Von Elem Chintsky
Würde man für jede Anekdote über die Nichteinhaltung von Sanktionen gegen Russland 15 Eurocent Taschengeld ausgezahlt bekommen, könnte man fast schon das diesjährige Staatsdefizit der BRD noch vor Weihnachten ausmerzen.
So berichtete zuletzt Politico von den neuesten Wirtschaftsdaten des mitteleuropäischen EU- und NATO-Mitglieds Tschechiens. Aus diesen geht hervor, dass das ehemals zum Warschauer Vertrag gehörige Land das Fünffache an Ausgaben für russische Energie vorzuweisen hat – im Vergleich zu der ausgezahlten Ukraine-Hilfe im selben Zeitraum. Die US-amerikanische Tageszeitung zitiert dazu ein neues Papier des Centre for Research on Energy and Clean Air und des Center for the Study of Democracy, in dem es heißt, dass "die Tschechische Republik über 7 Milliarden Euro für russisches Öl und Gas ausgegeben hat." Der Gesamtbetrag an die Ukraine habe sich dagegen auf 1,29 Milliarden Euro belaufen.
Obwohl es in den letzten zweieinhalb Jahren Alternativen zu russischen Rohstoffen gegeben habe, habe die tschechische Regierung es privaten Unternehmen ermöglicht, einen Gewinnüberschuss von 1,2 Milliarden Euro zu erzielen. Was von Politico als ein gerissen angewandtes "Sanktionsschlupfloch" bezeichnet wird, war lediglich eine bewusste Entscheidung der Prager Führung, die darauf hoffte, dass dieser lukrative Fakt nicht Gegenstand großer Medienaufmerksamkeit werden würde. Letzteres hat sich nicht bewahrheitet. Wobei die erwähnten Alternativen Prag offensichtlich nicht wirklich überzeugten, da zum Beispiel das aserbaidschanische Erdöl im Jahr 2023 im Durchschnitt 21 Prozent teurer war als das undemokratische aus Russland. Und selbst wenn man mit dem überteuerten aserbaidschanischen Erdöl widerwillig vorliebgenommen hätte: Es gibt keine "klimafreundliche und nachhaltige" Möglichkeit, diese Erdöl-Variante ohne die riesige und komplexe Energieinfrastruktur Russlands im Kaukasus zu transportieren.
In diesem Zusammenhang ist von einer EU-Ausnahmeregelung für Prag die Rede, die anfangs dazu dienen sollte, einen geschmeidigeren Übergang vom verpönten russischen Öl zu gewähren, um der eigenen Volkswirtschaft durch einen plötzlichen Energieentzug nicht allzu großen Schaden zuzufügen. Nach demselben Prinzip wurde auch der Slowakei und Ungarn diese "Gnadenfrist" seitens Brüssels gewährt – beides Länder, die innerhalb der EU mittlerweile für ihren Trotz und die Normalisierung der Beziehungen zu Russland auffallen. Prag dagegen gilt als einer der engsten ideologischen Verbündeten des Kiewer Regimes, sodass die neuesten Enthüllungen ordentlich Risse im ideologischen Grundgerüst der EU verursachen dürften.
Pro forma wird die Absicht der tschechischen Regierung, die Käufe aus Moskau auslaufen zu lassen, als aufrichtig bezeichnet – und das, obwohl die Energie-Käufe im Jahr 2023 um circa 60 Prozent angestiegen sind.
Hinzu kommen die mittlerweile bekannt gegebenen Pressemitteilungen der tschechischen Regierung. Wie erwartet, wurde die Verantwortung hierfür abgewiesen, und umgeleitet auf einen autonom handelnden "privaten Konzern" aus Polen. In erster Instanz handelt es sich dabei um die tschechische Aktiengesellschaft Orlen Unipetrol, die seit 2004 zu hundert Prozent dem polnischen Mineralöl-Giganten Orlen Spółka Akcyjna gehört. Also ist nicht nur "der Kapitalismus" schuld, sondern auch der Nachbar, Polen. Orlen Unipetrol versichert aber dennoch, dass "alle geltenden nationalen und internationalen Gesetze und Vorschriften eingehalten werden."
