Israel und die Pager der Pandora

Wer es bisher noch nicht begriffen hat, dass die Gleichmut, mit der der Westen auf israelische Verbrechen reagiert, Konsequenzen für alle hat, sollte es jetzt erkennen. Denn wenn der jüngste Terrorakt im Libanon hingenommen wird, sind die Konsequenzen unübersehbar.

Von Dagmar Henn

Es entstammt einem Albtraum, was Israel im Libanon inszeniert hat. Ein unterschiedsloser Angriff in einem Staat, mit dem man sich nicht im Krieg befindet, bei dem mehrere technische Geräte als Bomben eingesetzt wurden. Unübersehbar ein Kriegsverbrechen. Und man möchte gar nicht mehr wiedergeben, was die Sprecherin der Bundesregierung dazu sagte, wie sie sich hinter fehlenden Erkenntnissen versteckte. Erst recht nicht, wie die meisten deutschen Medien berichten – von völliger Ausblendung des verbrecherischen Charakters der Tat wie bei der Tagesschau bis hin zur weder klammen noch heimlichen Freude der FAZ, die gleich begeistert über "Die spektakulären Aktionen der israelischen Geheimdienste" schreibt.

Vollkommen erwartbar also. Wie käme man auch dazu, jetzt plötzlich über Ärzte oder gar Kinder zu berichten, die bei diesem Anschlag umgekommen sind, das ist doch schon seit Monaten in Gaza keine Zeile mehr wert. Im Grunde geschieht im Umgang mit Israel exakt das Gleiche, was schon im Umgang mit der Ukraine geschah – wenn man vor der Bestialität die Augen verschließt, nähert man sich ihr stetig weiter.

Das ist unheimlich genug, aber dieser Terrorakt hat noch eine weitere Komponente, die weit über Israel, den Libanon und den ganzen Nahen Osten hinausreicht. Zum einen, weil es zwar bisher allerlei Vorfälle gab, bei denen technische Geräte zu Bomben gemacht wurden, um bestimmte Personen anzugreifen – jede Autobombe fällt unter diese Definition –, aber es der erste Fall ist, in dem eine ganze Kategorie technischer Geräte in eine Waffe verwandelt wurde, die extern gezündet werden kann. Unter völliger Vernachlässigung der Frage, in wessen Händen sich diese Geräte letztlich befinden.

Egal, welche Entschuldigung Israel dafür vorzutragen versucht (und das eben erst berichtete angeblich geplante iranische Attentat gegen Netanjahu wirkt deutlich wie ein Versuch, zumindest auf der Ebene der PR vom Thema abzulenken), es handelt sich um die Überschreitung einer Schwelle, die nur mit einem Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen verglichen werden kann. Oder, andersherum, das, was als Reaktion gefordert wäre, wäre eine internationale Ächtung einer jeden Anwendung dieser Methode.

Einzig, weil die meisten der betroffenen Geräte, Pager und Funkgeräte, nicht Teil des Alltags der meisten westlichen Menschen sind, die beides eher aus dem Museum kennen, wird die Bedrohlichkeit eines derartigen Vorgehens nicht sofort erkannt. Hätte es sich beim Träger der Sprengladung auch nur um das vorvorletzte i-Phone gehandelt, die Schlangen vor den Reparaturgeschäften, um das eigene Handy untersuchen zu lassen, wären gigantisch.

Nicht, dass China so etwas tun würde, aber nur, um die Folgen zu verdeutlichen: Was, wenn alle von dort in die USA gelieferten i-Phones auf ähnliche Weise präpariert wären? Um dann auf ein einziges Signal hin unter anderem den halben US-Kongress auszulöschen?

Selbst die Wahrnehmung der Risiken, die die digitalen Datenstaubsauger namens Google & Co. darstellen, steckt im Grunde noch in den Kinderschuhen. Die wenigsten denken bei der Nutzung ihres Smartphones daran, dass sie damit ständig ihren Standort verraten, und zwar gleich mindestens zwei Stellen – dem Netzbetreiber und dem Datenkraken, der im Betriebssystem sitzt. Auch das wurde schon oft genutzt, für US-Drohneneinsätze in Afghanistan beispielsweise. Aber da ist es noch nicht das Gerät selbst, das die Gefahr darstellt.

Treiben wir die hypothetische China-Geschichte noch ein wenig weiter. Wie ist das mit Smart-TVs, mit Smart Homes oder selbst mit handygesteuerten Saugrobotern? Wenn diese Tür einmal geöffnet ist und genug skrupellose Akteure existieren, könnte man nicht einmal mehr sicher sein, dass sich Kühlschrank und Waschmaschine in Sprengfallen verwandeln. Blind in den Markt gestreut und bestenfalls noch nach Land gefiltert.

