Ausrede Trinkwasserqualität: EU stellt Kiew unerfüllbare Beitrittsvorbedingung

Die Mitgliedschaft in der EU – dies war der formelle Anlass für den blutigen Maidan-Putsch 2013/14, der die Ukraine in den Bürgerkrieg stürzte. Doch trotz allen Ermunterungen, Kiew sei im Endspurt, sichert sich Brüssel dagegen ab, jemals einen Assoziierungsvertrag unterzeichnen zu müssen.

Von Sergei Sawtschuk

Je feuriger die Rufe aus Kiew nach der sofortigen Aufnahme in die Europäische Union, desto jesuitischer werden die Gegenmaßnahmen Brüssels: Die ukrainische Presse schreibt mit einer seltenen Mischung aus Empörung und Scham, dass die EU von den ukrainischen Behörden verlangt habe, die europäischen Standards für normales Trinkwasser auf gesetzlicher Ebene zu verankern.

Dies gab unter anderem die stellvertretende Gesundheitsministerin Marina Slobodnitschenko bekannt. Jedoch berichtete sie im gleichen Atemzug, dass, falls in der Ukraine Standards der Wasserversorgung eingeführt würden, die auch nur annähernd so streng sind wie die europäischen, das Leitungswasser, mit dem die Bevölkerung von Dnjepropetrowsk bis Uschgorod versorgt wird (oder sich auf eigene Faust versorgt), sofort als technisches Wasser neu klassifiziert werden müsste.

Es gibt wahrscheinlich keinen Menschen in Russland, der nicht Witze über den dornigen Weg der europäischen Integration der Ukraine gehört hat, die auf dem Maidan ihre Unabhängigkeit wortwörtlich für eine Tüte Kekse verkaufte. Viele Witze zu diesem Thema umspielen die regelmäßigen Aussagen der Brüsseler Redner und Westmedien, dass "die Türen offen stehen", "die Assoziierung näher denn je gerückt ist", "die Ukraine im Endspurt begriffen" sei und so weiter. Wirklicher Sinn und Bedeutung indes liegt nicht in diesem verbalen Müll, sondern in Anforderungen, die nirgendwo groß thematisiert werden – wie eben zum Beispiel in den aktuellen Standards und Normen für Trinkwasser.

Unbedarfte würden fragen: Na und? Eine gewöhnliche Erklärung der Europäischen Kommission, die den nächsten Punkt auf der Roadmap für die Integration der Ukraine in die geeinte Familie europäischer Staaten darstellt, weiter nichts. Doch die Feinheit besteht darin, dass solche "kleinen" Schritte, sobald sie vorgeschrieben sind, die Möglichkeit, dass die Ukraine jemals Teil der Eurozone wird, in Wirklichkeit jenseits des Horizonts der historischen Perspektive rücken.

Noch aus dem Schulunterricht wissen wir, dass der menschliche Körper, wenn wir den Durchschnitt verschiedener Organe nehmen, zu etwa 60 Prozent aus Wasser besteht. Wasser ist die Grundlage des Lebens – und seine Verfügbarkeit und Reinheit sind Indikatoren für die Entwicklung eines Landes und einer Wirtschaft. Und je reicher und fortschrittlicher ein Staat oder ein Staatenverband ist, desto strenger sind die Standards. Die Europäische Union stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar, auch wenn sie derzeit, aus dem Blickwinkel des jetzigen kurzen historischen Zeitraums, in ihrer Entwicklung etwas ausgebremst ist.

Universelle Standards für Trinkwasser wurden im Jahr 1993 von der Weltgesundheitsorganisation verabschiedet. Und auf ihrer Grundlage werden seitdem regionale Standards entwickelt. Hierbei aber ist anzumerken, dass sie in der EU erstens moderner und zweitens viel strenger sind.

Auf ihrer offiziellen Website informiert die Europäische Kommission, dass der wichtigste Regulierungsakt zu diesem Thema die sogenannte Trinkwasserrichtlinie (DWD) ist. Die letzten Ergänzungen zu ihrem Text erfolgten im September dieses Jahres, woraufhin er offenbar still und leise zur Kenntnisnahme nach Kiew geschickt wurde. Denn das Dokument sieht eine vollständige Umsetzung bis Ende 2026 vor.

Die Anforderungen der Richtlinie gelten für

Zitat eines schwerfälligen bürokratischen Textes Ende.

Wie oben erwähnt, sind die entsprechenden Anforderungen in der EU strenger als die der Weltgesundheitsorganisation. Als Nächstes sei eine Auswahl der Höchstwerte für einige Parameter angeführt. Links stehen jeweils die WHO-Schwellenwerte, rechts EU-Schwellenwerte:

Ammoniak: nicht reguliert/0,5 mg/l;

Eisen: nicht reguliert/0,2 mg/l;

Mangan: 0,5/0,05;

Cyanid: 0,07/0,05;

Sulfate: 500/250;

Nitrite und Nitrate: nicht reguliert/0,5 bzw. 0,05 mg/l.

