Von Anton Gentzen
Wahrscheinlich hat ein weltlich geprägter Mensch, zumal wenn er sich nicht mit diesem Thema beschäftigt hat, Schwierigkeiten, das Ausmaß der Tragödie nachzuvollziehen, die sich aktuell um die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK) und ihr heute beschlossenes Verbot abspielt. "Sollen sie doch in die ukrainische Nationalkirche gehen", werden Atheisten und Agnostiker sagen. "Was ist schon dabei?"
Gewiss, es sind scheinbar dieselben Riten, die in der von Petro Poroschenko um die Jahreswende 2018/2019 gegründeten "Orthodoxen Kirche der Ukraine" praktiziert werden, die Popen tragen dieselben Kleider, und es wird zum selben Gott gebetet, scheinbar.
Doch für einen Gläubigen stellen sich die Sachen grundlegend anders dar. Im Glaubensbekenntnis beschwört er jeden Sonntag – wie weit über tausend Jahre Generationen Gläubiger vor ihm – seinen Glauben an "die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche". Betonung liegt in unserem Kontext auf "die eine".
Heilsbringend ist in der Glaubenswelt eines orthodoxen Christen nur die Kirche, die sich von derjenigen, die Christus selbst gegründet hat, in unterbrochener Folge ableitet, zu ihr in ungebrochener Sukzession von Kirchenoberen steht. Eine Abspaltung gegen den Willen des Obersten der Kirche, von der man sich abspalten will, ist mehr oder weniger eine Todsünde. Der so gepflanzte Baum wächst auf giftigem Boden und trägt giftige Früchte. Anders ist es nur, wenn die Neupflanzung im Einvernehmen mit dem alten Baum (und dem himmlischen Gärtner sowieso) erfolgt, wenn der alte Baum einen seiner Äste selbst abwirft und ihn in seinem segnenden Schatten Wurzeln schlagen lässt.
Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche ist unbestritten kanonisch. Selbst ihre Peiniger von heute hatten vor wenigen Jahren noch keinerlei Zweifel daran. Bartholomäus, der Patriarch von Konstantinopel (so heißt Istanbul in Kirchenangelegenheiten immer noch), der 2018 und 2019 Poroschenkos Kirchenneugründung unterstützte und sich damit rechtswidrig in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des Moskauer Patriarchen einmischte, war noch 2013 nach Kiew gereist, um die Kirchenfürsten der UOK zu umarmen. Damals hatte er öffentlich verkündet, dass er nur eine Kirche in der Ukraine anerkenne: eben die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats. Die Videoaufzeichnung dieses Schwures gibt es bis heute auf YouTube.
Sechs Jahre später waren es dieselben Brüder im Glauben, dieselben Mönche, Priester, Bischöfe und Kirchenlaien, denen er auf hinterhältige Weise in den Rücken fiel. Was hatte sich verändert, dass dem eidbrüchigen Griechen türkischer Staatsangehörigkeit sein eben noch gegebenes Wort nicht mehr heilig war?
Was man an Begründung auch aufzählen mag, es sind ausschließlich weltliche Dinge, die mit dem Kirchenrecht, mit der Existenz eines einmal gegründeten Kirchenkörpers nichts zu tun haben.
Der kanonische Kirchenoberste, eine seit 2014 rein ideelle Bindung übrigens, ohne jede praktische Auswirkung auf das Kirchenleben, hat seinen Sitz in Moskau? Spielt kirchlich keinerlei Rolle: Es gibt keinen kanonischen Grundsatz, wonach ein Nationalstaat seine eigene Kirche haben muss. Der Papst im Vatikan befehligt die katholische Kirche weltweit, in mehr als 150 voneinander und vom Völkerrechtssubjekt Vatikan ohnehin unabhängigen Ländern. Und auch der Istanbuler Kirchenfürst selbst sieht seinen Zuständigkeitsbereich nicht auf die Türkei beschränkt, wie man schon an seinen Aktivitäten in der Ukraine sieht.
Der russisch-ukrainische Konflikt? Eine rein weltliche Angelegenheit. Bestrebungen des State Departments in Washington, die Orthodoxie zurückzudrängen? Eine rein weltliche Angelegenheit. Spendable Oligarchen in Kiew wollen eine "eigene" Kirche? Eine rein weltliche Angelegenheit.
Es gibt schlichtweg keinen religiösen, keinen kanonischen, keinen dogmatischen Umstand, der der soeben noch von allen Eingeweihten als einzig legitimer Kirchenkörper in der Ukraine anerkannten UOK sechs, zehn, hundert Jahre später ihre Legitimität und Existenzberechtigung entziehen würde.
Dazu muss man noch wissen, dass die Orthodoxie keinen Papst kennt. Der Istanbuler Kirchenfürst ist nach von allen außer ihm selbst anerkanntem Glaubensaxiom nur "primus inter pares", Erster unter Gleichen: nicht der oberste Richter, der sich auf kanonischem Territorium anderer Weltkirchen in Streitigkeiten einmischen darf. Seine kirchenorganisatorischen Befugnisse sind auf sein eigenes Gebiet beschränkt, in die territoriale Zuständigkeit anderer Patriarchen und Kirchenoberen darf er sich gar nicht einmischen.
