Von Tom J. Wellbrock
Wir erinnern uns: Seit der aktuelle Ukraine-Krieg am 24. Februar 2022 begann, werden die Bürger Deutschlands und Europas darauf hingewiesen, dass die Soldaten des Oberbefehlshabers Wladimir Selenskij die ganze Demokratie verteidigen. Sie kämpfen für unsere "wertebasierte Ordnung", die nie zuvor ein Mensch jemals irgendwo nachlesen konnte, weil sie nie schriftlich formuliert wurde. Gegen Russland haben die tapferen Ukrainer den Westen gegen den russischen Einfluss verteidigt, der Kampf gegen Wladimir Putin galt also nicht nur der Selbstverteidigung der Ukraine, sondern der Bewahrung der gesamten westlichen Welt.
Ein militärischer Sieg der Ukraine war unverzichtbar, denn Putin wollte nicht etwa bloß eine "Entnazifizierung" der Ukraine und sich den Donbass einverleiben, nein, er wollte die Ukraine in Gänze in seinen Klauen zermalmen. Vom ersten Kopfkissen über modische Helme bis hin zu Panzern und anderem schweren Gerät musste die Ukraine durch den Westen unterstützt werden.
Der Plan ging nicht auf
Dass die Waffenlieferungen teils so schleppend vorankamen, hat sicher viele Gründe, und das Zögern eines Kanzlers Olaf Scholz (SPD) gehört dazu. Es grenzt zwar an das Zeichnen der Quadratur des Kreises auf einen Zauberwürfel, in Scholz' Politik etwas Positives zu erkennen, aber sein Zögern bei der Lieferung schwerer Waffen war sicherlich etwas, das man ihm anrechnen muss. Dennoch kann man im Nachhinein sagen, dass die Ukraine zu keinem Zeitpunkt ausreichend mit militärischem Gerät versorgt werden sollte, um den Krieg zu gewinnen. Der Zweck dieser Auseinandersetzung war in erster Linie die Schwächung und Beschäftigung Russlands, nicht die Stärkung der Ukraine.
Das Kalkül ging bekanntermaßen nicht auf, denn neben den militärischen Aktionen spielten die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland eine wichtige Rolle bei der westlichen Strategie. Man hatte gehofft, Russlands Wirtschaft in die Knie zu zwingen und somit über kurz oder lang zu Unzufriedenheit der Bevölkerung beitragen zu können. Die sollte dann den Rest übernehmen und Putin stürzen. Wenn die Unruhe in der Bevölkerung dann erst einmal groß genug gewesen wäre, hätten die USA und der Westen ein paar Millionen Dollar in die Hand genommen, eine "Revolution" organisiert und orchestriert und im Nu wäre der Präsident der Russischen Föderation Geschichte gewesen. Das Tor zu den unendlichen Weiten Russlands und all seiner Rohstoffe wäre weit geöffnet gewesen.
Wie gesagt: Das Kalkül ging nicht auf, Russland steht wirtschaftlich mit beiden Beinen auf festem Boden, die Russen bringen Putin viel Vertrauen und Zustimmung entgegen.
Mehr als zwei Jahre Krieg zeigen aber noch etwas anderes: Das Narrativ der Verteidigung der westlichen Werte taucht kaum noch auf. Schlagzeilen über die Ukraine gibt es täglich, wir befinden uns im medialen Dauerfeuer, ohne jedoch Relevantes zu erfahren. Genaugenommen werden die Berichte über die Ukrainer immer langweiliger. Wir erfahren etwa, dass ein Europaminister sich mit Selenskij getroffen hat, dass es super läuft zwischen der Ukraine und Rheinmetall oder dass nach einem Streit zwei ukrainische Soldaten aufeinander geschossen haben. Die Berichte bewegen sich also zwischen Seifenoper und Irrelevanz.
Die neue Erzählung: Russland angreifen
Kürzlich unterlief der "Sicherheitsexpertin" Claudia Major ein Fehler. In einer Kolumne für das Handelsblatt rutschte ihr etwas heraus, das sie eigentlich so nicht gemeint haben will. Sie schrieb:
"So hart es klingt: Im Ernstfall müssen Nato-Staaten auch selbst angreifen können, zum Beispiel um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese Nato-Gebiet angreifen können, und um russische Militärziele zu zerstören, wie Kommandozentralen."
Die sozialen Medien haben viele Augen, und so dauerte es nicht lange, bis Major bei ihrer Forderung, bei Gelegenheit auch ohne einen Angriff Russlands präventiv Raketen gen Osten zu schießen, entdeckt wurde. Bei ihrem perfiden Plan ertappt, stellte Major klar, dass sie missverstanden worden sei, aber selbst eine kurze und oberflächliche Analyse ihres Textes zeigt, dass sie es genau so meinte, wie sie es geschrieben hatte.
Major ist damit Teil der neuen Erzählung des Westens. In Deutschland war es Boris Pistorius (SPD), der aus der notwendigen Verteidigung der Ukraine eine für Deutschland kreierte. Nun will Russland sich also nicht mehr nur die Ukraine unter den Nagel reißen, sondern Deutschland, Moldau, Georgien, was auch immer. Berlin, Brüssel, Paris und London sind plötzlich nicht mehr sicher vor dem brutalen Imperialismus Putins.
