Von Wladislaw Sankin
So hatte sich Moldawiens Staatschefin Maia Sandu ihren Presse-Auftritt nach Schließung der Wahllokale nicht vorgestellt. Seit der ersten Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse der Präsidentenwahl und des Referendums über den Beitritt zur EU war klar: Das Drehbuch kippt, ihr droht eine krachende Niederlage, denn nach Auswertung von 91 Prozent der Stimmzettel sprachen sich 53,5 Prozent der Moldawier gegen Änderungen an der Verfassung des Landes für den EU-Beitritt aus. Sandu hatte ihr politisches Schicksal mit diesem Referendum verbunden und die Lage wurde plötzlich brenzlich für sie. Von da an musste sie improvisieren.
In der Hoffnung, dass im Zuge der Auszählung noch ein Wunder geschieht und die Situation sich doch zugunsten der proeuropäischen Kräfte verändert, hatte sie den Termin für ihren ersten Gang vor die Mikrofone viermal aufgeschoben. Dann um zwei Uhr nachts erschien Sandu endlich mit einem Statement, das nur 90 Sekunden dauerte. Statt einer im Voraus vorbereiteten Siegesmeldung im Duktus einer Meldung des deutschen Auswärtigen Amtes, die bereits vor den Wahlen das Ergebnis vorwegnahm und verkündete, die Zukunft Moldawiens liege nicht im "russischen Würgegriff", sondern "im Herzen Europas", musste Sandu nun "eine beispiellose Attacke demokratiefeindlicher Kräfte auf die Präsidentenwahl" beklagen.
Es gebe demnach ihr vorliegende Beweise, "dass 300.000 Stimmen gekauft worden sind", sagte Sandu ohne weitere Details zu nennen. Sie blieb pauschal. Laut ihren Darlegungen hätten "kriminelle Gruppen gemeinsam mit einer ausländischen Macht versucht, die Lage in Moldau zu destabilisieren." Dabei seien laut der aktuell Erstplatzierten "dutzende Millionen Euro ausgegeben worden, um Lügen und Propaganda zu verbreiten." Das Böse wurde nicht beim Namen genannt, aber allen war klar: Hinter der angeblichen Wahlmanipulation kann ja nur Russland stecken.
Dass den Hunderttausenden Moldawiern in Russland das Stimmrecht einfach verweigert wurde, verschwieg sie und machte diese Menschen damit zu Bürgern zweiter Klasse, die über die Zukunft ihres Landes nicht entscheiden durften. Zuvor waren reihenweise Oppositionsparteien verboten und kritische Medien gesperrt worden – so sehen "Demokratie und Freiheit" in einer künftigen EU-Kolonie aus. Die Stimmenauszählung über Nacht bewirkte schließlich "Wunder". Mit jedem weiteren Prozent der ausgezählten Stimmen wurde die Differenz zwischen "Ja" und "Nein" zum EU-Beitritt immer kleiner – bis sie bei 98 Prozent der ausgezählten Stimmen ausgeglichen wurde.
Gezählt wurden nun noch die Ergebnisse aus Westeuropa und den USA, und die Stimmen per Briefwahl. Und ebendiese Stimmen brachten am Ende die "Mehrheit" von 50,46 Prozent für einen EU-Beitritt.
Dieses Ergebnis ermutigte Sandu zu einem zweiten Gang vors Mikrofon, der allerdings erst um 14 Uhr stattfand. Sie sagte: "Die Stimmen der Bürger im Ausland haben es nicht zugelassen, dass Moldawiens europäische Wahl gestohlen wird." Und sie fügte eine politische Weisheit hinzu, die das Zeug hat, als ihr politisches "Erbe" in die Geschichte einzugehen. Sie sagte, dass Prozente keine Rolle spielten, wenn die Mehrheit erzielt worden sei. Damit war der Ausgang des Referendums durch die Stimmabgabe im Ausland mit wenigen hundert Ja-Stimmen mehr entschieden. In Russland beispielsweise war die Zahl der Wahllokale auf zwei und gerade einmal 10.000 Stimmzettel begrenzt, sodass die meisten der dort ansässigen 300.000 moldawischen Bürger nicht wählen konnten. Demgegenüber wurden in vielen westlichen Ländern die Menschen zu den mehr als 200 Wahllokalen teilweise mit Bussen herangekarrt. Die nicht abgegebenen Stimmen der Moldawier in Russland machten den "Sieg" der Pro-Europäer aus statistischer Sicht erst möglich.
