NATO bereitet für Russland inakzeptablen Vorschlag vor

Westlichen Medienberichten zufolge könnte die NATO der Ukraine eine Mitgliedschaft nach dem Vorbild der BRD in den 1950er Jahren vorschlagen und von Russland eine Einfrierung des Konflikts entlang der Frontlinie fordern. Die Hauptfrage bleibt, wieso Russland darauf eingehen sollte.

Von Dmitri Bawyrin

Gleich am ersten Tag im Amt des NATO-Generalsekretärs hat sich Mark Rutte begeistert für einen Beitritt der Ukraine zu der Militärallianz und eine Erlaubnis für Raketenangriffe auf russisches Territorium an Kiew ausgesprochen. Anscheinend hat sich der Mann während seines Urlaubs in der Zeit zwischen dem Rücktritt als Ministerpräsident der Niederlande und dem Umzug nach Brüssel gut erholt und ist nun bereit, mit frischen Kräften den Dritten Weltkrieg beziehungsweise den ersten Nuklearkrieg zu beginnen.

Rutte zeigte damit, dass er keinesfalls besser als sein Vorgänger Jens Stoltenberg ist. Jener vermutete kurz vor seinem Rücktritt sogar, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen werden könnte, ohne die Kontrolle über die verlorenen Gebiete zurückerlangt zu haben. Er meinte auch, dass eine Einladung in die Allianz als Instrument zur Beendigung des Konflikts dienen könnte.

Eine scheinbar wahnsinnige Äußerung – hat doch der Konflikt gerade deswegen begonnen, weil die Ukraine in die NATO gezerrt wurde, was für Russland inakzeptabel ist. Doch in den Worten der Generalsekretäre liegt eine eigene jesuitische Logik, die deren Aktionen vorhersehbar macht.

Bekanntlich wird am 12. Oktober in Deutschland ein Treffen der Hauptverbündeten der Ukraine unter Teilnahme der Staatschefs der USA, Großbritanniens, Deutschlands und Frankreichs sowie Wladimir Selenskijs stattfinden. Er wird den US-Präsidenten Joe Biden wieder um eine Erlaubnis zum Einsatz von Langstreckenwaffen anbetteln, obwohl diese Bitten vor den Wahlen in den USA sinnlos sind.

Wie die Quellen der Financial Times vermuten, werden Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz statt der Langstreckenangriffe in einem anderen Punkt nachgeben und ihr unausgesprochenes Veto gegen die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aufheben. Selenskij könnte diesbezüglich irgendein ganz sicheres endgültiges Papier erhalten.

Gleichzeitig kann vor dem Ende der Kampfhandlungen von einer vollwertigen Mitgliedschaft Kiews in der Allianz keine Rede sein: Dies bestätigten bereits sämtliche Vorgenannten, mit Ausnahme Selenskijs. Das heißt, dass die Mitgliedschaft zwar aufgeschoben werde, diese aber laut Stoltenberg gleichzeitig ein Mittel zur Beendigung des Konflikts sei.

Anscheinend wollen Biden & Co. das Szenario von 1956 wiederholen, als Westdeutschland in die Allianz aufgenommen wurde. Die BRD erkannte die DDR nicht an, hielt das Territorium im Osten Deutschlands für sein eigenes und wollte nicht einmal um den Willen eines NATO-Beitritts darauf verzichten. Eine ähnliche Situation besteht gegenwärtig mit der ukrainischen Regierung.

Deswegen wurde Westdeutschland auf eine besondere Art und Weise in die NATO aufgenommen – mit der Klausel, dass die Allianz nur das von der BRD kontrollierte, nicht aber das beanspruchte Territorium unter Schutz nahm. Das heißt, dass die NATO zwar die DDR für einen Teil der BRD hielt, aber das Prinzip der Kollektivverteidigung nicht auf deren Territorium erstreckte.

Nun entspricht die "DDR" jenen russischen Gebieten, die die Ukraine für ihre eigenen hält, einschließlich der Krim.

Bei einem Beitritt zur Allianz hätte die ukrainische Führung Schutzgarantien nur für jene Gebiete erhalten, die sie tatsächlich kontrolliert. Und sollten Russlands Streitkräfte die von der NATO als die Grenze ihrer Kontrollzone festgelegte Linie überqueren, würde dies den Beginn eines militärischen Konflikts zwischen Russland und der NATO bedeuten.

Doch wie wir uns erinnern, müssen für einen Beitritt der Ukraine zur NATO erst die Kampfhandlungen beendet werden – gerade deswegen, weil der Westen trotz allem keinen direkten Krieg gegen Russland führen will und sich tatsächlich vor einem Dritten Weltkrieg fürchtet. Daher müsste Moskau einer "Einfrierung" des Konflikts zustimmen, ohne dass die Ukraine und der Westen damit Russlands neue Grenzen anerkennen würden.

Wieso Russland nach Meinung der NATO dem zustimmen sollte, ist an diesem Schema das Interessanteste, weil es zugleich das Rätselhafteste ist. Möglicherweise wird es irgendein "Zuckerbrot" in Form der Milderung des wirtschaftlichen und des Sanktionsdrucks geben. Für den Fall einer Weigerung ist eine "Peitsche" vorgesehen, die in Gestalt der besagten Erlaubnis für den Einsatz von Langstreckenwaffen und massenhaften Raketenlieferungen geschwungen werden könnte.