Einer der Autoren der von Politico zitierten Analyse behauptet Folgendes:
"Tschechien könnte eine normale Versorgung mit nicht-russischem Rohöl sicherstellen, indem es die freien Kapazitäten der Trans-Alpine-Pipeline, die Öl aus dem italienischen Hafen Triest bringt, und der Adria-Pipeline, die eine Verbindung zur slowakischen Druschba-Pipeline herstellt, nutzt sowie die Importe von Raffinerie-Produkten und die Entnahme von Erdölvorräten erhöht."
Zum einen entfällt bei dieser Einschätzung der simple Fakt, dass auch die Druschba-Pipeline ideologisch "kontaminiert" ist, da sie zur russischen Energieinfrastruktur in Mitteleuropa gehört. Dort fließt russisches Erdöl aus Russland in mehreren, infrastrukturell komplizierten Verzweigungen. Um die "ideologische Reinheit" zu gewährleisten, müsste man dort, wo die Adria-Pipeline an die Druschba-Pipeline anknüpft (nämlich im Herzen Ungarns), parallel eine vollkommen neue, anti-russische Pipeline errichten – wenig wahrscheinlich bei der aktuellen Wirtschaftsleistung Europas.
Zum anderen ist die offensichtliche Kosten-Nutzen-Rechnung nach zweieinhalb Jahren nach wie vor viel zu unausgewogen und unvorteilhaft, als dass dieser Vorschlag so einfach – wie von den Experten behauptet – umzusetzen wäre.
Ferner zitiert Politico einen ukrainischen Sanktionsbeauftragten, der beteuert, dass es "enttäuschend ist zu sehen, wie befreundete Staaten sich immer noch um eine völlige Ablehnung russischer Energie herumdrücken."
Man kommt zu dem Schluss, dass die EU-Ausnahmeregelungen verblüffenderweise zu einer noch größeren Abhängigkeit von russischer Energie geführt haben. Die zitierten Wirtschaftsforscher konstatieren, dass Orlen die Ausnahmeregelungen weiterhin uneingeschränkt nutzt und somit monatlich circa 50 Millionen Euro an Öl-Einnahmen an den Kreml überweist.
Man kann aber nicht nur den Willen der privaten Unternehmen zur Gewinnsteigerung als alleinigen Grund für die so dreiste Umgehung der Sanktionsdoktrinen nennen. Zum einen hat die tschechische Exekutive die Vollmacht, Orlen Unipetrol durch nationale Gesetzgebung so weit einzuschränken, dass die ideologisch aufgeladenen EU-Richtlinien befriedigt werden würden. Zum anderen hat die Warschauer Führung genauso, wenn nicht sogar viel eher, die Befugnis, das ihrer nationalen Jurisdiktion unterliegende Mutterunternehmen zurechtzuweisen und – entsprechend dem EU-Diktat – zu disziplinieren. Beides geschieht indes nicht. Hier wird ein Schimmer hinter den Kulissen kurz gelüftet, der die eigentliche Korporatokratie der EU offenlegt. Die großzügig überschüssigen Profite der Konzerne werden selbstredend auch in Form von Kapital-Abführungen (Steuern) an die jeweilige Volksbürokratie entrichtet.
Bedenkt man, dass die polnische Republik sich in den letzten zweieinhalb Jahren als russophobes Paradebeispiel für konsequente Sanktionspolitik gegen Moskau betrachtet und profiliert hat, ist besonders die scharfe Kritik an der BRD, zu seicht und widerwillig bei deren Umsetzung gewesen zu sein, bezeichnend. Zumal ausgerechnet Polen an ebensolchen heuchlerischen Machenschaften beteiligt ist – wie andere Anekdoten aus dem Jahr 2023 zeigen (riesige Lieferungen russischen Aluminiums in den polnischen Ostsee-Hafen in Szczecin). Da ist der eindeutige Mangel an ebendieser dreisten Heuchelei in Ficos Slowakei und Orbáns Ungarn doch um einiges erträglicher.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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