Die WHO-Standards sehen keine Kontrolle des Vorhandenseins von Krankheitserregern vor (z. B. E. coli), Streptokokken der Gruppe D, Pseudomonas aeruginosa, Clostridien und Kolibakterien. Europa hingegen reguliert jeden dieser Indikatoren streng. Ähnlich verhält es sich mit dem Gehalt an Acrylamiden, Benzol, Chlordioxid, Dichlorethan, Epichlorhydrin, Tritium und Pestiziden im Wasser.

Basierend auf diesen Anforderungen lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass die Menschen in der Europäischen Union, sofern und wo die festgelegten Standards eingehalten werden, sehr sauberes Wasser nutzen, das nicht gesundheitsschädlich ist. Und genau hier liegt der Teufel im Detail – für die Ukraine tödlich.

Denn bereits im Jahr 2021 erblickte ein Bericht der Weltbank mit dem Titel "The State of the Water Supply and Sewerage Infrastructure in Ukraine" das Licht der Welt. Schwarz auf weiß steht da Folgendes: zum Beispiel, dass mehr als zehn Millionen Menschen in der Ukraine keinen Zugang zu Wasser in ausreichender Qualität haben. Mehr als 20 Millionen Bürger des Landes haben keinen Zugang zu Abwasser- und Wasseraufbereitungsdiensten. Und was den Zugang zu Leitungswasser sowie zu sanitären und hygienischen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten betrifft, ist die Situation in der Ukraine um ein Vielfaches schlimmer als in jedem anderen europäischen Land: Von den 13,5 Millionen Dorfbewohnern verfügen nur 4,3 Millionen über fließendes Wasser; die restlichen 66 Prozent beziehen ihr Wasser aus Brunnen und Bohrlöchern – ohne die geringste Kontrolle über die Qualität des geförderten Wassers.

Gleichzeitig erfahren wir aus dem für die Presse aufpolierten Bericht des ukrainischen Ministeriums für kommunale und territoriale Entwicklung, dass Ende 2020 für 30 Prozent der Bevölkerung die zentrale Wasserversorgung nicht verfügbar ist und Kanalisation sowie Abwasserbehandlung für jeden zweiten ukrainischen Bürger unzugänglich sind.

Weltbank-Spezialisten stellten auch einen extremen Abnutzungsstand der Infrastruktur fest. Alle Wasserversorgungs- und Abwassernetze hatte die Ukraine noch von der UdSSR geerbt – und zum Zeitpunkt der Prüfung waren 40 Prozent der Anlagen bereits in einem havarierten Zustand und konnten nicht zur Wasserversorgung genutzt werden. Weitere 35 Prozent erforderten dringende Reparaturen oder Modernisierungsarbeiten. Die penibel vorgehenden Banker berechneten außerdem hinsichtlich der Entwässerungs- und Abwasserrohre, dass es aufgrund des Verfalls und der Abnutzung der Rohrleitungen pro Jahr zu durchschnittlich dreizehn Verstopfungen und/oder Durchbrüchen pro Kilometer Rohrleitung kam.

Alles Obige zusammenfassend können wir mit vollem Recht feststellen, dass die Ukraine zum Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands über ein heruntergekommenes, ja buchstäblich mit einem Bein im Grab stehendes System für die Aufbereitung und Versorgung mit Wasser sowie für Entwässerung, Kanalisation und Abwasserbehandlung verfügte. Über die Qualität des durch ein solches System gepumpten Wassers musste natürlich nicht einmal gesprochen werden. Ukrainisches Leitungswasser entspricht nicht einmal dem sowjetischen staatlichen Standard GOST 2874-82, der im Jahr 1982 von der sowjetischen staatlichen Normungsorganisation Gosstandart verabschiedet wurde. Von den modernen strengen EU-Vorgaben kann da erst recht keine Rede sein.

Brüssel verfügt über viele detailliertere Informationen und kann nicht umhin zu verstehen, dass Kiew in Ermangelung jeglicher physischen Umsetzungsmöglichkeit nicht in der Lage ist, europäische Standards auch nur teilweise zu akzeptieren. Daher besteht der ernsthafte Verdacht, dass derlei Forderungen bewusst an die Ukraine gestellt werden – mit einem einzigen Ziel: Den Ukrainern soll endlich die Erkenntnis bei einem Säftchen beigebracht werden, dass der Beitritt zur EU nicht so bald erfolgen wird – und in der Zwischenzeit sollen sie sich in Geduld üben und noch ein wenig gegen Russland kämpfen.

Übersetzt aus dem RussischenDer Artikel ist zuerst am 6. November 2024 auf ria.ru erschienen.

Sergei Sawtschuk ist Kolumnist bei mehreren russischen Tageszeitungen mit Energiewirtschaft als einem Schwerpunkt.

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