Von Wladislaw Sankin
Mir liegt freilich fern, meinen lieben deutschen Mitbürgern Idiotie und Propaganda-Anfälligkeit zu unterstellen. Um Gottes willen! Die Menschen um mich herum haben die gleichen geistigen Kapazitäten wie ich und das gleiche Recht auf ihre Meinung. Auch haben sie ein Recht auf ihre Fehler (und folglich auf die Konsequenzen aus diesen Fehlern). Doch zahlreiche Gespräche über Politik, die ich berufsbedingt in den vergangenen Monaten auf den Straßen geführt habe, machen mich stutzig, manchmal sogar sprachlos. So bar jeglicher Logik und zusammenhangslos erscheinen mir manche Aussagen.
"Ich habe über die Ukraine-Hilfe lange nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es logisch ist, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen", teilt mir ein Tourist aus Niedersachsen in der Erfurter Innenstadt mit. "Auch wenn die Ukraine ihrerseits Russland überfällt und Russland mit Langstreckenwaffen angreift?" – "Das spielt keine Rolle", erwidert mein Gesprächspartner. Nach seiner Vorstellung muss der "Aggressor" des angegriffenen Landes bestraft und besiegt werden, und wenn das auf seinem Territorium passiert – umso logischer.
Allerdings dürfte für meinen zufällig ausgewählten Gesprächspartner kein Geheimnis sein, dass in diesem Fall sehr wahrscheinlich die russische Nukleardoktrin greifen würde. Ein so umfassender Stellvertreterkrieg, wie er in der Ukraine geführt wird, ist kein Fußballspiel, wo nach dem Abpfiff des Schiedsrichters ein Unentschieden verkündet werden kann. Logik, wenn sie nicht zu Ende gedacht wird, verwandelt sich in ihr Gegenteil. Und es war nicht die einzige derartige Aussage, die bereits zuvor in Berlin von befragten Passanten fast 1:1 wie am Wahltag in Erfurt getätigt wurde.
Am Wahltag gab es aber auch andere Gesprächspartner, die die Fähigkeit besaßen, die Eskalationsgefahr dieser Logik zu erkennen und sie waren sogar in der Mehrheit. Doch auch diese Menschen werden von "Framings", Auslassungen und "Narrativen" vernebelt, was sie zum Teil sogar selbst zugeben. Zur Nordstream-Sprengung sagen sie etwa, alles sei nur Spekulation und sie hätten keine Ahnung, ob die Ukraine oder ein anderer Akteur aus dem Westen als Saboteur infrage komme. Die erste Kontrollfrage bei einer Ermittlung – "Wem nutzt es?" – können sie nicht beantworten oder sie trauen sich nicht, darüber vor einer Kamera zu spekulieren.
Die Ukraine wollen sie auf keinem Fall verdächtigen und das wohl nicht deshalb, weil sich eine von ukrainischen Tauchern gemietete Hobby-Jacht zu einer Sabotage solchen Ausmaßes eigentlich kaum eignet. So mancher sieht viel eher Russland hinter dem Anschlag, und dabei handelt es sich um Leute mit akademischem Hintergrund. Wenn ich diesen Menschen sage, dass russische Unternehmen die 7,2 Milliarden Euro teure Pipeline Nord Stream 1 zur Hälfte finanziert haben, um damit künftig stabile Gewinne durch den Verkauf von Gas zu für den Abnehmer günstigen Preisen zu erzielen, entgegnen sie mit der Bemerkung, dass Putin verrückt und ihm alles zuzutrauen sei.
So wie ein älteres Rentnerpaar, CSU-Wähler aus Franken, die sich nach dem Besuch des Erfurter Mariendoms mit mir nett unterhielten, bis ich gesagt habe, dass der Erfolg der AfD etwas mit der Ukraine-Politik zu tun hat. Diese Grundsatz-Annahme haben sie noch bejaht. Dann führte ich aus, welche Positionen diese Partei eingenommen hat – Handel mit Russland: gut, Gas aus Russland: gut, Waffenlieferungen an die Ukraine: schlecht. "Den Fehler hat Merkel vorher schon gemacht, sich von Russland abhängig zu machen. Wir haben gedacht, Billiggas für die Industrie …", sagte der Mann sichtbar verwirrt. "Und Putin hat es voll ausgenutzt", fügte seine Frau hinzu, um das Gespräch zu beenden. Offenbar wurde es für das Paar langsam ungemütlich bei dem Gespräch, in dem man zu viel nachdenken und womöglich lange eingeübte Meinungsmuster hinterfragen musste.
