Von Jelena Karajewa
Als man versuchte, uns zu kolonisieren (und die Neuordnung des kulturellen Codes, die der Westen seit mehreren Jahrzehnten mit uns versucht, ist Kolonisierung, da sollte man sich keine Illusionen machen), ging diese Arbeit in mehrere Richtungen.
Das klassische russische Ballett wurde mit der Behauptung angegriffen, dass "eine integrale und verständliche Dramaturgie in der Choreografie hoffnungslos veraltet" sei. Das Theater mit dem abwertenden "Wer braucht schon Ostrowski, der nach Mottenkugeln stinkt?" Unser Kino mit "Warum dieser langweilige Psychologismus heute?" Die heißeste der kulturellen Schlachten aber entbrannte unbestreitbar auf dem Gebiet der Literatur.
Russland wurde jahrhundertelang, was das geschriebene Wort anbelangt, verächtlich gemacht, indem man erklärte, dass die gesamte kulturelle Schicht unserer Literatur nichts als Schund sei. Die Rasse, die wirklichen Vektoren der persönlichen Erkenntnis, sie seien "zweifellos" in den Händen der Angelsachsen. Von dort stammen Übersetzungen diverser leichter Kost und verdaulicher Lektüre, die wir aus Versehen und wegen unserer ewigen russischen Weltoffenheit und Naivität für "große Literatur" hielten.
An dieser Stelle ist es sinnvoll anzumerken, dass die Polemik aus der Reihe "Gogol ist ein ukrainischer Schriftsteller" aus derselben Oper stammt. Wir wurden unseres Reichtums beraubt, und wir nickten zustimmend, wenn auch nicht ohne inneren Widerstand und Verwirrung. Der Druck war gewaltig. Nur die ganz Starken, Belesenen und Überzeugten konnten ihm widerstehen.
Die Sonne der russischen Poesie und Prosa schien untergegangen zu sein. Und sie war auch tatsächlich fast schon untergegangen. Im Jahr 2022 aber änderte sich alles. Das russische schriftstellerische Denken schüttelte den Staub ab, gab sich einen Ruck und ging in die Offensive. Und stellen Sie es sich vor: Nicht nur unsere lebenden Zeitgenossen taten dies, sondern sogar unsere Klassiker der zurückliegenden zwei Jahrhunderte …
Die Verleger stellen überrascht fest, dass die heutigen Verkaufsschlager eben russische Klassiker sind: Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow.
Noch ein Trend des Buchmarktes: Die russischen Leser sind nicht mehr an Utopien und Dystopien interessiert. Der einst gepriesene George Orwell mit seinem "1984" verstaubt in den hintersten Regalen, dorthin verbannt von den russischen Lesern selbst, die erfundenen Erzählungen aus völlig fremden Leben die Erzählungen vorziehen, die das Leben hier und jetzt, in Russland, schreibt.
Der Ballast in Form zahlreicher Eintagsfliegen wie Donna Tartt (eine Autorin, die über 600 Seiten über ein Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert geschrieben hat), Jonathan Littell (ein Mann, der viele Druckseiten über die Gedanken eines SS-Mörders geschrieben hat) und ihrer geistigen Unterstützer wurde von den Vorlieben des russischen Lesers weggewischt. Nicht, weil ihm die nicht existierende "Propaganda" um die Ohren pfiff, sondern weil er bei aller Freiheit der Fantasie und allen ihren Höhenflügen in erster Linie daran interessiert ist, über sich selbst zu lesen. Er träumt davon, so zum Haltepunkt zu eilen, wie es Katjuscha Maslowa tat, um noch einmal Fürst Nechljudow zu sehen. Der sie betrogen hatte. Aber Katjuscha liebte ihn weiter.
Der russische Leser strebt nach Gerechtigkeit, so wie Fürst Myschkin nach ihr strebte. Der russische Leser kann sich leicht in Larissa Ogudalowa, eine obdachlose Frau, hineinversetzen, ebenso wie in Katerina Kabanowa, die von unserem größten Dramatiker Alexander Ostrowski erfunden wurde.
Der russische Leser hat aufgehört, sich für die konstruierten, wenn auch talentierten Lehren der Gedankenverbrechen zu interessieren. Dort geht es überhaupt nicht um uns. Während Orwell sein Bestes tat, den westlichen Leser zu erschrecken, wussten wir bereits, dass der freie Gedanke in keinem Kerker oder Lager eingesperrt werden kann, er wird immer mit seinen Kerkermeistern kämpfen. Und am Ende wird er sie besiegen.
Wir wissen heute mit Sicherheit, dass Manuskripte nicht brennen und dass sich die Fesseln der kolonialen Buchstäblichkeit früher oder später lösen werden. Sie werden zerbröckeln und zu Staub zerfallen.
Und andererseits gibt es keine neugierigeren und erkundungslustigeren Leser als die russischen. Polizeibeamte, die Hemingway lesen. Eine Reinigungskraft, die über das Schicksal von Cosette aus Les Misérables weint. Tausende Russen, die für die Restaurierung von Notre-Dame gespendet haben, weil sie ein wenig zu viel Hugo gelesen haben. Passanten, die sich über Zitate aus "Der Fänger im Roggen" verständigen. Gesprächspartner, die sich die Köpfe darüber zerbrechen, wer Hamlet besser übersetzt hat – Pasternak oder Losinski.
Das sind wir, russische Leser und russische Kenner der großen, der echten Weltliteratur. Indem wir heute unsere Lektüre frei auswählen, indem wir unsere klassischen und zeitgenössischen Schriftsteller schätzen, indem wir uns all des literarischen Ballasts entledigen, bewahren wir auch die Kultur des Westens für die Nachwelt, die der zwischen Postmoderne und politischer Korrektheit schwankende Westen weder bewahren noch schätzen kann.
Was einst abstrakt und träumerisch als russischer kultureller Exzeptionalismus bezeichnet wurde, ist heute eine Realität des täglichen Lebens. Die Hauptsache ist, dass dieser Vektor nicht zu einer alltäglichen Routine wird. Und was die Freiheit des Lesens anbelangt, so ist nach den Berichten der Verleger zu urteilen hier alles mehr als in Ordnung.
Die russische Kultur hat unseren gefährlichsten Feind besiegt – die Kolonisierung des Bewusstseins. Alle anderen Siege werden dank ihr auch nicht ausbleiben.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 4. August 2024 auf ria.ru erschienen.
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