigen West- und Südwestukraine zu gestatten.

Die Argumentation Sikorskis bei seinem jüngsten Gespräch mit Polsat News lautete, dass Polen sich angesichts der intensiven Unterstützung für das Kiewer Regime in seinem kriegerischen Konflikt mit Russland längst eine Gegenleistung in dieser historischen Frage erarbeitet habe. 

Diese nicht aufgearbeitete historische Frage dreht sich konkreter vor allem um das Wolhynien-Massaker (1943–45) an der polnischen Zivilbevölkerung, begangen durch ukrainische Nationalisten und Nazikollaborateure der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und die ukrainische, bäuerliche Zivilbevölkerung vor Ort. Anders als die BRD hatte sich die Ukraine nach 1945 nie konsequent von dieser Vergangenheit politisch oder kulturell distanziert – eine Aufarbeitung blieb auch nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 aus. Betrachtet man aber die mutmaßliche und sture Geschichtsvergessenheit der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf den heutigen Ukraine-Konflikt und die Bereitschaft zur eigenen Kriegstüchtigkeit gegen Russland, stellt sich unmittelbar die Frage, ob eine "echte Aufarbeitung" in der Ukraine (nach dem weltbekannten Beispiel der BRD) überhaupt einen Unterschied gemacht hätte. 

Die ethnozentrisch-nationalistische Ideologie der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), welche sich 1940 in zwei Lager spaltete, war der zivilisatorische Motor für den blutrünstigen Massenmord an den Polen von damals und für den heutigen, seit 2014 kodifizierten, irrationalen Hass gegen alles Russische. Das eine OUN-Lager stand unter der Führung Andrei Melnyks, das andere oblag dem heute weitaus bekannteren Stepan Bandera. Diese Persönlichkeiten sind bis heute Volkshelden der Ukraine und haben besonders nach dem durch die USA und die NATO kuratierten Staatsputsch 2014 in der Ukraine offenen Heldenkult-Status erhalten.

Die Führungen in Warschau blickten auf diese durchaus beunruhigende Entwicklung stets mit stiefväterlichem Verständnis, da sie anscheinend hofften, dass die Ukrainer in ihrer fehlenden Sühnefähigkeit und historischen Selbstkritik ernüchtert würden, sobald das hohe Ziel, Russland zu vernichten, erfolgreich ad acta gelegt würde. Mittlerweile ist aber klar, dass dieses gemeinsame Ziel nicht erreicht werden kann.

Es gibt in der Ukraine zudem ein gesetzliches Verbot der Exhumierung der polnischen Opfer des Wolhynien-Massakers, und Kiew möchte es nicht aufheben. Das Gesetz geht noch zurück auf Präsident Pjotr Poroschenko – aus dem Jahr 2017. 

Im polnischen Polit-Establishment ist das Gedenken an die tragischen Ereignisse der Kriegsvergangenheit indes parteiübergreifend relevant. Die Polen argumentieren dahingehend mit der Praxis europäischer kultureller Werte, zu denen auch eine würdevolle Bestattung gehöre. So erläuterte Sikorski weiter:

"Wir glauben, dass die Exhumierung und die christliche Bestattung Teil des europäischen Kulturkodex sind."

Der frühere Verteidigungsminister und zweifache Außenminister Polens erinnerte auch an das nicht unwichtige Detail, dass Kiew durchaus die Exhumierung von Wehrmachtssoldaten auf seinem Gebiet erlaubt habe. Seltsam ist aber, dass Sikorski diesbezüglich behauptet, "die Ukraine tut dies bei ehemaligen Feinden", nicht aber bei Polen. Ob die Wehrmachtssoldaten, die im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine fielen, tatsächlich als "ehemalige Feinde" der heutigen Ukraine zu bezeichnen sind, ist ausgesprochen fraglich. Die heutige Geschichtsinterpretation im Westen versucht – politisch motiviert, natürlich – die ukrainischen Nationalisten der UPA rückwirkend zu rehabilitieren, indem man versucht zu behaupten, dass sie ihre nazistischen Gönner damals letztlich auch nur als "deutsche Besatzer" verstanden hätten, die ihnen ihre geplante Staatlichkeit absprachen.

Tatsächlich aber waren die in der heutigen Ukraine gefeierten OUN und UPA direkt dem Reichsinnenministerium und der Gestapo beziehungsweise der deutschen Wehrmacht unterstellt – und zwar im Kampf gegen die Polnische Heimatarmee (Armia Krajowa, AK), die sowjetisch gestützte Polnische Volksarmee (Armia Ludowa, AL), und auch gegen die sowjetische Rote Armee. Genau bei dieser vorsätzlichen – und für unaufmerksame Ohren, flüchtigen – Vermischung historischer Kategorien Sikorskis ist die Crux für das polnische Dilemma zu finden.

