Von Dagmar Henn
Vielleicht habe ich ja mittlerweile einen Knick in der Pupille, weil man in vielen geopolitischen Zusammenhängen eine Aussage nur selten einfach als eine Aussage nehmen darf, da sie auch vielfach Nebenbedeutungen haben kann. So, wie auch Handlungen nicht notwendigerweise das sind, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.
Nur ein Beispiel dafür: Das Video, das den Hamas-Chef Yahya Sinwar zeigt, wie er noch in seinen letzten Augenblicken eine Drohne mit einem Stock abwehrt, wurde aus der israelischen Armee veröffentlicht. Politisch ist schnell zu erkennen, dass das der israelischen Regierung eher schadet als nützt, weil diese Aufnahmen, die einen ungebrochenen Willen zeigen, einen Mythos schaffen werden ‒ oder bereits geschaffen haben.
Aber warum wurden diese Aufnahmen veröffentlicht? Im ersten Moment denkt man nur das Naheliegende: maßlose, dumme Überheblichkeit, die blind dafür macht, wie eine Information von den eigenen Gegnern gelesen wird. Das ist eine Annahme, die sich nicht nur bei den Israelis, sondern fast im gesamten Westen mühelos durch das Verhalten belegen lässt. Und trotzdem kann diese Annahme in die Irre führen. Denn wenn man davon ausgeht, dass es auch in der israelischen Armee Menschen gibt, die über den Genozid entsetzt sind, könnte es auch sein, dass die Veröffentlichung dieses Videos kein Akt der Prahlerei, sondern ein Akt des Widerstands war, wohl wissend um die Wirkung, die es entfalten würde.
Da gibt es einen Artikel in der Morgenpost, der am Montag erschien. Er befasst sich mit einem damals nicht berichteten historischen Ereignis und erweckte bei mir den Eindruck, zwei Ebenen zu besitzen. Oder, um es auf vertrautere Weise zu formulieren, für mich schien er einen Subtext zu besitzen, der mich staunen machte.
Ergibt das einen Sinn? Die Hamburger Morgenpost, ursprünglich ein SPD-Blatt, wanderte ab 1980 von Hand zu Hand, über Gruner + Jahr bis zu DuMont, und gehört seit 2020 Arist von Harpe, der zuvor "Digitalmanager" gewesen war. Der wiederum kommt, so die bei schneller Suche auffindbaren Daten zutreffen, aus einer deutschbaltischen Familie, in deren Geschichte sich auch einige russische Generäle finden. Das besagt nicht viel.
Der Autor des Artikels, Olaf Wunder, stammt aus Remscheid und hat im Jahr 2000 den Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhalten, hat aber auch einen Preis des DGB Hamburg bekommen. Das Einzige, was eventuell das stützen könnte, was sein Artikel bei mir auslöst, ist lange her. Als Schüler bekam er einen Preis im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten für einen Text über die "Unterdrückung des proletarischen Widerstands im KZ Kemna".
Aber gehen wir endlich zur Hauptmahlzeit über. Das Thema des Artikels ist ein Anschlag.
"Der 13. Oktober 1969. Um 6.32 Uhr zerreißt auf der Werft Blohm + Voss eine gewaltige Explosion die Stille. Trümmer fliegen 150 Meter weit. Eine Schute sinkt sofort. Die im Bau befindliche Korvette 'João Coutinho', die gleich daneben liegt und der der Anschlag galt, wird schwer beschädigt, geht jedoch nicht, wie geplant, unter."
Wunder spricht mit den beiden Männern, die damals diesen Anschlag begangen haben. Sie sind inzwischen 80 und 73, und waren damals in der Studentenbewegung. Die Korvette wurde für Portugal gebaut, in dem damals der Diktator António Salazar herrschte, der gerade in den portugiesischen Kolonien in Afrika blutige Kriege führte.
"Das war wie ein zweites Vietnam. Bilder von furchtbaren Massakern kursierten: Auf einem hielten portugiesische Soldaten in jeder Hand den abgeschlagenen Schädel eines ermordeten Freiheitskämpfers in die Höhe – wie eine Trophäe."
Die Geschichte beleuchtet einen vergessenen Aspekt dieser Studentenbewegung, der sich übrigens nicht auf diesen Anschlag auf dieses Schiff beschränkte. Es gab beispielsweise auch ein ganzes Unterstützungsnetzwerk, das US-Soldaten, die desertieren wollten, um nicht in Vietnam zu kämpfen, aus Deutschland ins Ausland brachte ‒ damals herrschte Wehrpflicht in den USA, und die übliche Route für den Einsatz in Vietnam führte über Deutschland. Teile der bundesdeutschen politischen Geschichte, die eher unbekannt sind.
