NATO-Stützpunkte im Osten – Provokation oder Besatzung?

35 Jahre nach dem meist fälschlich "Wiedervereinigung" genannten Ereignis sollen jetzt NATO-Truppen im Osten stationiert werden. Nicht nur in Rostock, auch in einem ehemaligen Fliegerhorst der NVA. Eine sehr, sehr fragwürdige Entwicklung.

Von Dagmar Henn

Es war bereits eine seltsame Meldung, dass ausgerechnet in Rostock ein neues Hauptquartier für die NATO eingerichtet wird. Klar, Rostock hat einen Hafen. Da ist nur diese kleine rechtliche Frage aus dem 2+4- wie dem Einigungsvertrag, die eigentlich derartige Einrichtungen auf dem gesamten Annexionsgebiet dauerhaft untersagt. Ein Problem, das sämtliche polnischen Häfen nicht aufweisen, ebenso wenig wie die schwedischen, die ja mittlerweile auch NATO-Gebiet sind. Dazu kommt noch, dass Rostock ein kleines Sicherheitsproblem hat, weil es in einem Bundesland liegt, in dem große Teile der Bevölkerung die NATO-Aggression nicht mittragen.

Gerade wenn man sich an die ständigen Behauptungen erinnert, Russland würde die Bundeswehr und die NATO fortwährend ausspionieren – begebe ich mich dann freiwillig in ein Gebiet, in dem die betriebene Politik von vielen so weit abgelehnt wird, dass sie gerne dagegen tätig würden? Wenn es doch andere Optionen gibt (wie im bereits erwähnten Polen), wo auch die örtliche Mehrheit ein solches Hauptquartier begrüßen würde?

Seltsam genug. Wobei es natürlich noch den kleinen Nebenaspekt gibt, dass der Anlandepunkt der Nord-Stream-Pipelines in Mecklenburg-Vorpommern liegt, und eine NATO-Präsenz dort auch eine US-amerikanische Rückversicherung gegen eine politische Kehrtwende sein könnte.

Nun, da redeten wir von Rostock. Es gibt aber noch einen zweiten Ort, der weniger breit bekannt gemacht wurde. Der Fliegerhorst Holzdorf, in Sachsen-Anhalt, soll, so meldete der MDR, "einer der größten Luftwaffenstützpunkte der NATO" werden (praktischerweise liegt er zum Teil bereits auf Brandenburger Gebiet). Das ist das zweite (und dritte) Bundesland. Im Grunde muss man jetzt nur noch abwarten, was in Sachsen und Thüringen gebaut werden soll. Der Gedanke, dass jetzt jedes der widerspenstigen Bundesländer widerrechtlich mit einer NATO-Einrichtung garniert wird, liegt jedenfalls nicht völlig fern.

Warum? Weil dort irgendwie noch die Orte fehlten, die zum Ziel werden könnten, falls die NATO gegen Russland weiter eskaliert, und die Bundesregierung es nicht gerecht findet, wenn die ganzen Kommandozentralen, die dann geradezu nach Raketen schreien, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz liegen? Oder ist das Motiv noch ein ganz anderes?

Es gibt reihenweise Statistiken und Zahlen, die belegen, dass das mit der "deutschen Einheit" eine Fiktion ist. Die überzeugendste Zahl ist nach wie vor die Besetzung von Führungspositionen, bei der der westdeutsche Import derart überwiegt, dass das nach den Regeln des einstigen britischen Kolonialreiches schon unter "direct rule" fiele. Was immer tiefen Unmut auslöst. Man kann sich einmal bei den Briten darüber erkundigen, die selbst nach wie vor der Überzeugung sind, Nordirland gehöre ihnen. Was vielleicht sogar funktioniert hätte, wenn die Diskriminierung der katholisch-irischen Bevölkerung nicht so deutlich gewesen wäre.

Nicht nur die letzten Wahlen, auch eine ganze Reihe von Umfragen belegen, dass die politische Spaltung tief geht. Wobei das die Stimmen für AfD und BSW nur teilweise widerspiegeln, schließlich fordert die AfD zwar eine diplomatische Politik gegenüber Russland an Stelle der ständigen Aggression der NATO, lehnt dieses Militärbündnis aber nicht grundsätzlich ab. Eine widersprüchliche Position, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die NATO als gegen die Sowjetunion gerichtetes Bündnis geschaffen wurde und ihre heutige Existenz nur durch ihre Stellung gegen Russland überhaupt rechtfertigen kann, aber das ist ein internes Problem der AfD. Die interessante Frage ist jedoch, wie das ihre Wähler im Osten sehen.

Oder ob ein Aspekt dieses seltsamen Eifers, jetzt die östlichen Bundesländer mit NATO-Stützpunkten zu bestücken, nicht darin liegt, diesen Widerspruch innerhalb der AfD auf diese Weise politisch nutzbar zu machen, weil sich diese Partei gar nicht entschieden gegen diese Stützpunkte wenden kann, und dieser Zwiespalt dann dazu führen könnte, dass sich ein größerer Anteil der Wähler wieder von ihr abwendet? Weil der westdeutsche Teil nicht bereit wäre, von seiner Position für die NATO abzurücken, während es bei vielen im Osten keine allzu große Freude auslösen dürfte, tiefer in den Brüsseler Irrsinn verstrickt zu werden?

