Völkerrecht? Das Auswärtige Amt und die Verfolgung Unschuldiger

Eine abweichende Aussage zum russischen Militäreinsatz in der Ukraine führt in Deutschland vielfach zu Strafverfahren. Von wegen völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Und plötzlich äußert das Auswärtige Amt eine ganz andere Rechtsauffassung ‒ weil es um Israel geht...

Von Dagmar Henn

Manchmal gibt es doch kleine Präsente, selbst von der Pressebank des Auswärtigen Amtes (AA). Vermutlich hat man sich mit den übrigen Ministerien nicht so recht abgesprochen, ehe man diese Aussage tätigte.

In der Frage auf der Bundespressekonferenz, die vom Vertreter der NachDenkSeiten, Florian Warweg, gestellt wurde, ging es darum, ob das Auswärtige Amt die Einschätzung teilt, dass Israel im Libanon völkerrechtswidrig handelt und Kriegsverbrechen begeht. Und die Kernaussage der Antwort der Sprecherin Kathrin Deschauer lautet:

"Zur Frage von Völkerrechtsverletzungen: Wie Sie wissen, ist es nicht an uns, darüber letztendlich zu befinden, sondern die Bewertung dieser Fragestellungen wird üblicherweise von unabhängigen Gerichten auf Basis von Untersuchungen vorgenommen."

Natürlich wundert es nicht, dass sich das AA wieder einmal mit breiter Brust vor Israels Handlungen wirft, egal wie illegal sie sein mögen. Nur, wenn man diese Bemerkung liest, stellt man sich gleich eine andere Frage: Wenn eine Völkerrechtsverletzung von "unabhängigen Gerichten auf Basis von Untersuchungen" festgestellt werden muss, wie rechtfertigt das Auswärtige Amt dann die Position, die es bezüglich der russischen Militäroperation in der Ukraine eingenommen hat? Nebenbei bemerkt, gleich am ersten Tag, und ohne die mindesten Zweifel, ganz davon zu schweigen, auf irgendwelche Feststellungen von irgendwelchen Gerichten zu warten (was Deschauer, die schon seit 2011 für das Auswärtige Amt tätig ist, wissen müsste).

Die es bis heute nicht gibt. Die Rechtslage ist ja auch nicht ganz so einfach. Da ist immerhin das zweite Minsker Abkommen, das damals, 2015, vom UN-Sicherheitsrat angenommen und damit zu gültigem internationalen Recht wurde, das also auf jeden Fall in eine Bewertung mit einbezogen werden muss.

Der Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof, den die Ukraine 2022 angestrengt hat, ging bisher nicht so aus, wie Kiew sich das vorstellte: Die Klage hatte zwei Teile. Im ersten sollte festgestellt werden, dass die Ukraine in Donezk und Lugansk keinen Verstoß gegen die Genozid-Konvention begangen hätte, und im zweiten sollte Russland selbst verurteilt werden, weil es durch den Militäreinsatz gegen die Konvention verstoßen habe. Behandelt wird nun der erste Teil, aber nicht der zweite. Und eben dieser erste Teil könnte auch ins Auge gehen, denn es gibt genug Vorfälle und Aussagen, die derartige Absichten belegen.

Da wurde es also nichts mit dem Gericht. Das andere Verfahren, das vor dem Internationalen Strafgerichtshof, ist eigenartig genug, weil selbst das Urteil der Auffassung folgt, man solle elternlose Kinder in einer Kriegszone belassen, weil alles andere eine Deportation sei. Aber wie auch immer man dieses Urteil liest, es liefert dennoch nicht die Bewertung, die das Auswärtige Amt vor wenigen Tagen zur Voraussetzung gemacht hat, um Handlungen als völkerrechtswidrig zu beurteilen.

Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass es in Bezug auf Russland und die Ukraine eben eine solche Feststellung nicht gibt. Auch nicht in Gestalt einer Resolution des UN-Sicherheitsrats, während der kontinuierliche Beschuss des Donbass durch die Ukraine von 2015 bis 2022 als Verstoß gegen die Minsker Vereinbarungen doch eine recht eindeutige Qualität hatte.

Was eigentlich kein Problem wäre, soll das deutsche Außenministerium doch zu seiner Weltsicht kommen, wie es lustig ist, international hat es ohnehin keine Relevanz mehr. Wenn es da nicht diese Verfahren gäbe.

Niemand weiß, wie viele das inzwischen sind, und sie haben vielfache Gestalt. Manchmal reicht schon die Verwendung des Buchstabens "Z". Oder selbst eine Andeutung, die Ukraine und der Westen wären an der Entwicklung, die zum russischen Eingreifen 2022 führte, nicht unschuldig. Es wurden ganz neue rechtliche Konstrukte erfunden, die nie zuvor angewandt wurden, schon gar nicht in Bezug auf politische Aussagen ‒ niemand, wirklich niemand kannte eine praktische Anwendung des § 140 StGB, Belohnung und Billigung von Straftaten. Plötzlich wurde dieser Paragraf zum Mittel, um jede Russland gegenüber freundlichere Meinung zu unterdrücken.

Der Kern des Ganzen (und es zeigt den miserablen Zustand der deutschen Justiz, dass eben dieser Punkt bisher unangefochten blieb) ist aber, ob da überhaupt eine Straftat ist. Die Straftat, die da sein soll, ist, wie die malerische Floskel lautet, der "brutale, völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg". Was die Regierung so sagt. Auch Außenministerin Annalena Baerbock, gerne und häufig. Und selbstverständlich agieren die deutschen Staatsanwaltschaften ‒ die, wie wir alle wissen, von der Politik entsprechend angewiesen werden können ‒ eifrigst auf Grundlage eben dieser ‒ Behauptung.

