Genozid an den Russen in Österreich-Ungarn jährt sich zum 110. Mal – Wird Russland daran erinnern?

Die Ermordung Zehntausender "Russophiler" in Ostgalizien während des Ersten Weltkrieges hat trotz des Ukraine-Krieges keinen Platz in der russischen Erinnerungspolitik. Dabei bietet das Thema vor allem im Hinblick auf die politische Umgestaltung der Ukraine und künftige Krisenpräventionen in Osteuropa sehr viele Möglichkeiten.

Von Wladislaw Sankin

Am 4. September 1914 hatte das Zivilisten-Internierungslager Thalerhof nahe des österreichischen Graz seine Pforten für kommende Insassen geöffnet. Dieses Datum steht symbolisch für den Beginn eines der größten und bis jetzt unbekanntesten Kriegsverbrechen des Ersten Weltkriegs – die Vertreibung und den Terror gegen die russischen Galizier (auch Ruthenen, Karpatorussen oder Russynen genannt), die sogenannten "Russophilen" in der damaligen Provinz Österreich-Ungarns Ostgalizien.

Zu dieser Zeit wütete auf dem Territorium Ostgaliziens bereits der Terror gegen tatsächliche und vermeintliche "Russophile". Allein zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden ungefähr 30.000 Galizier wegen der vermeintlichen Spionage für Russland ohne Gerichtsverfahren durch Erhängen hingerichtet, wobei an dem Mord nicht nur die Offiziere der habsburgischen Armee, sondern auch antirussophil gesinnte Zivilisten, die sogenannten "Ukrainophilen" beteiligt waren. 

Die Hinrichtungen wurden von Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen begleitet, infolge derer Zehntausende Zivilisten über Monate und Jahre in verschiedenen Internierungslager untergebracht waren. Mehrere Tausend von ihnen starben durch Hunger und Seuchen, bis zu 5.000 davon im Thalerhof. In Lager gebracht wurden alle, die verdächtig waren, mit Russland zu sympathisieren, die orthodoxen Glaubens waren, und diejenigen, bei denen Bücher oder Zeitungen in russischer Sprache gefunden wurden. 

Die Lagerbedingungen im Thalerhof waren so katastrophal, dass man das Lager nicht ohne Grund als Vorbote der NS-Konzentrationslager betrachtet und die Repressionen gegen russische Galizier als ersten modernen Genozid in Europa wertet. Das Wort "Thalerhof" wurde zum Symbol des Martyriums der Karpatorussen aus Galizien, Transkarpatien und Bukowina. So beschrieb Wassili Wawrik, einer der Gefangenen, die das Grauen von Thalerhof überlebten, das Lager folgendermaßen: 

"Bis zum Winter 1915 gab es im Thalerhof keine Baracken. Die Menschen lagen bei Regen und Frost auf dem Boden unter freiem Himmel. Glücklich waren diejenigen, die ein Tuch über sich und ein Stück Stroh unter sich hatten. Bald wurde das Stroh weggeschwemmt und mit Schlamm vermischt, der von Schweiß und Tränen der Menschen getränkt war. Dieser Schlamm war der beste Boden und eine reichhaltige Nahrung für unzählige Insekten. Läuse nagten sich durch den Körper und kauten sich durch die Ober- und Unterbekleidung. Der Wurm vermehrte sich extrem schnell und in außerordentlicher Zahl. Das Ausmaß der Parasiten, die sich von den Säften der Menschen ernährten, war ungeheuerlich (zahllos). Kein Wunder also, dass die Kranken nicht in der Lage waren, sie zu bekämpfen. Priester John Maschak notierte unter dem Datum des 11. Dezember 1914, dass 11 Menschen von Läusen einfach zu Tode genagt wurden ..."

Die Genozid-These wurde in der europäischen Forschungsliteratur zwar weitgehend verworfen. Es handle sich viel mehr um eine Kriegspsychose mit "Präventiv-Charakter", heißt es in einem Artikel bei Studi Slavistici. Dennoch ist man in Russland und in der Gemeinschaft der Karpatorussen in Nordamerika überzeugt, dass systematischer Terror gegen Galizier das Kriterium für Völkermord im modernen Sinne des Wortes erfüllt. Dabei wird das Verbrechen auch nationalistisch gesinnten "Ukrainern" zu Last gelegt. Ethnische Grenzen waren in Ostgalizien und Bukowina verschwommen und die Identifikation mit dem "Ukrainetum" war damals nicht der Ausdruck der Ethnizität, sondern viel eher eine politische Geste. 

Russische Publizisten weisen dabei auf aggressives und denunziatorisches Vorgehen der damaligen Verfechter der ukrainischen Idee hin. Sie waren von österreichischen Behörden seit Mitte des 19. Jahrhunderts für antirussische Zwecke instrumentalisiert worden. Die prorussischen Menschen in Galizien wurden auch von der von Österreich geförderten Polonisierungspolitik unter Druck gesetzt. Eine solch hohe Opferzahl wäre ohne ukrainisches Denunziantentum jedenfalls nicht möglich gewesen. Die Denunzianten bekamen für einen Tipp von der österreichischen Verwaltung bis zu 150 Kronen und legten Behörden ganze Listen mit den Namen von Tausenden verdächtigter "Russophilen" vor. 

Erinnert man in Russland an das Verbrechen? Schön wärs! 

