Von Martin Eulenburg
Nicht erst seit Februar 2022 und dem Beginn der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine sind die USA und ihre westlichen "Verbündeten" bestrebt, die Russische Föderation nicht nur außenpolitisch, sondern auch wirtschaftlich vom internationalen Verkehr abzuschneiden. Sanktionen, womit im alltäglichen Sprachgebrauch meist wirtschaftliche Strafmaßnahmen gemeint sind, haben gegen Russland eine lange Vorgeschichte. Die jüngste Welle von solchen westlichen Maßnahmen gegen Moskau setzte nach vollzogenem Regimewechsel in der Ukraine im Frühjahr 2014 ein und hat sich zu einer Reihe von "Sanktionspaketen" entwickelt, die besonders die Europäische Union mit großem Eifer alle paar Monate gegen Moskau zusammenschnürt. Daraus ist ein ausgewachsener Wirtschaftskrieg gegen Russland geworden, den die EU als wirtschaftliches Anhängsel der NATO umso verbissener führt, je selbstzerstörerischer sich die von ihr verhängten russophoben Strafen erweisen. (Die von Berlin und den anderen europäischen Hauptstädten widerspruchslos hingenommene Sprengung der Nord-Stream-Pipelines durch die USA, wie sie von Seymour Hersh beschrieben wurde, ist bislang der ebenso absurde wie in seiner verlogenen US-hörigen Unterwürfigkeit abstoßende vorläufige Höhepunkt des europäischen antirussischen Bestrafungswahns.)
Wer regelmäßig die Wirtschaftsnachrichten verfolgt, dürfte spätestens im Laufe des vergangenen Jahres Zweifel an der Sinnhaftigkeit der westlichen Strafmaßnahmen gegen Russland bekommen haben. Die auf US-Druck seit 2014 von der EU beschlossenen antirussischen Sanktionen haben der europäischen Wirtschaft letztlich wesentlich mehr geschadet als der russischen. Ja, man kann sogar sagen, dass trotz aller anfänglichen und teilweise noch bestehenden Schwierigkeiten die Volkswirtschaft Russlands sich dank der westlichen Boykott- und Embargomaßnahmen von Abhängigkeiten befreien konnte, die bislang gegenüber dem Westen bestanden – oder zunehmend erfolgreich dabei ist, dies zu tun. Jedenfalls ist das westliche Kalkül, mit dem die Sanktionen gegen Moskau begründet und öffentlichkeitswirksam vollmundig und moralisierend verkündet wurden, alles andere als aufgegangen. Russland steht, trotz mancher Probleme, allein ökonomisch betrachtet im Jahr 2024 besser da als 2022 oder sogar 2014.
Weder ist die außenpolitische Isolierung des von der Fläche her größten Landes der Erde gelungen, noch konnten die USA und die von ihnen abhängigen Länder – die sich selbst gerne als die "internationale Gemeinschaft" bezeichnen, obwohl sie nur ein Viertel der rund 200 Staaten ausmachen – Russland ökonomisch von seinen Partnern abschneiden. Trotzdem ändern die westlichen Staaten ihren Kurs nicht, sondern erweisen sich als realitätsblind und lernresistent. Dabei hätten sie, sofern sie nicht in postmoderner Verblendung ihrer eigenen Propaganda erlegen wären, durchaus aus der Geschichte der von ihnen verhängten früheren Sanktionen gegen andere Länder lernen können. Zumindest dann, wenn sie etwa die grundlegenden Unterschiede zwischen den von ihnen sanktionierten Ländern berücksichtigt hätten. Stattdessen herrscht bis heute wirklichkeitsfremdes Wunschdenken in den Staatskanzleien, regierungsnahen "Denk"fabriken und sonstigen transatlantischen Institutionen, nicht zuletzt in den etablierten Medien, vor. Erst allmählich scheint den westlichen "Akteuren" zu dämmern, dass sie sich mit ihrem Ukraine-Projekt, was tatsächlich von Anfang an gegen Russland gerichtet war, völlig vergaloppiert haben.
In den kommenden Tagen wird das Scheitern des Westens in Kasan zu besichtigen sein, wenn die BRICS-Staatengemeinschaft zu ihrem diesjährigen Gipfeltreffen zusammenkommt. Nicht nur, dass seit 2022 dieser Zusammenschluss von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika auf zunehmendes Interesse im sogenannten Globalen Süden gestoßen ist und die Länder Schlange stehen, um Mitglied im BRICS-Verbund zu werden. Die Rede ist von 30 bis 40 Staaten, die der von Moskau initiierten und 2006 gegründeten nicht-westlichen Gemeinschaft beitreten möchten. Allein dieses Jahr brachte eine Erweiterung der Staatenvereinigung um fünf Länder, auch wenn diese noch nicht ganz formal abgeschlossen ist. Nicht nur die kürzlich erfolgte Gründung einer eigenen Plattform für die friedliche Nutzung der Kernenergie widerlegt die antirussischen Sanktionen. Die BRICS-Bank steht für eine Entwicklung, die durch den westlichen Wirtschaftskrieg gegen Moskau außerordentlich befördert wurde: die Abkehr vom US-Dollar im internationalen Handel und die Entwicklung von alternativen Zahlungssystemen, die nach der erzwungenen, weitgehenden Abtrennung Russlands vom SWIFT-Netz notwendig geworden ist.