Innerhalb des Landes stimmten nur Chișinău und sechs Regionen für die europäische Integration, während 26 Regionen sich dagegen aussprachen. Im Ergebnis waren 53 Prozent der inländischen Einwohner gegen die EU-Integration, und 47 Prozent dafür. Und das trotz milliardenschwerer "Geschenke" von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und allgegenwärtiger EU-Propaganda in Medien und Straßenbild – sogar Regierungsgebäude sind in der moldawischen Hauptstadt mit einem riesigen EU-Banner geschmückt, ganz so, als ob das Land längst EU-Mitglied wäre.
Damit das klar ist: In einem Land, das von der Europäischen Union kontrolliert wird, kann es kein Abstimmungsergebnis geben, das für den Westen unerwünscht wäre – wenn das Ergebnis gegen die europäische Integration ausfiele, würde man das Referendum einfach für manipuliert erklären und nicht anerkennen. Und Sandu hat den Boden dafür bereitet, indem sie in der ersten Nacht nach der Wahl einen "beispiellosen Angriff von Lügen und Propaganda" auf die Republik Moldau und die Absicht einiger krimineller Gruppen ankündigte, 300.000 Stimmen zu kaufen – natürlich die gegen den EU-Kurs. Diese Geschichte wäre im Falle einer Niederlage dann so lange weitergesponnen worden, bis die Ergebnisse des Referendums annulliert worden wären.
Sandu und die Regierungspartei PAS werden versuchen, im Parlament die Verfassungsänderung auch mit dieser mickrigen und durch Manipulation gewonnenen "Mehrheit" durchzuführen. Ob das gelingt oder nicht, ist ungewiss, denn dass Sandu in der Stichwahl am 3. November auch noch die Präsidentschaftswahl gewinnt, ist nicht mehr sicher. Die Opposition fühlt sich nach dem Wahlausgang am Sonntag gestärkt. Der Wahlgegner von Sandu, der Kandidat der Sozialistischen Partei und frühere Generalstaatsanwalt Alexandru Stoianoglo, hat mit 26 Prozent ein überraschend gutes Ergebnis erzielt. Er ist parteilos und hat kein Anti-Rating wie Sandu. Er ist kein Politiker, sondern Fachmann, aus seinem Amt war er von Sandu per juristisch umstrittenes Verfahren entfernt worden. Der 57-jährige Kandidat hat bei dem EU-Referendum demonstrativ keine Stimme abgegeben und plädiert für einen neutralen politischen Kurs. Statt eines klaren Mandats für ihren weiteren proeuropäischen Kurs erhielt Maia Sandu ein weiteres Signal für ihre Schwäche und die Spaltung im Land.
In einem breiteren geopolitischen Kontext zeigt das Ergebnis der gestrigen Abstimmung in Moldawien, dass die Idee der EU-Integration, die früher als großer Gewinn und Glücksfall empfunden wurde, für die Gesellschaften und Eliten in den postsowjetischen und osteuropäischen Ländern stark an Attraktivität verloren hat. Moldawien ist nur ein Beispiel dafür. Auch im Falle Georgiens üben die Behörden und die Regierung inzwischen offen Kritik an EU und USA, und riskieren damit den endgültigen Verlust des EU-Kandidatenstatus. Die Parlamentswahlen in Georgien am kommenden Sonntag könnten ebenfalls sehr aufschlussreiche Ergebnisse liefern, die diesen Trend bestätigen.
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