Zum Boten, der Russland die Bedingungen einer solchen Abmachung übermitteln soll, wurde Kanzler Scholz ausgewählt. Wie deutsche Medien herausgefunden haben, plant er im November nach einer Unterbrechung von zwei Jahren ein erneutes Telefongespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Das Gespräch soll im Vorfeld des G20-Gipfels in Brasilien stattfinden, zu dem sowohl Putin als auch Scholz eingeladen sind. Wahrscheinlich will sich der Westen die Unterstützung seines Plans bei jenen G20-Mitgliedern sichern, die bisher eine neutrale Position einnehmen, wie Indien oder Saudi-Arabien, um Moskau auch in deren Namen unter Druck zu setzen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die NATO Russland vorschlagen wird, sich mit Kiews Verpflichtung zu begnügen, die verlorenen Gebiete nicht militärisch zurückzuerobern. In der Praxis bedeutet das, dass die Führung der Rest-Ukraine und ihre NATO-Verbündeten darauf warten werden, wann die Geschichte ihnen ein "Fenster der Möglichkeiten" öffnet. In der Vergangenheit öffnete sich ein solches Fenster unter Michail Gorbatschow und ermöglichte der BRD, die DDR zu annektieren, und dem Baltikum, sich von der UdSSR abzuspalten.

Doch das Hauptproblem für Russland liegt nicht in den Risiken einer fernen Zukunft. Die ehemaligen "respektierten Partner" und gegenwärtigen Anführer der "unfreundlichen Staaten" stellen sich nämlich nach wie vor taub und weigern sich, den Kern dessen zu hören, was Russland ihnen zu vermitteln versucht.

Der Hauptgrund für alles, was mit der Ukraine in den vergangenen drei Jahren passierte, ist der Versuch, sie in die NATO zu zerren. Ohne diesen wäre die spezielle Militäroperation nicht notwendig. Kiews Verzicht auf einen Beitritt zur Allianz ist Russlands Hauptbedingung und die Grundlage der sogenannten Verträge von Istanbul, die den Konflikt im Frühling 2022 beenden sollten. In vieler Hinsicht dauert er deswegen noch an, weil diese Bedingung nicht akzeptiert wurde.

Folglich hat die vom Westen vorbereitete Abmachung keinen Sinn. Für Russland besteht der Gegenstand der hypothetischen Verhandlungen darin, dass die Ukraine irgendwelche Zugeständnisse für den Verzicht auf einen NATO-Beitritt erhalten könnte. Und nicht darin, dass Russland irgendwelche Zugeständnisse erhalten könnte, wenn es sich dem Anschluss der Ukraine an die Allianz nicht widersetzt.

Ob in Teilen oder ganz, eine Ukraine als NATO-Mitglied ist inakzeptabel, Punkt. Die Gründe dafür wurden hunderte Male erklärt.

Der Westen hält Russland immer entgegen, dass die Ukraine als ein souveräner Staat selbst das Recht habe, ihr außenpolitisches Schicksal zu wählen, was eine Völkerrechtsnorm sei. Doch neben Völkerrechtsnormen gibt es auch noch den gesunden Menschenverstand. Und dieser diktiert, dass man für die Sicherheit von Großmächten keine existenziellen Bedrohungen schaffen darf, denn solche Bedrohungen werden sie ohnehin nicht zulassen, während die Folgen ihrer Beseitigung allen teuer zu stehen kommen.

Für Russland ist eine existenzielle Bedrohung zum Beispiel ein Beitritt der Ukraine zur NATO. Für die USA wurde dies die Stationierung von sowjetischen Nuklearraketen auf Kuba – die sogenannte Kubakrise, als die Welt einem dritten Weltkrieg und damit dem ersten Nuklearkrieg sehr nahe kam, weil Washington bereit war, einen Erstschlag gegen die UdSSR auszuführen, bloß um die USA keinen Risiken vonseiten Kubas auszusetzen.

Gemäß dem Völkerrecht hätten die USA eigentlich nicht die UdSSR einfach so angreifen dürfen, erst recht nicht um den Preis einer nuklearen Apokalypse, denn die Sowjetunion hätte darauf zweifellos geantwortet. Moskau hatte hingegen das gute Recht, Nuklearraketen auf Kuba zu stationieren, denn vertragliche Beschränkungen diesbezüglich existierten damals nicht, und Fidel Castro selbst bat Nikita Chruschtschow darum, die Insel der Freiheit mit sowjetischen Raketen zu schützen.

Trotz alledem sieht keine offizielle Geschichtsschreibung die Kubakrise als Willkür Washingtons an, die wegen der Launen und Paranoia der USA den Planeten beinahe dem Untergang geweiht hätte. Selbst in der UdSSR wurde diese Krise von der regierenden Partei zu einem der Gründe für Chruschtschows Absetzung erklärt. Ihm wurde nicht etwa vorgeworfen, dass er sich aus Angst vor dem Krieg zurückgezogen hat, sondern dass er die USA dazu provoziert hat und einen solchen Krieg begonnen hätte.

Trotz der ideologischen Gegensätze und der aufrichtigen Furcht voreinander haben Moskau und Washington damals verstanden: Wenn man in die lebenswichtige Zone des Gegners eindringt, kann das böse enden. Moskau versteht das immer noch, Washington tut es nicht mehr. Es erfindet "Friedenspläne", ohne sich die Ursachen des Kriegs bewusst zu machen.

Das ist schlecht, sehr schlecht. Denken Sie weiter.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen auf der Webseite der Zeitung Wsgljad am 2. Oktober 2024.

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