Vor diesem Hintergrund stellt das Erscheinen eines neuen Buches aus dem verdienstvollen Wiener Promedia-Verlag geradezu einen Glücksfall dar: "Im Wirtschaftskrieg" lautet der Titel des vom Historiker Hannes Hofbauer verfassten Werkes. Hofbauer, der sich auf Wirtschaftsgeschichte und osteuropäische Themen spezialisiert hat, gibt wieder einmal – wie von ihm gewohnt – einen gut lesbaren Überblick, in diesem Falle zur westlichen Sanktionspolitik, fokussiert auf das russische Beispiel seit 2014.
In sechs Kapiteln zeichnet Hofbauer die Entwicklung bis zur zugespitzten Situation von heute nach. Nachdem er eingangs die Begriffe Sanktion, Embargo und Boykott voneinander abgrenzt, liefert er einen auf die Neuzeit konzentrierten Rückblick, wie sich verschiedene Sanktionsregime und Embargo- und Boykottmaßnahmen ausgewirkt haben. Dabei geht es Hofbauer nicht nur um rein wirtschaftliche Einschränkungen, sondern beispielsweise auch um technologische wie die antisowjetische COCOM-Liste oder die verheerenden Sanktionen gegen den Irak der Neunzigerjahre. Sanktionen erweisen sich, allen Erklärungen zum Trotz, die als Begründung für ihre Verhängung vorgebracht werden, in der Regel als Mittel zu Konfliktverschärfung und Kriegsvorbereitung.
Seit 2014 hatten die westlichen Staaten unter Anleitung Washingtons neue Anstalten gemacht, um Russland zu "ruinieren" (Annalena Baerbock). Bis dahin hatte es lediglich eine kurze Phase von 16 Monaten gegeben, in der Russland "der sogenannten freien Welt zugehörte" (S. 87), nachdem es im Dezember 2012 der WTO beigetreten war. Der "große Wirtschaftskrieg gegen Russland", wie der Verfasser ihn nennt (S. 111), setzte schließlich im Februar 2022 ein, als die EU begann, ihre "Sanktionspakete" zu verhängen. Begleitet wurden die europäischen Strafmaßnahmen von einer entsprechenden Propaganda, deren "Russland-Hass", wie Hofbauer konstatiert, geradezu "paranoide Züge" (S. 127) trägt. Daher sah man sich im Westen auch dazu berechtigt, russische Guthaben "einzufrieren", Eigentum und Besitz zu beschlagnahmen und schlichtweg zu stehlen (S. 130), wie der Autor ausführt. Zu den zentralen Maßnahmen gehörten der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System und eben der "Kampf um Öl und Gas" (S. 144). Begleitet wurde der Wirtschaftskrieg von Zensurmaßnahmen – die Abschaltung von RT und Sputnik sind nur die bekanntesten Beispiele dafür (S. 160 ff.). "Jenseits des Ökonomischen", so Hofbauer, eröffnete der Westen weitere "Kampffelder" (S. 171). Dazu zählen seither die unterbundenen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, auf Eis gelegte Austauschprogramme und Städtepartnerschaften bis hin zu den unterbrochenen Verkehrsverbindungen und Kontakte.
Doch Moskau hatte seit dem Putsch in der Ukraine vorgesorgt und blieb nicht untätig (S. 197 ff.). Russland verhängte – als Antwort! – seinerseits Importverbote, etwa für Agrarerzeugnisse. Parallel wurden russische Produzenten gefördert, um die Lücken, die westliche Firmen hinterließen, weil sie von Moskau aus dem Markt gedrängt wurden, zu füllen. Zwar versuchten etliche westliche Konzerne, die Gegenmaßnahmen Moskaus zu umgehen oder auszusitzen, doch hatten sie damit im Großen und Ganzen keinen Erfolg. Was blieb, waren teure Parallelimporte über Drittländer, um auf dem russischen Markt präsent zu bleiben. Ansonsten mussten sich die westlichen Firmen damit abfinden, dass ihre Produkte durch einheimische Waren oder Erzeugnisse aus nichtwestlichen Ländern ersetzt wurden. Damit erwiesen sich die Sanktionspakete des Westens, gemessen an den deklarierten politischen und ökonomischen Zielen, als insgesamt erfolglos. Hinzu kommt, dass der westliche Import russischer Rohstoffe und Energieträger bis heute nicht vollends zum Erliegen gekommen ist, sondern beispielsweise über Drittländer wie Indien weitergeht.
Schließlich geht Hofbauer auf die globalen Folgen des westlichen Wirtschaftskriegs gegen Russland ein (S. 221 ff.). Sie sind, wie bereits ausgeführt, nicht nur geopolitischer Art, sondern führen zu einer beschleunigten Dedollarisierung des Welthandels. Gegen Ende diskutiert der Wiener Wirtschaftshistoriker die Folgen der Sanktionen auf die russische Innenpolitik und Gesellschaft. Dass die westlichen extraterritorialen Sanktionen gegen Russland völkerrechtswidrig sind, steht für Hofbauer außer Zweifel, wie er in seinen abschließenden Ausführungen aufzeigt.
Komplettiert wird die vorliegende kritische Studie durch ein Literatur- und Quellenverzeichnis, das auch relevante Onlinedarstellungen und -quellen umfasst. So lautet denn das Fazit: Wer sich materialgesättigt, historisch reflektiert und abseits des selbstreferenziellen transatlantischen Mainstreams über die Vorgeschichte und Folgen des für Europa desaströsen Wirtschaftskrieges gegen Russland informieren möchte, wird um die ausgezeichnete Darstellung Hofbauers nicht herumkommen.
Bibliografische Angaben: Hannes Hofbauer: Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland. Wien: Promedia, 2024. – 254 Seiten, ca. 22 Euro, ISBN: 978-3-85371-533-8; E-Book: 17,99 Euro, ISBN: 978-3-85371-919-0.
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