Um diesen jedermann offensichtlichen Zuständigkeitsmangel zu überwinden, ohne der Papsthäresie beschuldigt zu werden, erfand Bartholomäus 2018 gar ein Recht, frühere Entscheidungen über Kirchenunabhängigkeit rückgängig zu machen. Er wies darauf hin, dass es seine Vorgänger waren, Patriarchen von Konstantinopel, die Moskau die kirchliche Unabhängigkeit gewährten. Deshalb dürfe er, meinte der türkische Staatsangehörige, die Entscheidung seiner Vorgänger auch wieder ganz oder zum Teil zurücknehmen.
Das ist ein offensichtlich abstruses Argument. Eine einmal in die Unabhängigkeit entlassene Kirche entwickelt ein Eigenleben und eine eigene, vom Geburtshelfer nicht mehr antastbare Existenzberechtigung. So wie ein Kind zwar auf Betreiben seiner Eltern auf die Welt kommt, aber nach der Geburt in seinen Rechten nicht mehr von diesen abhängt. Weder Vater noch Mutter dürfen dem einmal geborenen Kind einen Körperteil abschneiden und schon gar nicht es töten. An diesem Beispiel sollte man erkennen, dass Versuche, die Russisch-Orthodoxe Kirche kirchlich "rückabzuwickeln", schon mit der allgemeinen Menschenlogik nicht vereinbar sind, geschweige denn mit dem christlichen Verständnis von Nächstenliebe und Brüderlichkeit unter Gläubigen.
Der Weltorthodoxie gereicht es zur Ehre, dass die Mehrheit der Weltkirchen die Willkür von Bartholomäus und seine ukrainische Totgeburt bis heute nicht anerkannt hat. Nur vier der je nach Standpunkt 14 oder 15 orthodoxen Weltkirchen fügten sich der Entscheidung des Istanbuler Herrn: außer derjenigen von Konstantinopel die Griechische, die Zypriotische und der "Papst" von Alexandria, dessen Herrschaftsanspruch sich mit bescheidenem Erfolg auf ganz Afrika richtet.
Nicht einmal Kirchen, die schwelende Konflikte mit dem Moskauer Patriarchat haben und/oder in Washington sklavisch untergebenen Ländern residieren, von denen man eine Anerkennung der Neugründung von Bartholomäus und Poroschenko somit (aus weltlichen Gründen) erwartet und befürchtet hätte, machten diesen Schritt: nicht die Rumänische, nicht die Georgische, nicht die Albanische. Das Christliche überwog dort das Weltliche. Bislang zumindest, denn es wird weiter von massivem Druck aus Washington berichtet.
Vor allem aber haben die ukrainischen Gläubigen selbst die Neugründung und "Loslösung von Moskau" nicht anerkannt. Nur zwei der weit über hundert Bischöfe der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche wechselten zur Neugründung, viele zahlen heute mit ihrer Freiheit für ihre Standhaftigkeit. Als der ukrainische Staat der UOK das größte ihrer Heiligtümer – das Kiewer Höhlenkloster – raubte, zogen es bis auf zwei oder drei Mönche fast alle vor, ihren angestammten Wohn- und Gebetsort zu verlassen, statt sich der Willkür zu fügen. Ebenso gering ist der Anteil der Gemeindepriester, die dem Druck nachgaben und wechselten. Was die Laiengläubigen angeht, so gibt es zwar keine zuverlässige Statistik, doch sprechen Bilder für sich: Die Kirchenbauten in Stadt und Land, die der ukrainische Staat der UOK mit List und Gewalt entzog, ziehen nur sehr wenige Gläubige an, die Gotteshäuser, in denen UOK-treue Priester predigen, sind überfüllt.
Welche ist also "die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche" in der Ukraine? Die Antwort drängt sich auf: Es ist und bleibt dieselbe, die dort seit Jahrhunderten wirkt, für die all die schönen Kirchenbauten errichtet wurden, deren Heilige weltweit verehrt und geachtet werden, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts genau dort Tausende von Märtyrern hervorgebracht hat und deren Schicksal es heute offenbar ist, neue Märtyrer für den Glauben hervorzubringen. Es ist dieselbe, der Bartholomäus selbst vor zehn Jahren noch Treue und brüderliche Liebe geschworen hatte. Es sind dieselben Menschen von ganz oben bis ganz unten, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen.
Und nun zum Weltlichen. Was hier geschrieben wurde, sind Thesen zu Glaubensfragen. Die Gewissensfreiheit, die in allen weltlichen Erklärungen der Menschenrechte und sogar in der weltlichen ukrainischen Verfassung ihren festen Platz hat, erlaubt es, dass Andersgläubige anderes glauben. Sie schützt aber eben auch, dass die Gläubigen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche glauben, dass ihre Kirche "die eine, heilige, katholische und apostolische" in ihrem Land ist. Sie ihrer Kirche zu berauben, sie in eine andere zu zwingen, ist eine himmelschreiende Verletzung der verbrieften Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Hier versucht ein Staat, einen Glauben zu verbieten. Die traditionelle Mehrheitskonfession des Landes, was es nicht besser macht. Darüber werden all die weltlichen Erwägungen von Ukraine-Apologeten, die immer alle Verbrechen des Kiewer Maidan-Regimes gerechtfertigt haben und auch weiter seine künftigen Verbrechen rechtfertigen werden, nicht hinweghelfen. Amen.
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