"Wir, friedliebende Menschen, sind von bösen Mächten umstellt, die uns nur schaden wollen", lautet der Grundgedanke jeder politischen Propaganda. Das gilt systemunabhängig sowohl für das Dritte Reich als auch für eine liberale Demokratie. Handel zum gegenseitigen Nutzen zu betreiben erscheint aus dieser Perspektive als hinterhältige List eines Feindes, der nur auf einen günstigen Moment lauert, gegen uns, die "Guten", loszuschlagen.
Die Schlaueren sind jedoch in der Lage zu erkennen, dass sie mit manipulativen Informationen hintergangen werden. "Was hier betrieben wird, ist Desinformation", beklagt sich ein alteingesessener Erfurter. Als Informatiker sei er ein Fachmann auf diesem Gebiet. Bei zu strittigen, zu schwierigen Fragen, wie der der militärischen Hilfe für die Ukraine, flüchtete er sich in Pauschalisierungen: Es sei auf beiden Seiten ein falsches Spiel betrieben worden, sowohl auf der europäischen als auch auf der russischen Seite. Zugleich räumte er ein, dass er zu all dem zu wenig Informationen habe. Es sei halt Krieg, und da sterbe die Wahrheit als erstes. In das "Ich-weiß-es-nicht" zu fliehen, ist auch eine häufig angewendete infantile Strategie, die dabei hilft, die bestehenden Verhältnisse nicht in Frage stellen zu müssen.
So oder ähnlich denken sehr viele, selbst jene, die sich als links oder kommunistisch bezeichnen. Ihr Dogma sagt ihnen, wenn Russland kapitalistisch ist, dann muss es auch automatisch imperialistisch sein. Auch Russland diktiere anderen Ländern ihre Politik, genauso, wie es die USA tun, war etwa Argument eines kommunistisch gesinnten Erfurters. Womit diktiert denn Russland jemandem etwas, wenn es auf Sanktionen als außenpolitisches Druckmittel grundsätzlich verzichtet und nur als Gegenmaßnahmen einführt, wollte ich wissen. Mit billigem Gas, um Abhängigkeiten aufzubauen und den Abnehmer dann zu erpressen? Nein, lautete die Antwort, das billige Gas sei gut, egal, ob es von einem russischen oder ukrainischen Oligarchen kommt, und ob ein deutscher Großkapitalist daran mitverdient.
Über so viel Vernunft freute ich mich. Denn nach Bemerkungen wie "Ich bin Pazifist, aber finde trotzdem die Ausrüstung der Ukraine mit westlichen Waffen gut", klingt so eine Antwort wohltuend. Selten verwickle ich meine Gesprächspartner in eine Diskussion, denn dann laufe ich Gefahr, ihnen meine Meinung zu diktieren, wo es eigentlich nur um ihre Meinung geht. Aber meine Nachfragen ließen manche aufhorchen, und die Menschen fragten verdutzt: "Von welchem Sender sind Sie denn?"
Natürlich drückt die für die Öffentlichkeit vorgetragene Äußerung nicht unbedingt die im Inneren verborgene eigene Meinung aus. Das kann nur das gern gesehene "Ich" sein, das anders ist als ein "Ich" beim vertraulichen Stammtischgespräch. Das Rentnerpaar aus Franken, das das Gespräch beendete, sobald Putin zum Thema wurde, ging nicht weg und redete bei ausgeschalteter Kamera weiter. Ich habe gespürt, dass die beiden netten Mittsiebziger doch schon etwas umtreibt und dass sie Angst vor der Zukunft haben. Diese Vermutung hat sich am Ende als wahr herausgestellt. Ich stellte fest, dass man mit diesen Fremden über alles offen reden kann und sie auch meine Wahrheit ertragen würden. Aber es war schon zu spät und wir verabschiedeten uns.
Auch wegen solcher Momente liegt mir fern, die Bürger dieses Landes verächtlich zu machen. Selbst dann, wenn sie mir sagen: "Jetzt hören Sie mal zu, wir müssen Putin auf die Finger hauen!" Oder wenn vermeintliche Pazifisten unverständlich die Stirn runzeln, sobald ich sie an die von den deutschen Nazis und ihren Helfershelfern getöteten 27 Millionen sowjetischen Bürger erinnere. "Was hat das denn mit dem russischen 'Angriffskrieg' zu tun?" Denn neben offenen Freunden Russlands sind auch sie Teil dieser Gesellschaft und Teil dieser politischen Nation.
