Von Konstantin Kossatschow
Mario Draghi, ehemaliger italienischer Ministerpräsident und langjähriger Chef der Europäischen Zentralbank, stellte gestern die Thesen eines umfangreichen (400-seitigen) Berichts über die Zukunft der europäischen Wirtschaft mit dem Titel "Die Wettbewerbsfähigkeit der EU: Blick in die Zukunft" vor.
Doch bevor sie in die Zukunft blicken, beschreiben die Berichtsautoren die Gegenwart, und die sieht nach ihrer Version fast katastrophal aus. Um das Ausmaß des Problems zu verstehen: Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU (eigentlich die EU selbst) in den kommenden Jahren aufrechtzuerhalten, sind "mindestens (!) zusätzliche (!) Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro" erforderlich, was etwa 4,4 bis 4,7 Prozent des EU-BIP im Jahr 2023 entspricht. Zum Vergleich: Die Investitionen im Rahmen des berühmten Marshall-Plans von 1948 bis 1951 lagen bei ein bis zwei Prozent des BIP.
Wie konnte die EU also in diese Lage geraten? Es wurde viel gesagt: die Verlangsamung des Welthandels, die Konkurrenz seitens Chinas und des engsten EU-Verbündeten, der USA. Doch das Wichtigste wurde nur am Rande erwähnt: "Unseren Hauptlieferanten für billige Energie – Russland – haben wir verloren."
Wie kam es dazu? Handelt es sich um eine Art spontanen Prozess, oder ist jemand eigens dafür verantwortlich? Offenbar wollte jemand so sehr NATO-Schiffe in Sewastopol und Raketen in Charkow sehen, dass man glaubte, Moskau würde alles "schlucken".
Es stellte sich jedoch heraus, dass alle diese "Strategen" die Abhängigkeit Russlands von der EU drastisch überschätzt und ihre eigene Abhängigkeit von Russland unterschätzt hatten. Nicht weniger als der Marshall-Plan war unser Land Mitautor des langfristigen "Wirtschaftswunders" Europas, seines Wohlstands und Fortschritts, nur zog man es vor, dies nicht zu bemerken. Stattdessen übertrieben sie immer wieder die eigenen Verdienste und "Schritte gegenüber" der UdSSR und Russland.
Allerdings waren alle diese Schritte für die Europäer selbst maximal vorteilhaft, aber die Abwertung der Rolle Russlands in ihrer Wirtschaft hatte katastrophale Folgen. "Es hat sich herausgestellt", wie Draghi zugibt, dass Europa nicht wettbewerbsfähig sein könne, wenn es viermal so viel für Energie zahle wie seine Konkurrenten, und wenn die Strompreise zwei- bis dreimal und die Erdgaspreise vier- bis fünfmal so hoch seien wie in den USA. Meiner Meinung nach hätte man sich nicht ein ganzes Jahr lang mit dieser Problematik befassen müssen, sondern sie den Wirtschaftsstudenten im ersten Studienjahr zuweisen können. Die Frage ist eine andere: Warum habt ihr das nicht im Voraus kalkuliert, als ihr auf Geheiß der USA in den Ukraine-Konflikt hineingezogen wurdet und freiwillig auf billige Ressourcen verzichtet habt?
Leider enthält der Bericht keine vernünftigen Schlussfolgerungen. Im Gegenteil: Man müsse die Militärausgaben erhöhen und – trotz der noch höheren Ausgabenbelastung – in den "grünen Wandel" investieren. Nötig sei eine echte "Außenwirtschaftspolitik" zur Ressourcensicherung, also die "Arbeit" mit Drittländern, in denen es Bodenschätze gibt. Denn, so beklagt Draghi, die Hälfte der EU-Importe komme aus Ländern, zu denen die EU "keine strategischen Beziehungen" habe.
Wäre es aber nicht sinnvoller, bereits bestehende strategische Beziehungen zugunsten geopolitischer Spielchen nicht abzubrechen?
Generell schlägt der Bericht wirtschaftliche und bürokratische Wege vor, um das von den Politikern verursachte Problem zu lösen. Aber diese "Heilmittel" werden nicht wirken, ohne die Ursachen zu bekämpfen.
Konstantin Kossatschow ist Vize-Vorsitzender des Föderationsrates der Russischen Föderation.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 10. September 2024 zuerst auf vz.ru erschienen.
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