Vor 30 Jahren verließen die letzten russischen Soldaten deutschen Boden – Berliner Bürger erinnern

Die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland war einst der mächtigste Militärverband der Welt. Am 31. August 1994 verließen die letzten Soldaten dieser Gruppe Deutschland. Die deutschen "Gastgeber" zeigten den Russen schon damals die kalte Schulter.

Von Wladislaw Sankin

"Lassen Sie mich die Aufmerksamkeit auf ein weiteres Datum legen. Am 31. August jährt sich der Abzug der legendären Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte zum 30. Mal, und wie wir wissen, war dies ein Fehler der damaligen Führung." Eine Gruppe aus knapp 20 Personen steht im Berliner Treptower Park am unteren Ende der Treppe, die zum Befreier-Denkmal führt. Die meisten der Anwesenden sind ältere Deutsche, einer von ihnen liest die Übersetzung einer kurzen Rede vor:

"Die Früchte dieses Fehlers ernten wir jetzt mit unseren Tränen und mit Blut, mit dem Verlust der Angehörigen und Verwandten. Wir müssen uns erneut der Aggression und dem Revanchismus des Westens entgegenstellen und kämpfen, um unsere Interessen zu verteidigen, die Grenzen unseres Vaterlandes und die Leben unserer Angehörigen zu schützen".

Die Anwesenden nicken. Als der Redner sagt, dass auch diesmal der Sieg auf "unserer Seite" sein wird, applaudieren sie. Das Treffen hat Oleg Eremenko, der Leiter der deutschen Außenstelle des Vereins "Offiziere Russlands" organisiert und er hat diese Worte geschrieben. Hier in Berlin hat er ehemalige NVA-Offiziere um sich versammelt. Lange Zeit hat man sie als "Ewiggestrige" verspottet, die der DDR und der deutsch-sowjetischen Freundschaft nachtrauern. Heute sollte man vorsichtiger sein mit dieser Einschätzung. Die bittere Realität, die sich täglich in der Verlegung schweren Militärgeräts über deutsche Bahnhöfe und Autobahnen in Richtung Osten zeigt, holt immer mehr Menschen ein.

In Russland ist es unbestritten, dass die Politik der "Entspannung", die Gorbatschow Mitte der 1980er-Jahre einleitete und die Jelzin fortsetzte, ein gewaltiger Fehler war. Oder einfach nur Wahnsinn. Mit einer halben Million Soldaten, etwa 5.000 Panzern, bis zu 10.000 gepanzerten Fahrzeugen, etwa 1.500 Flugzeugen und Hubschraubern sowie einer ungeheuren Menge an Munition war die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland mit eigenen Schulen, Fabriken und Sportanlagen in der DDR ein Staat im Staate. Im Falle eines bewaffneten Konflikts wäre sie in der Lage gewesen, innerhalb kürzester Zeit die NATO-Gegner auf westlicher Seite zu überrollen und bis zum Atlantik vorzustoßen.

Diese ungeheure Macht erlaubte es den sowjetischen Bürgern, ein friedliches Leben zu führen, ohne sich um die Meinung Washingtons zu scheren, und europäische Politiker, die über die UdSSR sprachen, wägten jedes Wort sorgfältig ab. Dafür haben seinerzeit 27 Millionen sowjetische Bürger mit ihrem Tod bezahlt. Und plötzlich wurde dieser geopolitische Vorteil innerhalb kürzester Zeit abgewickelt, ausverkauft, vernichtet.

Dieser Verlust hatte auch einen materiellen Wert. Die Immobilien der Deutschen Gruppe mit einem Gesamtwert von 28 Milliarden Dollar wurden zum Teil demontiert und evakuiert, zum Teil an kommerzielle Organisationen und die deutsche Bundesregierung übertragen. Oft aber wurden sie einfach den Kräften der Natur überlassen. Für mehr als 21.000 Gebäude in fast 800 Militärlagern haben die deutschen Behörden statt der angegebenen 7,35 Milliarden Dollar nur 385 Millionen Dollar bezahlt.