Die Repressionen und Zwangsumsiedlungen werden in Russland als ein "Russen-Genozid" gedeutet, an dem die "Ukrainophilen" schuld seien, merkt Historiker Egor Lykow in einem 2018 erschienenen Artikel an. "Die komplizierten Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern haben das Opfernarrativ der "russophilen" Ruthenen längst zu einem Politikum gemacht, mit dem – auf der 'Geschichte' beruhend – aktuelle politische Ziele Russlands zum Ausdruck gebracht werden", so Lykow. 

Das ist nicht ganz richtig. Zum Vergleich: Zum Politikum haben die polnischen Behörden die Katyn-Morde gemacht und die ukrainische Hungersnot in den Jahren 1932/33, der sogenannte Holodomor. Diese Narrative mit Anklage Moskaus als zentrales Motiv werden von den staatlichen Instituten für Nationales Gedächtnis (in Polen und Ukraine werden diese Einrichungen gleich genannt) und einer riesigen Schar aus westlich finanzierten NGOs aufrechterhalten. Parlamente in verschiedenen Ländern werden von Ukraine-Lobbyisten genötigt, den Holodomor offiziell als Völkermord anzuerkennen – vielerorts mit Erfolg. 

In Russland findet nichts dergleichen statt. Offiziell wird in Russland an das genozidale Verbrechen, dem bis zu 60.000 russischer Galizier zum Opfer fielen, kaum erinnert. Hin und wieder wird es zum Thema in Fernsehbeiträgen oder Aktivisten-Blogs, allerdings ohne große gesellschaftliche Resonanz. Am Mittwoch erinnerte der Publizist und Buchautor Wladimir Kornilow in einer politischen Talkshow beiläufig an das Verbrechen. Dazu schrieb er polemisch auf Telegram: 

"Hat irgendjemand in Europa damals oder später über diesen schrecklichen Akt des Völkermordes aus nationalen und religiösen Gründen geklagt? Keineswegs! Es waren russische Menschen! In diesem Jahrhundert hat sich an der Einstellung des 'aufgeklärten' Europas nichts geändert!"

Diese Lähmung im russischen historischen Gedächtnis ist Teil des sowjetischen Erbes. Die Erinnerung an die Ermordung und Vertreibung der prorussischen Intellektuellen und Bauernbevölkerung in Ostgalizien war in der sowjetischen Ukraine verboten. Denn offiziell gab es in der Ukraine keine Russen, auch in der Vergangenheit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 fühlten sich weder russische noch ukrainische Behörden für die Toten zuständig und sahen Österreich nicht in der Pflicht, mehr für die Aufarbeitung der österreichischen Gräueltaten zu unternehmen. Die Region Galizien in der heutigen Westukraine gilt in Russland seit langem als Hochburg des ukrainischen faschistoiden Nationalismus und wird dortigen "Banderisten" hoffnungslos überlassen. Auf den Karten einer künftigen "russischen" Ukraine nach der russischen Spezialoperation ist Galizien wie auch andere Teile der Westukraine nicht aufgezeichnet. 

Während der Blütezeit ihrer Bewegung sahen sich die russischen Galizier als Erben des mittelalterlichen Galitsch-Rus und träumten über die Wiedervereinigung mit dem Russischen Reich. Schon damals setzten sich die zentralen russischen Behörden für die Rechte der russischen Bevölkerung in Österreich-Ungarn nicht entschieden genug ein. Man dachte das Problem auszusitzen und wollte zudem die Regierung in Wien mit einer Einmischung nicht zu sehr verärgern. Hundert Jahre später wiederholte sich diese Geschichte im Südosten der Ukraine und im Donbass – also in den an Russland angrenzenden Regionen. Das mit NATO-Bewaffnung militant-aggressive Anti-Russland steht nun unmittelbar vor der russischen Tür und schmiedet Pläne zur Zerteilung des Vielvölkerstaates.  

Die Akzeptanz der Existenz einer ukrainischen Nation, deren Erschaffung im Wesentlichen auf Gewalt und Anbiederung an fremde Akteure beruht  – seien es Polen, Österreicher, Deutsche oder Amerikaner, lähmt die russische Politik. Es ist angebracht, über die Träger der ukrainischen Sprache, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kleinrussische Mundart war, als über eine Sub-Ethnie der großen russischen Nation innerhalb des russischen Vielvölkerstaates zu sprechen. Die Rede ist nicht von einem Geno- oder Ethnozid, sondern von der Integration und Überwindung der künstlichen Grenzziehungen zwischen den Teilen einer Kulturnation.

Die Scheu vor "Ukrainismus" müsste deshalb primär in Moskau überwunden werden. Erst nach der Ermordung und Vertreibung der Russen in Galizien und der Umdeklarierung der Restbevölkerung zu Ukrainern wurde es möglich, aus der ehemaligen prorussischen Provinz Österreich-Ungarns die Hochburg des ukrainischen militanten Nationalismus zu schmieden. "Ukrainismus" müsste im Hinblick auf die historische Erfahrung als eine extremistische und gewaltorientierte politische Tradition eingestuft und verboten werden, was zum Teil schon geschieht. 

Ausgerechnet im Nest dieses "Ukrainismus" in Lwow, Iwano-Frankowsk und Ternopol – in den galizischen Kernregionen der heutigen Westukraine muss das russische Galizien wiedergeboren werden. Sonst sind Russen und die abtrünnigen Ukrainer dazu verdammt, im blutigen Bruderzwist unter sorgfältiger "Aufsicht" fremder Mächte einander bis auf die Ewigkeit zu bekriegen. 

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