Von Elem Chintsky
Vor einigen Tagen hat die sozialistisch orientierte türkische Tageszeitung Evrensel eine Analyse zu Deutschlands rasant sinkender Wirtschaftsleistung publiziert.
Mit der Frage im Titel, ob das "Wirtschaftswunder" Deutschland zum "kranken Mann Europas" geworden sei. Damit bezog der Autor sich auf die Tatsache, dass in den letzten 25 Jahren das britische Finanzjournal The Economist zweimal den Titel "kranker Mann" für Deutschland verwendet hat. Das erste Mal fand der Begriff Verwendung im Jahr 1999, wobei erst genau vor einem Jahr zum zweiten Mal die Frage "Ist Deutschland erneut der kranke Mann Europas?" gestellt wurde.
Evrensel beantwortet diese Frage mit Ja, und erinnert daran, dass die Bezeichnung "kranker Mann" stets für Länder verwendet wurde, deren Wirtschaft im Zusammenbruch begriffen war. So war auch das Osmanische Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Staaten Europas als "kranker Mann am Bosporus" gebrandmarkt worden. Dieser "kranke Mann am Bosporus" fand sein Ende mit der Teilnahme am Ersten Weltkrieg und – sehr ähnlich dem damaligen Russischen Kaiserreich – mit dem darauffolgenden blutigen Bürgerkrieg.
Jedenfalls war das ganze letzte Jahr bereits gespickt von Berichten, dass große deutsche Konzerne rasch ihren Mitarbeiterstab reduzieren wollen. Alleine die Tagesschau berichtete in Serie, wie Continental (November 2023), Vodafone (März 2023), Ford (Februar 2023) oder der Paketdienst DPD (Dezember 2023) tausende von Arbeitsstellen streichen wollen beziehungsweise werden.
Wirft man einen Blick auf das Jahr 2024, findet sich ebenfalls eine Welle von Meldungen über Massenentlassungen. 30.000 Stellen bei der Deutschen Bahn, 14.000 beim Automobilzulieferer ZF Group oder 10.000 beim internationalen Softwarekonzern SAP SE mit deutschem Sitz sollen in den kommenden vier Jahren gestrichen werden – um nur die drei größten Firmen zu nennen.
Mit all den genannten betroffenen Unternehmen bahnt sich besonders "für die Automobilbranche, das Herzstück der deutschen Industrie, eine große Krise an", so das türkische Blatt.
Weiter heißt es zur deutschen Volkswirtschaft:
"Rechnet man nur die Zahlen zusammen, die mit Sicherheit bekannt sind, kommt man auf 70.000 Fachkräfte, die entlassen werden. Wenn wir die Stellenstreichungen in kleinen und mittleren Unternehmen hinzurechnen, wird deutlich, dass die Kosten der Rezession in der Wirtschaft auf den Schultern der Arbeitnehmer lasten."
Dinge, über die RT DE seit über zwei Jahren regelmäßig schreibt – etwa dass die BRD seit Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine freiwillig den Zugang zu kostengünstiger russischer Energie verweigert –, werden gleichfalls als Gründe für die bereits laufende deutsche Deindustrialisierung genannt. Zu diesem Schluss kommt auch Evrensel, wobei die Zeitung erklärt, dass "niemand damit rechnet, dass sich die wirtschaftliche Schrumpfung bis 2030 in ein signifikantes Wachstum verwandeln wird. In dem Land, das vor fünf Jahren noch ein Wachstum von 2,5 Prozent verzeichnete, schrumpft die Wirtschaft vor allem in den Industriezweigen stark."
Die finanzielle Verausgabung, der sich Berlin in seiner ideologisch sturen Position der nahezu bedingungslosen Ukraine-Unterstützung unterzieht, wird als finaler Nagel im volkswirtschaftlichen Sarg erwähnt. Das bereits genannte Aussichtsjahr 2030 geht somit einher mit dem Jahr 2029, das am Ende der "fünf Jahre" steht, die der deutsche Verteidigungsminister Pistorius ansetzt, "um Deutschland gegen Russland kriegstüchtig zu machen". Mit einer Einsicht tun sich die deutschen Regierungseliten also bisher sehr schwer.
Selbst die polnische Republik entpuppt sich als mittelfristig Begünstigte, da der Elektrogerätehersteller Miele beschlossen hat, einen Teil seines Werks eben dorthin zu verlagern. Die Entlassung von insgesamt 2.700 deutschen Mitarbeitern wurde bereits angekündigt. Dies geht sogar mit den vor allem unter der PiS (2015 bis 2024) offen und stolz geäußerten, vermeintlich mit den USA abgestimmten Absichten einher, dass Polen Deutschland als Wirtschaftsmacht in Europa ablösen werde.
Der ehemalige US-Präsident und erneute Präsidentschaftskandidat Donald J. Trump sprach kürzlich davon, dass in den USA nicht nur von einer Rezession, sondern von der akuten Gefahr einer Depression die Rede sein sollte. Konkret hieße das, dramatische Auswüchse der Arbeitslosenzahlen und das außer Kontrolle geratene Wachstum der Staatsverschuldung hinzunehmen, sowie einen steilen zweistelligen Abfall der Wirtschaftsleistung. Des Weiteren könnte sich über die Bevölkerung eine erbarmungslose Form der herkömmlichen Inflationsrate, die zur Hyperinflation entartet, ausgießen. Eine Geldentwertung, die sogar die Dimensionen der Weimarer Republik (1918–1924) erreichen könnte. Damit würden Armut, moralischer Verfall, Frust und soziopolitische Gewaltbereitschaft als große Katalysatoren sozialer Prozesse einhergehen.
Wenn Trump in Sorge ist, dass die Vereinigten Staaten in eine Depression fallen könnten, sofern sich die US-amerikanische Finanz-, Wirtschafts- und sogar Außenpolitik nicht drastisch ändert, so kann diese Sorge, um ein Vielfaches gesteigert, auch für Deutschland gelten. Für ein Land also, das einst die Zentrifuge der europäischen Wirtschaftsmacht war. Denn die USA würden sich in jedem Fall selbst – ob mit Trump an der Spitze oder nicht – spezifisch auf Kosten Berlins, aber auch allgemein auf Kosten der EU, aus der Schlinge ziehen. Dieser Prozess war bisher selbst unter der Biden-Regierung außerhalb Deutschlands klar erkennbar – besonders an der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines und der masochistischen Sanktionspolitik Berlins.
Spätestens eine wirtschaftliche Depression würde tiefgreifende Erschütterungen in Gesellschaft und Kultur hervorbringen, die sich letztendlich vorteilhaft – auch wenn inmitten großer menschlicher Tragödien im Volk – auf den Einfluss der neuen politischen Sonderwege in AfD und BSW ausüben könnten. Zumal nur noch diese imstande wären, irgendwelche glaubwürdigen Lösungen anzubieten. Bevor aber über die Heilung des "kranken Mannes Europas" weiter philosophiert werden kann, muss dieser noch den letzten Ausbreitungsgrad des an ihm zehrenden, bösartigen Tumors in ganzer Fülle abwarten, ihn sodann ertragen – aber vor allem erst einmal erkennen.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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