Deutschland, das nach einer treffenden Bemerkung der westdeutschen Autorin und Zeitzeugin Gabriele Goettle "die Kleider gewechselt hat", habe den Russen einen "Abschied in Würde" verweigert. In ihrer Reportage vom Juni 1994 stellte sie fest: Der Bund hatte in seinem Haushalt für das Jahr der Verabschiedung 1994 alle Gelder für "kulturelle und gesellschaftliche deutsch-russische Kontakte" gestrichen. Um ihre Erniedrigung irgendwie zu kaschieren, haben die Russen selbst überall, wo sie stationiert waren, Abschiedsfeste organisiert und die Deutschen eingeladen. Auf eigene Kosten, während ihr Land nach den "Reformen" zur Überführung zu Marktwirtschaft, in bittere Armut stürzte.

Die Hauptzeremonie zum Abschied fand schließlich am 31. August im Treptower Park statt. Kanzler Helmut Kohl empfing Präsident Boris Jelzin mit militärischen Ehren, wobei Jelzin sturzbetrunken war. Offenbar konnte er die Schmach seines Landes nicht überwinden, lautet hierzu eine wohlwollende russische Erklärung. Jedenfalls war seine Betrunkenheit in einem Moment, da die Augen der ganzen Welt auf ihn gerichtet waren, das eindrücklichste Dokument für den geopolitischen Absturz Russlands.

Ein Reporter einer damals populären russischen Nachrichtensendung stellte an diesen Tagen nüchtern fest: "Ein Soldat in stalinistischer Uniform hält ein gerettetes Mädchen in seinen Armen. Es stimmt, dass man in der Durchführung der Zeremonie hier eine Fortsetzung der Allegorie sehen kann. Das Mädchen wird erwachsen und will, dass ihr Befreier nun geht."

Die Soldaten gingen, der bronzene Befreier blieb stehen. Seine edle Figur ist auch heute der Anziehungspunkt für Abertausende Menschen guten Willens, den in Europa Frieden wollen. Viele von ihnen durchschauen die geopolitische Realität und wünschen sich diesen Befreier heimlich zurück. Nicht als einen Sieger, sondern als Menschen. Denn sie wissen, dass die "Sieger" die "Besiegten" auf menschlicher Ebene auf Augenhöhe behandelten und mit ihnen Freundschaften, wo es nur möglich war, knüpften. Und die "Besiegten" zahlten mit gleicher Münze zurück.

Das wusste man auch in Russland und überall auf dem Gebiet der Ex-UdSSR sehr wohl. Der Freund meines Vaters, ein Oberstleutnant auf dem Stützpunkt in Stendal, hat der Stadt nach einem großen Strom-Ausfall entgegen den Befehlen seiner Vorgesetzten Diesel-Generatoren geliehen. Der deutsche Oberbürgermeister bat ihn darum, denn zumindest die Krankenhäuser mussten ununterbrochen versorgt werden.

Anfang der 2000er Jahre kam er als Tourist nach Deutschland zurück, kaufte sich einen Gebrauchtwagen und fuhr nach Stendal, um seine deutschen Freunde von damals zu treffen. Nach 30 Jahren traf er zum Glück noch einige; andere waren bereits tot. Auch der Oberstleutnant Schejko, der auch über Schreibtalente verfügt, könnte durchaus der Autor jenes Lieds werden, das am Tag des Abschieds am 31. August vom russischen Armeechor gesungen wurde. Das Lied heißt "Lebe wohl, Deutschland".

Und dieses von Soldaten geschriebene Lied ist nicht vergessen. Oleg Eremenko nimmt nach seiner Rede einen Lautsprecher in die Hand, verknüpft ihn mit seinem Smartphone und es ertönt wieder im Treptower Park (Übersetzung nach einem Artikel der Taz):

"Lebe wohl Deutschland, lebe wohl / Wir verabschieden uns nun und erwarten die Umarmungen der Heimat / Erinnert euch an uns, an die Soldaten der russischen Armee, die die Welt von der braunen Pest befreit haben / Lebe wohl, Deutschland, lebe wohl / Uns erwartet nun das liebe Vaterland / Der Brand des Krieges ist seit Langem gelöscht, und wir verabschieden uns heute in Freundschaft."

Refrain: "Empfange uns, Heimat, alle / Lebe Land und blühe / Wir haben unsere Pflicht bis zum Ende erfüllt, jetzt schlagen unsere Herzen für Russland / Es werden uns die geliebten russischen Birken empfangen, Tau wird auf ihren Blättern funkeln. Die Mutter wischt heimlich Freudentränen fort, es leuchten die Augen des Mädchens / Wir gehen, doch unsere Lieder bleiben / In ihnen lebt eine einfache russische Seele / Mögen sie von Herz zu Herz fließen und davon erzählen, wie Russland gut ist."

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