Denn diese Millionen politischen "Ichs" bilden das Ganze, und nicht die verborgenen Stammtisch-Weisheiten. Die nach außen getragene Persönlichkeit zählt, jene Persönlichkeit, die bei der Karriere, am Arbeitsplatz oder im Nachbarschaftsverein hilft und nicht etwas, was man heimlich zu denken hat. Und eine Stimme für die CDU, aus Protest gegen die Ampel oder aus bloßer Gewohnheit, zählt genauso wie wenn man die CDU oder CSU aus Überzeugung wählt. Ungeachtet des eigenen Motivs hilft man damit in allen Fällen noch schlimmeren Kriegstreibern vom Schlage Webers oder Kiesewetters an die Macht.
Fakt ist: Aus welchen Gründen auch immer, aber immerhin ein Drittel der Wähler in Sachsen hat für die CDU gestimmt und diese Partei hat die Wahl gewonnen; jene Partei, die mit der Aufstellung des Kampfboxers Klitschko für einen Regime-Change in der Ukraine die internationale Ukraine-Krise ins Rollen gebracht hat. Die Krise, die nun mit einem nicht enden wollenden Krieg endet.
Würde der angeblich so russlandfreundliche Osten dem bis ins Bodenlose verlogenen Satz, die NATO sei das größte Friedensprojekt der Geschichte – vorgetragen von einem CDU-Politiker im Zuge der Polemik gegen Sahra Wagenknecht –, zustimmen? Sehr unwahrscheinlich, wenn er dem Satz genau zugehört hätte. Aber viele hören nicht genau zu und stimmen mehrheitlich für die CDU.
Oder für die CSU und Markus Söder, trotz ihrer scharfen Selenskij-Kritik und ihrer Haltung gegen Waffenlieferungen für die Ukraine, wie eine in Bayern lebende ältere Thüringerin das tut. Diese Positionen seien für sie letztendlich nicht wahlentscheidend. Was denn wahlentscheidend sei, habe ich nicht mehr nachgefragt – wir redeten ohnehin schon lange genug. Das ist wahrscheinlich nur das vorgegebene "Ich", der schiere Konformismus eines Kleinbürgers, der im Endeffekt nur in Ruhe gelassen werden will – alle wählen, also tue ich das auch.
"Die Verwüstung findet immer im Kopf statt." Dieses berühmte Zitat aus dem Gespräch des Professors Preobraschenkij mit seinem Assistenten Blumental in Bulgakows "Hundeherz" sind geflügelte Worte im Russischen. Wir sollten uns davor hüten, in den Menschen nur hilflose Propaganda-Empfänger zu sehen. Sie werden von der Propaganda weder berieselt noch besudelt. Vielmehr finden sie in ihr, was sie selbst suchen: Eine Beruhigungs-Pille von der Realität. In Deutschland gibt es Hunderte und Tausende sprechende Köpfe, die täglich den Menschen im Sinne der NATO-Propaganda etwas über Russland und die Ukraine erzählen und sie gehen in dieselben Geschäfte, in dieselben Cafés und in dieselben Veranstaltungshallen, auch sie sind das Fleisch und Blut dieser Gesellschaft.
Ein in links-sozialistischen Kreisen bekannter Journalist und Buchautor merkte vor Kurzem an, dass er den SPD-Sekretär Kevin Kühnert in einer McDonalds-Filiale an einer S-Bahn-Station getroffen hat. Diese Unprätentiösität eines politischen Prominenten hat ihn beeindruckt. Ich selbst konnte per Zufall zweimal Anton Hofreiter bei völlig alltäglichen Dingen des Lebens und auch sehr volksnah erleben: auf dem Bahnhof mit Kinderwagen und in einem schäbigen Biergarten mit Parteikollegen. Und eine nahe Angehörige meiner Familie ging einmal mit Christian Lindner in denselben Friseursalon – wo er seine Fingernägel pflegen ließ. Auch darin ist er Teil aller aktuellen Schönheitstrends und damit der ganzen Gesellschaft.
Diese Politiker und Fernsehköpfe, die Deutschland langsam, aber unaufhörlich in den Krieg gegen Russland treiben, sind Teil von uns. Wenn man daran etwas verändern will, muss man zuerst bei sich selbst anfangen.
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