Es spricht Bände, dass die Polnische Republik sich bis heute in der Position versteht, sich die geschichtliche Wiedergutmachung seitens der Ukraine (zumindest erst einmal in Form der Gewährung des freien Zugangs zu den polnischen Opfern) in den letzten 25 Jahren "hart erarbeitet" zu haben. Stattdessen hätte man sich bereits 1991 eingestehen müssen, dass dies eine diplomatische Selbstverständlichkeit hätte darstellen sollen –  völkerrechtlich finalisiert zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Spätestens aber seit der prowestlichen Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahr 2004 – eine Dekade vor dem NATO-Putsch –, bei der Warschau ebenfalls eine entscheidende Rolle der Unterstützung gespielt hatte, hätte die polnische Elite ihre historischen Forderungen durchsetzungsfähiger und verbindlicher artikulieren müssen.

Um weiter zu illustrieren, dass dieses verzerrte polnische Selbstverständnis in der bilateralen Diplomatie mit Kiew herrscht, hat sich das polnische Verteidigungsministerium darangemacht, einen Bericht zu erstellen, um aufzuzeigen, wie beispiellos enorm die polnische Unterstützung der Ukraine seit Februar 2022 gewesen ist. Das Papier soll sowohl wirtschaftliche, finanzielle und militärische Hilfe als auch humanitäre Hilfe für Geflüchtete in Polen genauestens dokumentieren. Der polnische Chefdiplomat sei sich demnach sicher, dass daraus folgender Fakt hervorgehen werde: Sein Land leiste der Ukraine im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt die meiste Hilfe von allen verbündeten Nationen. Diesen Titel aber beansprucht derzeit auch die Bundesrepublik Deutschland – unter der Ampel-Regierung.

So erhoffen sich sowohl Sikorski als auch der Rest der polnischen Polit-Landschaft, die Gnade, Gunst, Dankbarkeit und die historische Demut Kiews für sich zu gewinnen und Zugang zu erhalten zu den Landsleuten, die vor 80 Jahren auf so grausame Art und Weise von ukrainischen Nazis vernichtet wurden. 

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es in diesem konkreten Fall primär gar nicht um eine holistische Versöhnung auf Basis einer Art kollektiv-diplomatischen Schuldeingeständnisses der Ukraine gegenüber Polen geht. Viel eher geht es gerade um eine juristisch-logistische Geste Kiews, um den polnischen Behörden den Zugang zu den eigenen Kriegsopfern zu gewähren. Selbstverständlich sind beide Aspekte potenziell verwandt und würden aufeinander bauen. Aber nicht einmal Letzteres ist Selenskij bereit den Polen zu gewähren. Und das hat besonders viel Gewicht im Hinblick auf die mittlerweile verzweifelte geopolitische Lage, in der das Kiewer Regime sich befindet – eigentlich ist es dem Zwang ausgesetzt, solchen und ähnlichen Bitten seitens seiner westlichen Gönner nachzukommen. Zum einen neigt sich des Wertewestens Unterstützung und Enthusiasmus für den Krieg gegen Russland dem Ende entgegen – zum anderen ist die Situation an allen relevanten Kriegsfronten derzeit nahezu aussichtslos.

Das widersprüchliche Verhängnis, in dem sich die Polen befinden, ist: Je mehr sie von Kiew verlangen, den Verbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg den nötigen pietätvollen und angemessenen Ausklang zu verleihen, desto mehr müsste Warschau die Rolle Moskaus beim Sieg über Hitlerdeutschland 1945 würdigen. Und nicht nur das, Polen wäre auch gezwungen, die geopolitischen Entwicklungen seit 1991 – und somit die NATO-Osterweiterungen Richtung Russland und das tief verwurzelte Bandera-Problem der Ukraine – neu, aufrichtiger und geradezu revisionistischer (relativ zum heutigen Status Quo) zu behandeln. Die von 1985 bis 1991 und bis heute andauernden Versicherungen aus Washington, es sich in einer unipolar-amerikanisch gewährleisteten Geschichtsvergessenheit bequem machen zu können, half den Polen einen extrem selektiven, ahistorisch-russophoben Staatsmythos für sich zu aufzubauen und zu bekräftigen. Dessen verheerende Konsequenzen beginnen sich für sie aber, angesichts des Ukraine-Konflikts, seit spätestens 2022 offen zu zeigen.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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