China: Wissenswertes über das Sozialkredit-System und glückliche Chinesen

China ist schrecklich! So tönt es aus dem Westen. Und am schrecklichsten ist das Sozialkredit-System, denn es überwacht die Chinesen bis in kleinste Details des Lebens und bestimmt, was sie tun dürfen und was nicht. Was ist dran an dieser Erzählung?

Von Tom J. Wellbrock

Ein kluger Mann hat einmal sinngemäß gesagt: Im Westen wechseln die Regierungen, aber die Politik bleibt gleich, in China bleibt die Regierung, aber die Politik ändert sich. Das scheint ziemlich gut zu passen, und es erklärt auch, warum die Chinesen ihrer Regierung so sehr vertrauen. Doch dazu später mehr, beginnen wir mit dem Sozialkredit-System.

Keine Butter ohne Punkte?

Auf der Suche nach Informationen zum chinesischen Sozialkredit-System wird man schnell fündig. Es sei das größte digitale Überwachungssystem, das die Welt je gesehen habe, jeder Chinese sei ein Gefangener der chinesischen Regierung. Grauenvolle Aussichten, denkt man sich und schüttelt eventuelle Reisepläne nach China geschmeidig wieder ab. Nein, in ein solches Land will man nicht reisen.

Die Frankfurter Allgemeine (FAZ) gab schon 2018 zu, dass sie keine Ahnung hat, lehnte sich angesichts dieser Tatsache aber ziemlich weit aus dem Fenster:

"Viele Details sind noch nicht bekannt – Chinas Behörden gelten nicht als Vorzeigebeispiele für Transparenz. Wer verstehen will, was China da plant, muss sich auf Pläne, Pilotprojekte und Plausibilitätsabschätzungen von Chinaexperten stützen. Doch klar scheint zu sein, dass das System das finanzielle, soziale, moralische und politische Verhalten aller 1,4 Milliarden Chinesen überwachen und bewerten wird. Auch chinesische Unternehmen sollen einen Score erhalten."

Man weiß so wenig, davon aber ziemlich viel, so lässt sich der Eintrag der Zeitung zusammenfassen. In einem Punkt hat die FAZ aber recht: Einen Score sollten schon damals in erster Linie chinesische Unternehmen erhalten. Und das aus gutem Grund.

Der Score

Das Sozialkredit-System gibt es in China seit 2014. Der Hintergrund war die Korruption in China, die seit Ende der 1970er Jahre stetig zugenommen und neue Formen angenommen hatte. Die Kommunistische Partei (KP) war nun an einem Punkt angelangt, diese fortschreitende Korruption zu bekämpfen.

Schon 2007 hatte der damalige Staatspräsident Hu Jintao ganz offen gesagt, China werde untergehen, wenn man die Korruption nicht in den Griff bekomme. Diese Worte kamen auch beim heutigen Staatspräsidenten Xi Jinping an, und zeigten Wirkung. Die Korruptionsbekämpfung stand in China an erster Stelle, und im Zuge dessen kam es zur Einführung des Sozialkredit-Systems. Dieses bezog sich in erster Linie auf korrupte Politiker, Beamte und Unternehmer und Manager. Private Haushalte tauchten zwar in dem System auf, spielten aber eine untergeordnete Rolle. In Anbetracht der Motivation hinter dem Sozialkredit-System wäre alles andere auch überraschend, da die Korruption eines Landes sich nicht übermäßig in Privathaushalten widerspiegelt.

Gemäß chinesischem Experimentierdrang begann nun das große Ausprobieren des Systems. Heute gibt es nicht das eine Sozialkredit-System, sondern an die 30 in unterschiedlicher Ausprägung. Diese treiben zuweilen besondere Blüten. So gibt es in China eine Provinz, in der jemand Negativpunkte bekommt, wenn er seine Mutter länger als ein Jahr lang nicht besucht hat. In Shanghai wiederum spielt die Mülltrennung eine große Rolle, also wird das Sozialkredit-System auf diese angewendet. Das stellt sich allerdings als suboptimal heraus, weil die Mülltrennung so weit ging, dass in der Spitze bis zu 30 verschiedene Tonnen aufgestellt werden sollten, um unzählige Materialien voneinander zu trennen. Der Shitstorm ließ nicht lange auf sich warten. In China können solche Shitstorms durchaus etwas bewirken. Zwei Monate später waren es "nur" noch 12 Tonnen, dafür wurden die Bürger aber mit QR-Codes ausgerüstet, die die Zuordnung deutlich erleichterten.

An diesem Beispiel lässt sich ablesen, dass die Experimentierfreude der Chinesen durchaus bizarre Ergebnisse zutage fördern kann. Was aber den Score und das Sozialkredit-System anbelangt, zielte er vornehmlich darauf ab, die Korruption zu bekämpfen. Zweitens ist der Score vergleichbar mit einer deutschen Schufa-Auskunft, etwa wenn man sich ein Haus oder Auto kaufen will. Das kann man – wie die Schufa auch – kritisieren, aber der in deutschen Medien beschriebene Totalitarismus durch das Sozialkredit-System ist ein westliches Märchen.