Spätestens die Formulierung "Bilder von furchtbaren Massakern" startete bei mir im Hintergrund die Einblendungen aus der Gegenwart, die aktuellen Bilder aus Gaza. Dann wird erwähnt, die Bundesrepublik habe damals ein Waffenembargo der Vereinten Nationen missachtet "und die portugiesische Militärjunta mit Kriegsmaterial" beliefert.
"Als dann ein niederländisches Fernsehteam auch noch aufdeckte, dass sich bei 'Blohm + Voss' in Hamburg drei 80 Meter lange und 10 Meter breite Korvetten im Bau befanden, die künftig das Rückgrat der portugiesischen Flotte bilden sollten und unmittelbar für den Kolonialkrieg bestimmt waren, da setzte sich die Erkenntnis durch, dass was geschehen musste."
Muss nur ich beim Lesen dieser Zeilen an die israelischen U-Boote denken, die gerade in Deutschland gebaut werden? Nicht in Hamburg bei Blohm + Voss, sondern in Kiel bei Thyssenkrupp, aber da war sie, die zweite Ebene, und nicht mehr auszublenden. Spätestens hier begann ich, jeden Satz doppelt zu lesen, als Tatsache in der Variante der Vergangenheit, und als Möglichkeit in der Variante der Gegenwart.
Wobei ‒ das ist ein interessantes Detail, das Wunder liefert ‒ sich auch Lehrlinge der Hamburger Werften mit dieser Lieferung befassten und ihre Kollegen mit einem Flugblatt der angolanischen Befreiungsbewegung MPLA versorgten. Wenn man genau hinsieht, also nachrechnet, welches Alter der jüngere der beiden Helden (und dieses Wort gebrauche ich hier ohne jede Ironie) zum Zeitpunkt des Anschlags hatte, kommt man auf ganze 18 Jahre. Was es denkbar macht, dass das einer dieser Lehrlinge war, denn Studenten sind in der Regel älter, und damit auch die Person, die die Informationen über Zugangsmöglichkeiten zur Werft besaß.
Die beiden bekamen dann über die Niederlande Kontakt zu zwei Portugiesen, die ihnen den Sprengstoff beschafften. Die zwei Männer, Camilo Mortágua und Hermínio da Palma Inácio, waren berühmte Gestalten des portugiesischen Widerstands. Unter anderem hatten sie am 10. November 1961 ein Flugzeug der portugiesischen Fluglinie TAP entführt, damit es auf niedriger Höhe Lissabon, Setúbal, Barreiro, Beja und Faro überflog und sie dabei mehr als hunderttausend Flugblätter abwerfen konnten. Ein Beispiel dafür, wie fassbar selbst in Europa damals noch war, dass des einen Terrorist des anderen Held sein kann. Beide Männer wurden, nachdem die Diktatur 1974 durch die Nelkenrevolution gestürzt worden war, vom portugiesischen Präsidenten Jorge Sampaio 2000 respektive 2005 mit dem Orden der Freiheit ausgezeichnet.
Die Korvette ging nicht unter, sondern wurde nur beschädigt und acht Monate später ausgeliefert, als geplant. Die deutschen Zeitungen berichteten nicht darüber, und selbst der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) machte die Aktion nicht publik. Es ist also eine alte und dennoch eine neue Geschichte.
Der Artikel von Wunder erzählt das viel spannender, man sollte ihn durchaus lesen. Der Verfasser liefert auch einen ganz unschuldigen Grund für seinen Text ‒ verbliebene Veteranen des Hamburger SDS haben eine Webseite eingerichtet, auf der sie von damals erzählen. Vermutlich ist die Geschichte der beiden Männer eine der interessantesten (Wunder ist ein Jahr jünger als ich ‒ die SDS-Leute waren die Helden unserer Jugend). Und dennoch ‒ die Parallelen zwischen damals und heute sind stark. Wunder ist kein Anfänger, er müsste wissen, wie man Botschaften in den Subtext einbaut. Aber kann es wirklich sein, dass ein Autor der Hamburger Morgenpost mit einer Erzählung über die Sprengung eines portugiesischen Schiffes vor 55 Jahren auf diese israelischen U-Boote verweisen will? Das bleibt ein Rätsel.
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