Das hat Folgen. Zunächst für die Ukraine, denn ihre Bedeutung für den Westen hat um einen erheblichen Faktor abgenommen. Da es jetzt um die Landesverteidigung Deutschlands geht, müssen die Investitionen neu verteilt werden. Alles, was in die Ukraine geht, fehlt im eigenen Land, und auch wenn die Rhetorik nach wie vor inbrünstig die volle Unterstützung der Ukraine in die Welt posaunt, sieht die Realität anders aus. Nach und nach wird die Ukraine ihrem Schicksal überlassen, und das liegt in den Händen mächtiger Finanzkonzerne, die ihre neoliberale Agenda ausleben werden. Wenn die "Selbstverteidigung" der Ukraine erst einmal abgeschlossen ist, wird die dann endlich erreichte "Freiheit" den schalen Beigeschmack von Abhängigkeit und finanzieller Katastrophe haben. Zum Schluss wird alles am Ende sein für die Ukraine, aber ganz sicher nicht alles gut.
Es hat aber auch Folgen für den Westen, für Deutschland. Da das russische Bedrohungsszenario aufgemacht wurde, muss Deutschland anders agieren. Die deutsche Propaganda läuft auf Hochtouren, und sie funktioniert dank willfährig arbeitender Medien gut, sodass die Angst vor dem "bösen Russen" sich ausbreiten kann oder besser: ausgebreitet wird. Man arbeitet intensiv daran, die Deutschen auf einen Krieg mit Russland einzustimmen, und man rackert sich ab, um der Bevölkerung weiszumachen, dass der Krieg von Russland ausgehen wird und man haufenweise Geld in die Verteidigung stecken muss.
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Kolumne der Claudia Major zu verstehen. Faktisch hegt Russland keinerlei Angriffspläne gegen den Westen, im Gegenteil, das größte Land der Welt kehrt dem Westen sogar den Rücken, setzt auf verlässliche Partner und orientiert sich in viele Richtungen neu. Natürlich kann man der deutschen Bevölkerung bis zu einem gewissen Punkt versichern, Russland wolle Deutschland oder ein anderes NATO-Land angreifen, das ging mit der Ukraine-Erzählung ja auch. Doch irgendwann ist der Punkt der Glaubwürdigkeit überschritten. Der Westen muss dann erneut zurückrudern oder die Geschichte verkaufen, dass er selbst angreifen muss, bevor Russland es tut. So wie Claudia Major es ja vorauseilend formuliert hat.
Ebenso denkbar ist aber auch, dass die Illusion einer russischen Bedrohung nach und nach versickert, für die nächsten Jahre sind die Rüstungsindustrie und alle ihr verbundenen Lobbys gut versorgt, die Umsätze und Gewinne werden in schwindelerregende Höhen klettern. Zudem: An mangelnden Kriegen wird die Rüstungsindustrie nicht zusammenbrechen, nicht, solange die USA und die NATO die Macht haben, die sie nun einmal haben.
In Zeiten des Krieges
Die Zeiten des Friedens sind vorbei, das sagte mit eiskaltem Kalkül vor einiger Zeit Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius ganz offen. Und er hat recht, wenn auch anders, als er es meinte.
Der Umbau der Weltordnung ist nicht zu stoppen, die multipolare Ordnung wird die kapitalistisch-imperiale ablösen. Der Westen kann zetern und pöbeln, dass Russland sich ausdehnen und die westlichen Länder unterwerfen will, es ist nur hohles Geschwätz. Der Westen hat eine blutige Geschichte des Kolonialismus, der Westen ist für Land Grabbing, Regime Changes, politische und wirtschaftliche Einflussnahme und Ausbeutung anderer Länder verantwortlich. Und die Ausgebeuteten spüren Morgenluft, sie erkennen, dass ihre Zeit des Leidens bald vorbei sein könnte und orientieren sich in Richtung der Länder, die für eine neue, eine kooperative Form der Existenz stehen.
Es kann nicht überraschen, dass der Übergang zur Multipolarität zu Konflikten mit denen führt, die ihre Rolle in der Welt künftig neu interpretieren werden müssen. Wenn ein immer wieder nach Worten suchender US-Präsident es schafft zu erklären, die USA (und er) regieren die Welt, muss man konstatieren, dass da kein Verständnis und kein Verstehen darüber ist, dass dies jeden Tag ein wenig mehr eine falsche Tatsachenbehauptung ist. Die USA regieren nicht die Welt, sie zerstören sie, und die andere Seite sieht nicht weiter dabei zu.
Die Zahl der weltweiten Kriege wird weiter zunehmen, nicht nur, weil davon mächtige Lobbygruppen profitieren, sondern auch, weil dem Westen nichts mehr einfällt, um mit der neuen aufkommenden Weltordnung umzugehen. Und je moralischer für den Krieg argumentiert wird, desto deutlicher wird, dass es die Unmoral ist, die die Initiatoren motiviert. Die eigene Zerstörung, die sie dabei begehen, merken die Beteiligten nicht, und die Zerstörung der Bevölkerungen, die damit einhergehen, ignorieren sie.
Alles in allem gibt es keinen Grund, dem Ende des Ukraine-Krieges mit Freude entgegenzusehen, sieht man einmal davon ab, dass dadurch weniger Menschen sterben. Denn die Ukraine ist auf Jahrzehnte ein zerstörtes Land, der Wiederaufbau wird in neoliberaler und somit höchst brutaler und kriegerischer Weise erfolgen, die nächsten Kriegsplanungen liegen bereits in halb geöffneten Schubladen.
Daher wird eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg auch keine Entspannung zwischen dem Westen und Russland (oder China) bringen. Den Krieg gegen die multipolare Welt wird der Westen weiterführen, auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen. Er wird ihn verlieren, aber er weigert sich, diese Tatsache zu sehen und anzuerkennen.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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