Aus der Perspektive von Unternehmen ist das Sozialkredit-System ohnehin etwas, das recht nüchtern betrachtet wird. So lässt sich auf der Webseite der Industrie- und Handelskammer im Raum Stuttgart schon im August 2021 nachlesen:

"Das chinesische Sozialkreditsystem, das vor wenigen Jahren hohe Wellen geschlagen hatte, ist in letzter Zeit wieder etwas aus dem Fokus der Schlagzeilen geraten. Das liegt zum einen an der Corona-Pandemie, zum anderen womöglich aber auch daran, dass die an die Wand gemalte Dystopie eines Staates, der das Verhalten seiner Bürger umfassend über einen Punktestand steuert, bislang schlicht nicht eingetreten ist. Bekanntermaßen ist das chinesische Sozialkreditsystem umstritten, gerade auch in der Wirtschaft. Insbesondere befürchten viele Unternehmen Nachteile durch das vorgesehene System 'roter' und 'schwarzer' Listen. Dennoch ist das Thema für deutsche Unternehmen, die im Chinageschäft tätig sind oder chinesische Geschäftspartner haben, von hoher Relevanz."

Ohne Schaum vorm Mund fährt der Text fort:

"Kern des Systems sind 'rote' und 'schwarze' Listen in verschiedenen Verwaltungsbereichen wie etwa Steuern, Umweltschutz oder der Vollstreckung von Gerichtsurteilen. Unternehmen, die stets pünktlich ihre Steuern zahlen, werden – bildlich – in eine rote Liste eingetragen; wer seine Steuern nicht zahlt, kommt auf eine schwarze Liste. Während Einträge in roten Listen zu Vergünstigungen in anderen Verwaltungsbereichen führen sollen, soll ein Eintrag in einer schwarzen Liste Einschränkungen auf allen möglichen Ebenen zur Folge haben. Ein schlechtes 'Steuer-Rating' führt dann beispielsweise dazu, dass bestimmte Genehmigungen nicht mehr erteilt werden. Und wer ein rechtskräftiges Zivilurteil grundlos nicht erfüllt, darf unter anderem kein Flugticket mehr kaufen – bei Unternehmen gilt das auch für den vertretungsbefugten 'gesetzlichen Vertreter'!"

Erinnert sei an dieser Stelle an den Ausgangspunkt des Kreditsystems: die Bekämpfung der Korruption.

Vom Tisch!

Seit 2021 ist das Sozialkredit-System in China vom Tisch. Nicht in Deutschland, dort hält es sich wacker in den Medien, aber in der chinesischen Realität kommt es faktisch nicht mehr vor. Nun stellt sich die Frage: Warum?

Die Antwort ist denkbar einfach: Es wurde genug experimentiert. Über die Jahre hat sich herausgestellt, dass bestimmte Ideen, die im Zuge der – teils wilden – Diskussionen entstanden, verwirklicht wurden. Das sind Dinge wie etwa ein besserer Umgang mit Lebensmitteln. Die Chinesen neigten lange zur Verschwendung, das heißt, es wurde regelmäßig viel weggeworfen. Hier ist es zu einem neuen Bewusstsein gekommen. Ein weiteres Beispiel: der Umgang mit Hunden (die auch vorher schon in China nicht gegessen wurden) und Katzen. Sie werden in China als Haustiere und Partner gesehen, was aber längst nicht immer so war.

Und dann gab es da ja noch eine andere Frage. Die nach den Sanktionen. Wer sollte in welchen Fällen sanktioniert werden, und wie genau sollten solche Sanktionen dann aussehen? Diese und weitere Fragen wurden in China über Jahre diskutiert, von der Politik, der Wissenschaft, aber auch von den Bürgern Chinas, die über die sozialen Medien großen Einfluss nehmen. Staatliche Stellen sind in den sozialen Netzwerken aktiv und reihen sich dort als gleichberechtigte Diskussionspartner mit ein.

Inzwischen gibt es ausreichend Klarheit bezüglich der Idee des Sozialkredit-Systems, sodass es im Fünfjahres-Plan nicht einmal mehr vorkommt. Gewisse Sanktionen sind aber übriggeblieben. So muss ein Manager damit rechnen, ein Jahr lang nicht mehr fliegen zu dürfen, nachdem er der Verursachung etwa eines Umweltschadens überführt wurde. Doch für derlei Sanktionierungen ist kein Sozialkredit-System notwendig.

Das Vertrauen

Die Zufriedenheit eines Volkes lässt sich am Grad des Vertrauens gegenüber Politik, Medien und Institutionen ablesen. Das Messen des Vertrauens lässt daher wichtige Rückschlüsse zu. Dem westlichen Narrativ folgend müsste das Vertrauen der Chinesen in ihre Regierung gering sein, denn wenn die KP totalitär regiert und ihre Bürger überwacht und bestraft, kann das kaum zu Vertrauen führen.

Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Und das liegt unter anderem an der Wirtschafts- und Sozialpolitik Pekings. Seit Jahren arbeitet China beständig daran, die Armut abzubauen und den Wohlstand zu mehren. Im Westen wird dagegen eher daran gearbeitet, in blumigen Worten den wirtschaftlichen Untergang als moralische Errungenschaft zu verkaufen. Doch das Leben der Menschen verbessert sich schon lange nicht mehr, es wird immer teurer, die Einkommen sinken, Angst und Verunsicherung machen sich breit.

Dass das Vertrauen in China deutlich ausgeprägter ist als in westlichen Ländern bzw. in Deutschland, lässt sich unter anderem am "Edelman Trust Barometer" ablesen. Auf der Webseite edelman.com lässt sich folgender Eintrag finden:

"Die Edelman Trust Barometer-Forschung ist eine weltweit durchgeführte Online-Umfrage unter der allgemeinen Bevölkerung. Die von unserem Forschungsteam entwickelten Fragebögen werden programmiert, übersetzt, lokalisiert und in bis zu 28 Ländern weltweit ausgefüllt, wobei demografisch repräsentative Stichproben jede Bevölkerung widerspiegeln.

Wir versuchen zu verstehen, warum Menschen bestimmte Ansichten haben. Dazu verwenden wir tiefgründige Fragen und anspruchsvolle Datenanalysen, um zu verstehen, wie persönliche Einstellungen miteinander verknüpft sind und so breitere gesellschaftliche Kräfte prägen. Wir verfolgen Einstellungen, wenn sie entstehen, an Bedeutung gewinnen und in Ungnade fallen."

Edelmann wurde 1952 von Daniel J. Edelmann in Chicago gegründet, die Firma steht also nicht im Verdacht, chinesische Propaganda zu verbreiten. Der Vertrauensreport für 2023 und 2024 ergibt folgendes Ranking:

Unübersehbar befinden sich die meisten westlichen Länder auf den unteren Plätzen, Deutschland nähert sich dem letzten Platz langsam an. Auch Chinas Position ist leicht erkennbar.

Die Liste zeigt exemplarisch, dass die Menschen sich nicht durch moralische Attacken und Ansprachen einlullen lassen wollen, sondern nach Verbesserungen streben. Ohnehin ist die moralische Herangehensweise des Westens im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen etwas, das weder Vertrauen noch Zufriedenheit schafft. Man kann den Menschen noch so oft erzählen, wie frei sie sind, wie gut es ihnen geht und wer der Feind ist (zum Beispiel China) – wenn die Narrative nicht zur Lebenswirklichkeit passen, sinken Vertrauen und Zuversicht.

Das Vertrauen zu Regierung und anderen Institutionen wirkt sich übrigens auch auf die Stimmung in der Bevölkerung aus. Während in China ca. 90 Prozent aller Befragten auf die Frage, ob sie fremden Menschen auf der Straße trauen würden, mit "Ja" antworten, sind es in den USA nur noch ungefähr 33 Prozent, Tendenz fallend. Gleiches zeichnet sich auch in westlichen Ländern und in Deutschland ab. Vertrauen die Menschen also den Regierungen nicht mehr, wächst auch das Misstrauen untereinander, was wiederum zu einer aufgeheizten Stimmung insgesamt führt.

Was kommt

China hat einen Plan. Und der besteht, grob gesagt, aus zwei Komponenten. Zum einen ist das chinesische Ziel weiterhin die Bekämpfung von Armut. Dies ist zu weiten Teilen bereits gelungen, doch jetzt geht es ans Eingemachte, in die Ecken des Landes, die schwer zugänglich sind. Dort für die Menschen die Möglichkeiten zu schaffen, ein wirtschaftliches Auskommen zu erreichen, steht weit oben in der chinesischen Agenda. Man wird sehen, wie gut das Vorhaben sich gestalten lässt, es ist sicher eine anspruchsvolle Aufgabe.

Die zweite Komponente von Pekings Zielen ist die geopolitische Situation und deren Handhabung. China wird vom Westen im Allgemeinen und von den USA im Besonderen als größter Feind, als größte Bedrohung betrachtet. Diese Annahme gilt unabhängig davon, wer in den Vereinigten Staaten das Präsidentschaftsamt innehat. Den dadurch entstehenden Bedrohungen von außen will die politische Führung in erster Linie mit einem Maximum an Unabhängigkeit begegnen: China will und wird weiter Handel betreiben, doch die Handelspartner werden künftig wohl andere sein als in der Vergangenheit.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass auf China wie auch auf alle anderen Länder dieser Welt, zahlreiche Herausforderungen zukommen, die es zu meistern gilt. Vielen anderen Ländern gegenüber – beispielsweise Deutschland – hat China jedoch einen bedeutenden Vorteil: Die Bevölkerung steht hinter der Politik der Kommunistischen Partei. Und diese Zustimmung hat sich Chinas politische Führung redlich verdient.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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