Kritik an Venezuela, Stille zu Israel: Die Doppelmoral der EU-Abgeordneten

Das EU-Parlament inszeniert sich als moralische Instanz, doch in Sachen Gaza herrscht ohrenbetäubendes Schweigen. Während Venezuela scharf kritisiert wird, scheint das Leid von 40.000 Palästinensern keine Erwähnung wert. Warum schaut Straßburg einfach weg?

Von Pierre Levy 

Das Europäische Parlament enttäuscht einen nie. Die neuen EU-Abgeordneten, die im Juni letzten Jahres frisch gewählt wurden (schlecht gewählt, mit einer durchschnittlichen Wahlenthaltung von fast 50 Prozent), haben nicht lange gezögert, um die Tradition und die Heldentaten ihrer Vorgänger fortzusetzen.

Die Straßburger Versammlung verfügt über keine Legitimität, da es kein europäisches Volk gibt. Sie versucht also, diesen Mangel zu kompensieren, indem sie sich selbst zum universellen moralischen Maßstab und zum obersten Richter der Menschenrechte für die ganze Welt erklärt. Die erhabene Institution verteilt gute und (vor allem) schlechte Punkte auf dem ganzen Planeten. Hier verurteilt sie eine Regierung, da beschuldigt sie einen Staat, dort fordert sie Sanktionen gegen einen Führer. Sie tadelt, rügt und stigmatisiert, was das Zeug hält.

Nichts ist den Europaabgeordneten zu viel, um sich in dem Glauben zu bestärken, dass sie unentbehrlich sind und dass das ganze Universum auf Straßburg schaut. Die Sitzung, die am 19. September dort stattfand, stellte in dieser Hinsicht einen merkwürdigen Rekord auf.

Die Zusammenfassung des Pressedienstes verdeutlicht dies. Sie enthält einige der Titel der verabschiedeten Resolutionen. "Venezuela: Abgeordnete erkennen Edmundo González als Präsidenten an"; "Ukraine muss in der Lage sein, legitime militärische Ziele in Russland anzugreifen"; "Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan, Belarus und Kuba". (Man erfährt auch, dass "das Parlament auf die jüngsten extremen Wetterereignisse in Europa reagiert", wobei es wohl der Meinung ist, dass sich selbst die Götter des Himmels nicht seiner Gerichtsbarkeit entziehen sollten.)

Es ist sinnvoll, die Beschwerden und Forderungen des ersten Textes zu erläutern, der mit 309 Stimmen (gegen 201 Stimmen bei 12 Enthaltungen) angenommen wurde. Die Resolution "erkennt" den venezolanischen Oppositionskandidaten als "legitimen und demokratisch gewählten" Präsidenten an und widerspricht damit der Wahlkommission des Landes. Sie fordert also die EU auf, alles zu tun, "damit Edmundo González Urrutia sein Amt am 10. Januar 2025 antreten kann".

Insbesondere verlangt sie, dass die EU "die Sanktionen gegen die Mitglieder des Nationalen Wahlrats wieder einführt" und "fordert die Verlängerung der Sanktionen [...] gegen [das derzeitige Staatsoberhaupt] Nicolás Maduro und seinen engsten Kreis".

Die Versammlung spricht sich also dafür aus, dass die europäischen Führer die Haltung des Westens aus dem Jahre 2019 erneuern, die die Anerkennung des selbsternannten "Präsidenten" Juan Guaidó aus den Reihen der Opposition beinhaltete, nachdem die Opposition ein "Machtvakuum" festgestellt hatte – eine Behauptung, für deren Zustimmung das Weiße Haus nicht einmal eine Viertelstunde gebraucht hatte.

Diese Strategie hatte sich als Fiasko erwiesen. Sowohl in Washington als auch in Brüssel, Paris und Berlin musste man im Laufe der Jahre feststellen, dass Herr Guaidó weit davon entfernt war, die Unterstützung der Bevölkerung zu genießen, und dass seine alternativen Institutionen nur aus Pappmaché bestanden. Daher ist der Realismus heute größer – außer in Straßburg.

All diese Unrast könnte nur lachhaft sein, wäre da nicht der Kontrast zu einem ohrenbetäubenden Schweigen: Die Europaabgeordneten haben noch keinen Moment gefunden, um sich für den Nahen Osten zu interessieren.

Muss man daran erinnern, dass seit Oktober 2023 fast 40.000 Bewohner des Gazastreifens durch israelische Bombardements ihr Leben verloren haben? Die Zahl der Toten in diesem Freiluftgefängnis wird tatsächlich weit unterschätzt: Wenn man die Todesfälle infolge der von den Besatzern bewusst herbeigeführten Hungersnot und der Krankheiten mit einbezieht, könnte diese apokalyptische Zählung auf über 100.000 ansteigen. Dabei sind die Verletzten noch nicht einmal mitgerechnet, denn in diesem Gebiet sind die Krankenhäuser das Hauptziel, und die meisten von ihnen haben ihren Betrieb eingestellt – ebenso wie die Schulen.

Mehr als ein Viertel der Opfer sind Kinder. Von denen, die überleben, haben Tausende, darunter auch Kleinkinder, keine Familie mehr. "Dies ist ein Krieg gegen Kinder und ihre Zukunft", sagte der Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNRWA). Philippe Lazzarini präzisierte bereits am 12. März: "Die Zahl der in nur vier Monaten in Gaza getöteten mutmaßlichen Kinder ist höher als die Zahl der in vier Jahren in allen Konflikten weltweit getöteten Kinder."

Das Abschlachten betrifft nicht nur Menschen ‒ es umfasst auch die systematische Zerstörung von Museen, Universitäten und Kultur ‒ kurzum, von dem, was die Wurzeln und die Zukunft eines Volkes ausmacht.

All das ist den Europaabgeordneten wahrscheinlich entgangen, zumindest der Mehrheit von ihnen. Ebenso wenig wie der koloniale Zugriff auf das Westjordanland, der sich nun beschleunigt und in wenigen Monaten Hunderte von Opfern gefordert hat.

Aber vielleicht ist man in Straßburg der Ansicht, dass die Palästinenser nur "menschliche Tiere" sind, wie es der israelische Verteidigungsminister vor einem Jahr elegant formulierte? Denkt das EU-Parlament das auch von den Libanesen, die jetzt ebenfalls im Visier der Armee Tel Avivs stehen?

Denn die Offensive an Israels "Nordfront" fordert nun jeden Tag Hunderte von Todesopfern. Sie zielt offiziell darauf ab, der Hisbollah entgegenzutreten, und hatte einen Wendepunkt erreicht, als die Explosion von mit Sprengfallen versehenen Kommunikationsgeräten Dutzende ihrer Aktivisten tötete, nicht ohne zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verursachen.

Andernorts wäre diese Strategie als "terroristisch" bezeichnet worden. Sie hätte den Zorn der Torquemadas im Europaparlament auf sich gezogen. Im Moment schauen sie weg. Ohne jedes Schamgefühl.

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