Von Irina Alksnis
Der Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen hat uns plötzlich an die Existenz eines Landes mit dem Namen Deutschland erinnert. Vor nicht allzu langer Zeit – nur wenige Jahre ist es her – gab es eine Beinahe-Großmacht, die so hieß. Aktiv und erfolgreich war sie, an den wichtigsten globalen Prozessen beteiligt, die wirtschaftliche Lokomotive und politische Führungsmacht eines vereinten Europas. An der Stelle dieser Fast-Großmacht findet sich nun ein Land, das im Strudel von Problemen taumelt. Das, wenn es überhaupt einmal in den Weltnachrichten auftaucht, in einer drittklassigen Rolle erscheint, ebenbürtig nur noch den baltischen Zwergstaaten.
Neulich einmal mehr.
Der größte, wenn nicht einzige Stolperstein beim Austausch von Häftlingen zwischen Russland und dem Westen war Wadim Krassikow, der in Deutschland zu lebenslanger Haft für die Ermordung des Banditen, Terroristen und Sadisten Selimchan Changoschwili verurteilt worden war. Letzterer hatte während der Tschetschenienkriege russische Soldaten auf brutale Weise getötet.
Berlin nahm zunächst eine kompromisslose Haltung ein und lehnte jegliche zwischenstaatliche Vereinbarung über Krassikow ab. Ein unproduktiver Ansatz, natürlich, aber in gewissem Sinne integer und deshalb respektabel.
Doch diese prinzipienfeste Haltung hielt nicht lange an, wie wir alle wissen. Krassikow wurde letztlich doch freigelassen.
Deutsche Beamte machen aus ihrer Unzufriedenheit keinen Hehl. Die deutsche Generalstaatsanwaltschaft ist "enttäuscht" über den Vorfall, Justizminister Marco Buschmann nennt ihn "das bitterste Zugeständnis an Putin". Olaf Scholz räumt ein, dass die Entscheidung nicht leicht gefallen sei und dass man wochenlang mit den US-amerikanischen und europäischen Partnern darum gerungen habe.
Die Medien haben inzwischen Einzelheiten dieses Ringens publik gemacht. Bloomberg berichtete, dass Scholz der Freilassung Krassikows nach einer Bitte Joe Bidens zustimmte, wobei die Nachrichtenagentur anmerkte, dass der ursprünglich ablehnende Kanzler aufgrund seiner "warmen Beziehungen" zum US-Präsidenten einwilligte. Diese Bemerkung ist ein sarkastischer Hinweis darauf, welchen Nutzen Berlin aus der Änderung seiner Position gezogen hat: keinen. Die Deutschen haben ihre Position in einer für sie sehr wichtigen Frage aufgegeben, weil Washington den Befehl dazu gab.
Einige würden vermuten, dass es hinter den Kulissen vertrauliche Vereinbarungen gegeben haben könnte. Vor 20 oder gar zehn Jahren wäre eine solche Annahme naheliegend gewesen: Deutschland war damals ein Land, dem es selbst unter Bedingungen eingeschränkter Souveränität immer wieder gelang, von seinem überseeischen Oberherrn Präferenzen für sich auszuhandeln.
Aber dieses Deutschland existiert nicht mehr. Welche Entschädigung hat Deutschland von den Vereinigten Staaten für den Verlust von Nord Stream erhalten? Für den Verzicht auf russisches Erdgas? Für den rapiden Niedergang seiner Industrie? Für den Verlust seines Status als eine der wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt? Und jüngst: dafür, dass es sich russischen Raketen aussetzt, indem es US-amerikanische beherbergt?
Exakt das Gleiche bekam es dafür, dass es Krassikow gehen ließ. Der Herr befahl, der Sklave gehorchte.
Natürlich stellt sich die Frage, wie die USA das geschafft haben. Wie wurden Deutschland und seine Eliten blitzschnell zu einer rückgratlosen Substanz degradiert, die keinerlei Selbstachtung und Würde hat? Immerhin gab es vor Kurzem sehr einflussreiche und an nationalen Interessen orientierte Kräfte, die den Aufstieg der BRD zu einer Weltmacht beinahe erreicht haben. Und plötzlich ein so schneller Verfall. Wie war das überhaupt möglich?
Zweifellos gibt es sozusagen politisch-technologische Rezepte, die zum Einsatz kamen und nun ihre Wirkung entfalten. Insbesondere haben die USA sehr geschickt mit der deutschen Oberschicht gearbeitet, die sie zwar nicht ganz unter ihre Kontrolle zu bringen vermochten, aber eben mehrere von ihnen geförderte und fest im Griff gehaltene Schlüsselkräfte an entscheidenden Stellen platzierten, die jetzt das Land beherrschen und es klaglos in den Abgrund führen.
Aber das ist nur ein Teil der Erklärung. Es scheint, dass der Hauptgrund viel tiefer liegt und rein deutscher, autonomer Natur ist. Deutschland – sein Establishment und anscheinend auch ein großer Teil der Gesellschaft – hat weder die Niederlage gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg verkraftet, noch konnte es sich zu einer gleichberechtigten Zusammenarbeit mit Moskau "herablassen", egal wie großartig die damit verbundenen Aussichten auch sein mochten.
Deutschland trieb in den letzten Jahrzehnten ein unterbewusstes Bedürfnis nach Rache an, das sich seit 2014 – in der Ukraine – besonders deutlich manifestierte. Der Start der militärischen Sonderoperation Russlands signalisierte Berlin, dass der Moment gekommen war, dem östlichen "Erbfeind" den entscheidenden Todesstoß zu versetzen. Doch der kam wie ein Bumerang nach Berlin zurück: Russland behauptete sich, und Deutschland geriet in den Strudel des Untergangs.
Vor 80 Jahren haben unsere Vorfahren den Deutschen höchste Humanität und Barmherzigkeit entgegengebracht. Nach allem, was das Dritte Reich in den besetzten Gebieten mit Sowjetbürgern angestellt hatte, ließ Moskau Gnade walten. Deutschland antwortete darauf mit schwarzer Undankbarkeit, es hat seine Lektion nicht gelernt und wird nun dafür bezahlen müssen.
Ironie des Schicksals: Was die Russen 1945 nach biblischen Maßstäben hätten tun dürfen, aber letztlich den Deutschen nicht antun wollten, werden 80 Jahre später die USA erledigen. Die Geschichte hat einen seltsamen Sinn für Humor.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Originalartikel ist am 3. August 2024 auf ria.ru erschienen.
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