Von Timofei Bordatschew
Im Verlauf der vergangenen Wochen war die Beschäftigung der Medien mit dem Spektakel, das die US-Präsidentschaftswahlen darstellen, unerbittlich. Die verheerende Debatte des amtierenden Präsidenten Joe Biden mit seinem Gegner von den Republikanern, Donald Trump; dann der Attentatsversuch, den Letzterer geradezu wunderbarerweise überlebt hat; die Kür von Trumps Vizepräsidentschaftskandidaten; und schließlich der Kandidatenwechsel der regierenden Demokraten. Im Ergebnis hat Vizepräsidentin Kamala Harris – die sich noch in keiner Hinsicht bewiesen hat – das Kampffeld betreten.
Dieses ganze Durcheinander wird von einer ungeheuren Menge widersprüchlicher Informationen und Meinungen begleitet, die großzügig über dem allgemeinen Publikum versprüht werden und emotional wirken wie eine Schaukel. In gewisser Hinsicht sind selbst Beobachter in anderen Ländern in Gefahr, von der Raserei angesteckt zu werden.
Russland ist ebenfalls gewohnt, genau auf die politischen Kämpfe im Westen zu achten. Diese Gewohnheit ist schon lange ein Teil unserer politischen Kultur – der russische Staat wurde vor allem aus außenpolitischer Notwendigkeit geschaffen. Ich würde es jedoch lieber sehen, wenn diese Tradition auf der Ebene reiner Neugier verbleibt und nicht Erwartungen zu dem einen oder anderen Ergebnis der inneren Kämpfe der USA weckt.
Es scheint, als wäre es für Russland und seine Interessen weit wichtiger, eine genaue Wahrnehmung der Ereignisse zu haben und zu wissen, mit wem wir es in der globalen Arena zu tun haben. Das bedeutet zuallererst, dass wir das ganze US-Spektakel mit einem gewissen Humor betrachten sollten. Gleich, wer letztlich das Steuerruder des amerikanischen Staates übernimmt, werden Russlands Interessen durch seine militärischen Fähigkeiten und seine Stellung in der Weltwirtschaft gesichert. Nur das zählt bei unseren Gegnern, wenn es um eine diplomatische Lösung für den momentanen Verfall der Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen geht.
Zweitens ist es nötig, anzuerkennen, dass wir es mit einer einzigartigen politischen Kultur zu tun haben – einem System, in dem der einzige Zweck politischer Aktivität in der Manipulation der gewöhnlichen Bürger durch die Elite besteht, die sie nur betreibt, um ihre eigenen egoistischen Wünsche zu erfüllen. Darum blieben die britische und die amerikanische Gesellschaft über Jahrhunderte statisch, darum denkt die Bevölkerung nicht einmal daran, die bestehende Ordnung durch entschiedenes Handeln zu ändern.
Anders gesagt, um an der Macht zu bleiben, müssen amerikanische und britische Politiker nur ihre Wähler narren und sonst nichts tun; ihre Bürger trotten ihnen dennoch hinterher. Das macht beide Mächte zu gefährlichen Gegnern, denn die Menschen dort sind es gewohnt, ihren Herrschern selbst bei den verrücktesten Unternehmungen zu gehorchen.
Dieses Modell wurde im Verlauf mehrerer Jahrhunderte in Großbritannien geschaffen, einem Land, in dem es seit dem Ende des 14. Jahrhunderts keinen einzigen wirklichen sozialen Massenprotest gegen den Status quo gab. Jahrhundertelang haben die Engländer eine unglaubliche Zahl an Parasiten auf ihren Schultern getragen, von der königlichen Familie bis zu den großen Kapitalisten der Moderne. Erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden vernünftige Sozialleistungen in Großbritannien eingeführt, und in den vergangenen Jahrzehnten haben die Eliten daran gearbeitet, sie zu schleifen. Währenddessen sind all die Jahrhunderte hindurch die gewöhnlichen Briten folgsam in den Krieg gezogen, wohin auch immer ihre sozial Bessergestellten sie schickten – ohne allzu viel als Gegenleistung zu erhalten.
Wir erinnern uns, wie trostlos das Leben der Veteranen auf dem Höhepunkt des britischen Empire war, wie sie sein Meisterdichter, Rudyard Kipling, beschrieb. Die Magna Charta der Freiheiten – die die Propaganda oft als erste Verfassung präsentiert – ist tatsächlich ein Vertrag zwischen dem König und der Aristokratie und hat nichts mit dem gemeinen Volk und seinen Rechten zu tun. Die Geografie der Insel selbst fördert ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Resignation.