Wenn man daran denkt, auf welche Art und Weise damals in der ersten Hälfte der 1950er Jahre in der Bundesrepublik Westbindung und Remilitarisierung durchgesetzt wurden, können einem noch eine ganze Reihe weiterer Dinge einfallen. Damals gab es eine breite Volksbewegung gegen die Wiederbewaffnung, und selbst in den Gewerkschaften starke Bemühungen für einen Generalstreik dagegen; aber ab 1951 wurde – unter Zuhilfenahme des angestrebten KPD-Verbots – nach und nach alles verboten, was sich dagegen wandte. Schlicht, indem man alle Friedensinitiativen zu kommunistischen Vorfeldorganisationen erklärte und dann die Tatsache ausnutzte, dass es zwar vergleichsweise schwierig ist, eine Partei zu verbieten, Vereine oder gar lose organisierte Gruppen diesen Schutz jedoch nicht haben.

Welche Gestalt wird also die politische Auseinandersetzung um diese Stützpunkte annehmen? Die Nachdenkseiten hatten gestern bereits die Idee eines Volksbegehrens ins Spiel gebracht … Bislang sind nur diese beiden Stützpunkte bekannt, aber viele Informationen rundherum fehlen. Seit wann waren die Landesregierungen darüber informiert? Haben sie diesen Stationierungen zugestimmt, und falls ja, warum, wenn sie doch offenkundig rechtswidrig sind? Wie ist es mit der örtlichen Politik, dem Rostocker Stadtrat, dem Landkreis Wittenberg und der Stadt Schönewalde? Und wie viele weitere Kommunen gibt es womöglich noch, in denen Derartiges gerade vorbereitet wird?

Rostock alleine hätte man vielleicht noch als typischen Berliner Unfug verbuchen können. Wenn sich das aber zu einer Entwicklung verstetigt, wonach es derzeit aussieht, gibt es da noch einen weitaus bösartigeren Unterton. Nachdem die politische Reaktion auf die Entwicklung in den angeschlossenen Bundesländern bereits die Bereitschaft andeutete, mit Mitteln wie Verboten zu reagieren, und die Leidenschaft, mit der etwa das Bundesinnenministerium Abweichungen zu unterdrücken sucht, unübersehbar ist – wie sicher fühlt sich die westdeutsche Politelite in ihrem Zugriff?

Es ist durchaus vorstellbar, dass in den entsprechenden Berliner Kreisen weder die Landespolizeikräfte noch die Bundeswehr als wirklich zuverlässig angesehen werden, und die Einrichtung von NATO-Stützpunkten und Kommandozentralen in den östlichen Bundesländern vor allem einer Sache dient: ausländische Truppen dort unterzubringen. Es also nicht nur darum geht, diese widerspenstigen Wähler zu Geiseln einer Politik zu machen, die sie ablehnen, indem man ihnen Zielscheiben auf die Stirn malt, sondern ganz konkret die eigene Kontrolle mit Besatzungstruppen abgesichert werden soll.

Das klingt erst einmal wie eine Räuberpistole, aber genau so hätte man noch vor vielen Jahren auf eine Menge Ereignisse reagiert, die die Politik der letzten Jahre bestimmt haben. Wer hätte es vor fünf Jahren geglaubt, wenn man ihm gesagt hätte, dass jahrelang Freigang aus der eigenen Wohnung zu einem Privileg wird, das an unterschiedlichste Bedingungen geknüpft wird; oder dass es plötzlich das dringendste Herzensanliegen der deutschen Politik wird, Waffen in die Ukraine zu schicken, um dort eine Generation junger Männer auszurotten?

Was war die erste Reaktion der britischen Regierung, als die Diskriminierung der katholisch-irischen Bevölkerung in Nordirland zu immer größeren Protesten führte? Sie schickte Truppen dorthin. Die dann, weil sie am Blutigen Sonntag des 30. Januars 1972 26 Demonstranten niederschossen, einen Bürgerkrieg auslösten. Der zur Verlegung immer weiterer britischer Truppen nach Nordirland führte und der erst 1998, nach über einem Vierteljahrhundert, endete.

Nordirland ist nicht die einzige Gegend in Europa, in der die staatliche Zugehörigkeit von größeren Bevölkerungsteilen als Kolonialherrschaft begriffen wird, aber die größte; wenn man die Liste betrachtet, Baskenland, Katalonien, Korsika, Sardinien, findet man immer, dass eine solche Lage politisch ausgesprochen instabil ist. Zugeständnisse an die Einheimischen können die Stabilität erhöhen, aber es gibt eine Sache, die sie am schnellsten verringert: Das ist die Stationierung als feindlich gesehener Truppen. Man mag einen Blick auf den gerade abgeschlossenen US-Prozess zum Mord in Wittlich werfen und dann darüber nachdenken, wie ein ähnlich gelagerter Fall in Sachsen-Anhalt ankäme; diese NATO-Einrichtungen bräuchten sehr schnell sehr hohe Zäune.

Mag sein, dass sich die Bundesregierung und die NATO-Bürokratie in Brüssel nicht darüber bewusst sind, dass die Etablierung sich nicht nur in rechtlicher Hinsicht als explosiv erweisen könnte; es mag aber auch sein, dass tatsächlich ein Zustand beabsichtigt ist, der einer Besatzung ähnelt. Im ersten Fall wären diese Entscheidungen einfach nur dumm; im zweiten jedoch vollkommen verrückt.

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