Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Selbst ein heißer und duftender Milchkaffee am frühen Herbstmorgen ließ die Gedanken unseres Balkonisten heute nicht richtig wach und klar werden, drückte doch die Wetterprognose ein wenig aufs Gemüt. Wie die Wetterprognose waren auch die jüngsten ökonomischen Einschätzungen für dieses Jahr und die Folgeprognosen trübe und undurchsichtig – da half auch ein frühlingshafter Kanon aus Merzens Liedern nicht weiter. Dies eingedenk der Tatsache, dass es sicherlich keinen stürmend-trällernden Vormärz geben dürfte, weil jener "Sänger" zu sehr verstrickt in frühere Blackrock-Tätigkeiten zu sein scheint.
So wie der Blick in den Nebel der Morgendämmerung nur Silhouetten erkennen lässt, so stellt sich auch die Situation im Berliner Regierungsviertel vage und unklar dar. Lediglich ab und an erschrillt das versteckte Krähen eines lästernden Rabenvogels, doch die bekannte Nachtigall hört man noch nicht trapsen. Oder anders ausgedrückt: Was die zwielichtige Elster bereits gestohlen hat, gibt sie üblicherweise so rasch nicht mehr her. Oder hat doch der Kuckuck versehentlich ein faules gelbes Ei ins fremde Nest hoch auf dem Lindenbaum gelegt?
Sogar der schwarze Kater Murr III blickte heuer misanthropisch aus dem Fenster, konnte selbst er die Schemen der rufenden Vögel nicht erkennen, geschweige denn das Farbenspiel der entfernt gelegenen Verkehrsampel. An einem solch langweiligen Morgen ist die einzige bewegende Nachricht jene Frage nach dem Inhalt geheimnisvoller Besprechungen im nebulösen Kanzleramt, weshalb unser Balkonist halbstündlich die neuesten, doch immer gleichen Radiomeldungen lauschte.
Hier ging es vielmehr um laufende Koalitionsverhandlungen in drei Bundesländern und eine erneut nach Kiew hüpfende Außenministerin. Die nebelgleiche Ruhe in Berlin erschien ihm doch zu suspekt; und eine Lehre aus der Geschichte ist, dass oft mehrere bedeutende Ereignisse unerwartet zusammenfallen: so die Präsidentenwahl in den US und die bundesdeutsche Regierungskrise.
Schaut man zurück in die Historie der chamäleonhaften FDP, so erkennt man, dass ein leichter Wechsel des Farbtons von Gelb zu Orange-Rot oder Schwarzgelb oftmals das Überleben dieser Hürdenpartei gesichert hatte. So in der sozialliberalen Färbung Ende der 60er Jahre unter Gustav Heinemann, hingegen in den frühen Achtzigern unter Hans-Dietrich Genscher zur "dunkelgelben Koalition", also zur von Helmut Kohl ausgerufenen (und doch nicht in die Tat umgesetzten) "Wende".
Gescheitert nach einem kometenhaften Aufstieg auf fast 15 Prozent der Wählerstimmen im Jahre 2009, war das zwanghafte Festhalten an der lähmenden Koalition mit der "ewigen Kanzlerin", als sich selbst ein erfahrener Politiker wie Guido Westerwelle (der als Außenminister trotz anfänglicher Bedenken beinahe zu brillieren schien) mitsamt seiner Partei bis zur Bedeutungslosigkeit aussaugen ließ.
Spekuliert der derzeitige FDP-Parteichef Christian Lindner nun auf das vergebliche Motto "Totgesagte leben länger" à la 2013, oder lässt er sich nicht besser auf die Messlatte der Geschichte aus den letzten 50 Jahren ein?
Stimmen, Stimmungen und Forderungen in die eine wie in die andere Richtung gibt es genug: einerseits ein schwachbrüstiges "Weiter so!" von den übrigen Koalitionären; hingegen einige lauter werdende Kuckucksrufe aus der eigenen Partei (oder sind dies "Nestbeschmutzer"); Willkommensgrüße von der Opposition, dazu ein lautes Nachtigallentrapsen aus Bayern. Wird er also am Stuhl klebend weiter lavieren, oder eine Wechselentscheidung einleiten?
Immerhin erscheint die derzeitige Berliner Ampel unserem Balkonisten derart aufgezehrt und lichtschwach wie keine andere Regierungskoalition der letzten 50 Jahre: völlig eingemauert und gefangen in der Sackgasse selbst gesetzter illusionärer Phantastereien. Könnte gar der übermächtige Westerwelle'sche außenpolitische Schatten den flatterhaften Schmetterling einer um 360-Grad- und diverse Kobolde gewendeten vormaligen Trampolinturnerin auf dem Rückweg aus Kiew einholen?
Auch aus anderen Gründen täte eine echte "Wende" Not, wenngleich man besser keine Scholz-Pistorius'sche "Zeitenwende" anstreben sollte! Schade nur, dass die sich nun anbiedernde schwarze Oppositionspartei selbst weniger friedfertigen Charakter zu haben scheint als des Balkonisten Kater und sich daher zunehmend in Kriegsgetrommel ergießt.
Noch während dieser Gedankengänge ergoss sich etwas anderes überraschend auf den Küchenboden, nachdem sich Kater Murr III stillschweigend fortgeschlichen hatte: nämlich dessen halbverdauter Mageninhalt. Eine dezidierte Untersuchung durch Michaels schimpfende Ehefrau förderte neben den üblichen Katzenhaaren gar erstaunliche Nahrungsbestandteile zu Tage: die gelben Reste einer Bananenschale!
Des Balkonisten phantastische Schlussfolgerung: Omen est nominatio?
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