Denn, wie wir seit der jüngsten Äußerung aus dem Auswärtigen Amt wissen: "Die Bewertung dieser Fragestellungen wird üblicherweise von unabhängigen Gerichten auf Basis von Untersuchungen vorgenommen."

Und dann gibt es auch noch den § 130 StGB, der gewissermaßen maßgeschneidert wurde: Billigung, Leugnung und Verharmlosung von Völkermord oder Kriegsverbrechen. Der inzwischen selbst dann zur Anwendung gebracht wird, wenn jemand erklärt, diese Geschichte damals in Butscha sei ein wenig undurchsichtig. Wozu es ebenfalls bis heute keinerlei internationale Untersuchung gibt. Es gibt nicht einmal eine Namensliste der Opfer, anhand derer sich feststellen ließe, woher sie kamen, und ob sie tatsächlich in Butscha ums Leben kamen. Eigentlich das Minimum, wenn man ernsthafte Vorwürfe erheben will. Egal. Auch hier zählt die Behauptung für die Tatsache.

Hat das Auswärtige Amt diese Aussage also wirklich so gemeint, wie sie da steht? Mit welcher Rechtfertigung haben seine Vertreter dann selbst ständig behauptet, Russland führe einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, ohne dafür einen gerichtlichen Beschluss auf Grundlage festgestellter Tatsachen vorzulegen? Kann man davon ausgehen, dass derartige Aussagen in Ermangelung einer Rechtsgrundlage künftig unterbleiben?

Natürlich ist das noch viel lustiger ‒ schließlich hat der Internationale Gerichtshof im Zusammenhang mit dem israelischen Krieg gegen Gaza bereits festgestellt, dass die Gefahr eines Genozids besteht, und reihenweise Anordnungen erlassen, an die sich Israel ebenso reihenweise nicht gehalten hat. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es letzten Endes zu einer Verurteilung kommen wird. Aber interessanterweise ist hier die deutsche Justiz eher daran interessiert, die Verwendung des Begriffs Genozid in Verbindung mit Israel zu ahnden ‒ welch ein Glück, dass der IGH in Den Haag sitzt und damit ihrem Zugriff entzogen ist.

Ja, es wäre jetzt wirklich interessant, wie das Justizministerium zum oben zitierten Satz des Auswärtigen Amtes steht, und, falls diese Meinung geteilt wird, wie dann all diese Strafverfahren zu rechtfertigen sind.

Das absolute Minimum nach dieser Aussage durch die Sprecherin des AA wäre jedenfalls, vorzulegen, wo und wann denn bitte ein derartiges Verfahren Russland betreffend stattgefunden hat, auf "Basis von Untersuchungen", unter Einbeziehung aller Fakten und, wie es sich gehört, mit einer angemessenen Möglichkeit der Verteidigung. Andernfalls kann man nämlich in Bezug auf all die Verfahren, die die deutschen Bürger mithilfe der Paragrafen 130 und 140 Strafgesetzbuch ihrer Meinungsfreiheit beraubten, nur feststellen, dass es sich dabei um Rechtsbeugung handelte. Dafür gibt es auch einen Paragrafen. Nein, genaugenommen gibt es zwei. Sie finden sich im letzten Abschnitt des Strafgesetzbuches, Straftaten im Amt. Halt, wenn man die Weisungsbefugnis der Politik gegenüber der Staatsanwaltschaft mit einbezieht, sind es sogar drei.

Der erste ist § 339, Rechtsbeugung. Der beträfe vor allem die Richter. Der Zweite ist der § 344, Verfolgung Unschuldiger. Da ist übrigens selbst der Versuch strafbar. Und dann gibt es noch den § 357, Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat. Nur, damit die versammelten deutschen Justizminister gut schlafen können, hier einmal der vollständige Text:

"(1) Ein Vorgesetzter, welcher seine Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt verleitet oder zu verleiten unternimmt oder eine solche rechtswidrige Tat seiner Untergebenen geschehen läßt, hat die für diese rechtswidrige Tat angedrohte Strafe verwirkt.

(2) Dieselbe Bestimmung findet auf einen Amtsträger Anwendung, welchem eine Aufsicht oder Kontrolle über die Dienstgeschäfte eines anderen Amtsträgers übertragen ist, sofern die von diesem letzteren Amtsträger begangene rechtswidrige Tat die zur Aufsicht oder Kontrolle gehörenden Geschäfte betrifft."

Wenn nämlich die vom Auswärtigen Amt vorgetragene Rechtsauffassung so allgemein ist, wie von diesem behauptet (was der Satzteil "wie Sie wissen" und das Wort "üblicherweise" implizieren), dann wäre eine Anweisung eines Justizministers, jemanden wegen Äußerungen zu Russlands Handlungen in der Ukraine zu belangen, eine Aufforderung zur Verfolgung Unschuldiger, und damit eine Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat. Und das nicht einmal, sondern dutzend- oder hundertfach.

So zumindest müsste das sein, wäre diese Aussage des Auswärtigen Amtes ernst gemeint und fühlten sich die staatlichen Organe in Deutschland noch an Recht und Gesetz gebunden. Aber natürlich wissen alle, dass diese Bemerkung nur dazu dient, die eigene Beteiligung an einem Genozid zu decken, und dass das Völkerrecht im Grunde ebenso egal ist wie das Strafgesetzbuch oder die Grundrechte.

Wobei, wer weiß, eines schönen Tages könnten sich all diese Paragrafen doch noch unangenehm bemerkbar machen, auch wenn sie heute noch ein ebenso unscheinbares Dasein führen, wie es einmal beim § 140, der "Billigung von Straftaten", der Fall war.

Mehr zum Thema ‒ § 140 StGB oder: Wie die deutsche Justiz zum Repressionsapparat verkommen konnte