Es gibt noch unzählige andere Optionen. Einige haben sich schon Gedanken gemacht, welche bösartigen Eingriffe die zunehmende Computerisierung von Fahrzeugen auslösen könnte, aber bisher drehten sich diese Gedanken allenfalls darum, dass durch einen Eingriff in das Betriebssystems eines Fahrzeugs extern ein Unfall ausgelöst werden könnte. Man dachte in den Dimensionen von Mordanschlägen, aber nicht in denen von Terrorismus. Inzwischen sind Kraftfahrzeuge sogar online, senden alles Mögliche an die Hersteller und holen Softwareupdates aus dem Netz. Was, wenn in Fahrzeugen verschiedenster Marken zeitgleich über das Funknetz ein Virus aktiviert würde, der die Steuerung blockiert?

Und welche Möglichkeiten gäbe es, noch Sicherheit zu erlangen, wenn ein derartiges Verhalten erst einmal üblich wird? Gibt es dann von jedem beliebigen Produkt eine besonders teure Spezialversion, bei der Produktion, Lieferung und Lagerung komplett überwacht sind? Muss man den neuen Staubsauger dann vor Inbetriebnahme erst einmal öffnen und auf Sprengstoffe prüfen? Verwandeln sich dann die Containerhäfen in hochmilitarisierte Sicherheitszonen?

Sobald man anfängt, das, was Israel im Libanon getan hat, in einer anderen Dimension zu denken, sobald man davon ausgeht, dass jede Art eines solchen "Durchbruchs" sich erst einmal verbreitet, erkennt man sehr schnell, dass hier ein Schritt getan wurde, der die Möglichkeit einer digitalen Zivilisation in den Grundfesten bedroht. Halbwegs sicher ist nur die Mechanik.

Dieser israelische Terrorakt ist vergleichbar mit dem ersten Einsatz chemischer und biologischer Waffen. Bei beiden ist es einigermaßen gelungen, ihre Verbreitung einzudämmen. Auch wenn die Tatsache, dass die Wirkungsrichtung nicht sicher zu berechnen ist, mit dazu beigetragen hat. Aber zuletzt sind alle Regeln, alle Vereinbarungen, die bestimmte Waffen ausschlossen oder ihre Verwendung streng begrenzten, erodiert. Überwiegend unter aktiver Mithilfe der Vereinigten Staaten, nur so nebenbei. Man denke nur an die Lieferung von Clustermunition an die Ukraine, verbunden mit deren Einsatz gegen die Zivilbevölkerung. Oder an die Theorien über den künstlichen Ursprung von COVID-19 in einem US-Biolabor in Wuhan.

Die Verwandlung von Gebrauchsgütern in Waffen, wie sie gerade im Libanon stattgefunden hat, gab es zwar zuvor in Einzelfällen immer wieder; aber nicht dergestalt, dass in die Lieferkette eingegriffen wurde, um ins Blaue hinein einfach mal alle Nutzer eines bestimmten Produkts zum Ziel zu nehmen. Nicht mit eingebauter Fernzündung. Die Folgen, wenn auf diese Handlung keine Reaktion aus der berüchtigten "internationalen Gemeinschaft" erfolgt, also vor allem aus dem kollektiven Westen, sind unabsehbar.

Die Aussichten dafür sind allerdings denkbar schlecht. Nach mehr als zehn Monaten live dokumentierten Genozids in Gaza stehen nach wie vor die meisten westlichen Staaten treu zu Israel. Es ist die Adresse des Täters, die sie auch diesmal davon abhalten wird, auch nur ansatzweise zu erkennen, welche Büchse der Pandora da geöffnet wurde. Ganz zu schweigen davon, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um sich selbst und ihre Bevölkerung vor derartigen Angriffen zu schützen. Weil der technische Aufwand für einen materiellen Schutz so ungeheuer hoch wäre, bleibt nämlich als einzige Möglichkeit eine klare Verurteilung dieses Angriffs, einschließlich, und das ist absolut entscheidend, einer Reaktion, die mit einbezieht, dass wir hier von einer Handlung reden, die mit dem ersten Einsatz chemischer Waffen vergleichbar ist.

Wer es sich unbedingt antun will, mag einen Blick auf das qualvolle Gestammel der Regierungssprecherin werfen, um zu erkennen, wie weit wir davon entfernt sind.

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