Seit dem 17. Jahrhundert entflohen Millionen Engländer und Schotten aus ihrer elenden Lage nach Nordamerika. Aber die politische Kultur, die über Jahrhunderte entwickelt wurde, erwies sich als stark und widerstandsfähig. Daher wurde, als die USA erschienen, das britische System mit einigen kleineren Veränderungen reproduziert. Sie beruhen auf der Entwicklung radikaler Formen des Individualismus unter den Bürgern, die dazu führen, dass andere nur als Konkurrenten wahrgenommen werden. Es ist kein Zufall, dass die USA auf der internationalen Bühne alle Länder der Welt entweder als aktive oder als mögliche Konkurrenten sehen. Das ist ein System, in dem es keine Freunde oder Verbündete gibt, sondern nur Konkurrenten oder Untergebene. Es gibt keinen Raum, die Interessen und Werte anderer zu berücksichtigen.
Eine Gesellschaft von Individualisten ist extrem leicht auf Grundlage simpler Algorithmen zu leiten. Es reicht, den Bürger ständig seiner Einzigartigkeit und seiner Fähigkeit, jedes Problem unabhängig zu lösen, zu vergewissern.
Ein Individualist ist leicht zu manipulieren. Er wird seine Nachbarn nicht um Rat fragen und muss stets unabhängige Entscheidungen treffen. Die praktische Aufgabe von Politikern sowohl in Großbritannien als auch in den USA besteht daher darin, beständig daran zu arbeiten, dass die Bürger nicht einmal auf den Gedanken kommen, der Staat oder die Gesellschaft hätten ihnen gegenüber irgendeine Verantwortung.
Und wenn der Staat keine Verantwortung hat, dann gibt es keinen Weg, die Eliten zu ersetzen, die Macht und Reichtum über Jahrhunderte an ihre Nachfahren weitergereicht haben. Es wäre extrem naiv, zu denken, dass neue Gesichter, die an die Macht kommen, imstande wären, irgendetwas an der großen Politik in den USA zu ändern – natürlich eingeschlossen die grundlegenden Aspekte der Beziehungen zwischen den USA und der Außenwelt. In einem System, in dem alles getan wird, um die Macht über die Bevölkerung zu erhalten, ist Außenpolitik in jeder Hinsicht zweitrangig.
Außerdem sind die USA, wie Großbritannien, ein Land, dessen geopolitische Stellung die Gelegenheiten zu sozialer Interaktion mit anderen dramatisch verringert. In Russland ist die Lage beispielsweise das genaue Gegenteil – wir haben viele Nachbarn, und die Außenpolitik nimmt auf der Liste der staatlichen Pflichten einen bedeutenden Platz ein.
Die Kombination aus einer einzigartigen Stellung auf der Weltkarte und den Besonderheiten der heimischen politischen Ordnungen machen die Amerikaner und ihre britischen Verwandten zu sehr ungewöhnlichen Teilnehmern des internationalen Lebens. Ihre schwache Fähigkeit, in einem Kollektiv zu kommunizieren, führt dazu, dass sie sich ausgegrenzt verhalten und nur auf Gewalt setzen. Dies entspricht voll und ganz der ursprünglichen Bedeutung von "rogue actor" (auf Deutsch etwa: "böswilliger Akteur", "Schurke"), also einer Person, die isoliert von der Gesellschaft lebt und sich nicht an der Formulierung der gesellschaftlichen Regeln beteiligt.
Die politische Kultur der USA und Großbritanniens lässt sehr wenig Raum für Kompromisse mit anderen. Und das ist für die Welt ein größeres Problem, das nur teilweise und ausschließlich mit diplomatischen Mitteln bearbeitet werden kann. Ein gemeinsames Heim (eine internationale Ordnung) mit jenen zu bauen, die dazu völlig unfähig sind, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Jede Übereinkunft wird vorübergehend sein und von ihnen gemäß ihrer Innenpolitik verändert werden.
Der einzige Weg, für Russland, China und die Masse der anderen Staaten auf diesem Planeten eine gemeinsame Zukunft zu planen, ist, diese schwierigen Partner auf verschiedene Weisen einzuhegen. Und darauf zu setzen, dass eine solche Einhegung in den USA und in Großbritannien zu einer angemesseneren Wahrnehmung führen wird.
Übersetzt aus dem Englischen.
Timofei Bordatschew ist Programmdirektor des Waldai-Clubs.
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