Von Rüdiger Rauls
Feudalherrschaft in Europa
Die Geschichte Europas vor der Französischen Revolution war die Geschichte der Feudalherrschaft. Der Adel war die herrschende Klasse. Die wirtschaftliche Grundlage des Feudalismus war die Landwirtschaft, die sich im Laufe der Entwicklung immer mehr auf zinspflichtige Bauern stützte. In der Hochzeit der Adelsherrschaft war der freie Bauer weitgehend verschwunden und zum abhängigen Tributpflichtigen geworden. Als entgegengesetzte Entwicklung bildete sich das Bürgertum als neue Klasse – vornehmlich in den Städten. Dessen wirtschaftliche Grundlage waren Handwerk, Handel und Geldwirtschaft.
Zur Steigerung ihrer Finanzkraft standen den Feudalherren im Wesentlichen zwei Wege zur Verfügung. Entweder sie erhöhten die Abgaben und Steuern ihrer Untertanen oder aber sie erweiterten deren Anzahl, das heißt, sie weiteten ihren Landbesitz aus und damit die Zahl der zinspflichtigen Bauern. Der Zuwachs von Ackerland vollzog sich im eigenen Herrschaftsbereich durch Rodungen, Trockenlegung von Mooren oder Eindeichungen.
Ein anderer Weg zur Ausweitung der feudalistischen Wirtschaftsgrundlage bestand in der Übernahme anderer Ländereien durch Heirat oder Krieg. Krieg war immer teuer und risikoreich, denn er konnte auch verloren gehen, weshalb man ihn entgegen herrschenden Meinungen lieber vermied. Eine weitere Möglichkeit bestand in der Landnahme durch Eroberungszüge. Diese richteten sich weitestgehend in die dünn besiedelten Landstriche im Osten Europas.
Die europäischen Feudalherrn schufen neue Siedlungsräume, in denen sie ihre zinspflichtigen Bauern ansiedelten oder aber die eingesessene Bevölkerung zinspflichtig gemacht wurde, soweit sie es nicht bereits gegenüber früheren Feudalherren gewesen war. Landnahme war nur sinnvoll in Verbindung mit der Bereitschaft zur Sesshaftigkeit und der Leistung von Abgaben durch die Bauern. Diese Entwicklung der Landnahme und Errichtung von Feudalherrschaft vollzog sich von Westen nach Osten. Eine dauerhafte Landnahme von Osten nach Westen fand nicht statt.
Nomaden und Reitervölker
Die Sesshaftigkeit ist eine spätere Stufe in der Menschheitsentwicklung. Sie ist verbunden mit einer entwickelten Landwirtschaft, die in der Lage ist, die Mitglieder einer Gesellschaft zu ernähren. Entwicklungsgeschichtlich ging ihr die Nomaden- beziehungsweise Hirtenwirtschaft voraus. Den Menschen war es gelungen, wilde Viehherden wie Schafe, Ziegen oder Rinder teilweise zu beherrschen und für ihren Lebensunterhalt zu nutzen. Sie folgten diesen Herden durch deren Weidegründe und bedienten sich an ihrem Fleisch, ihrer Milch, ihren Häuten und was sonst noch verwertbar war. Sesshaftigkeit war in diesem Zusammenhang nur vorübergehend. Die Menschen auf dieser Entwicklungsstufe waren angewiesen auf offenes Land ohne Grenzen und Besitzansprüche.
Die riesigen Flächen des eurasischen Raums boten dieser Nomaden- und Hirtentätigkeit eine ideale Grundlage. Aber sie standen im Widerspruch zu Landwirtschaft und Sesshaftigkeit, was kein Problem war, solange nicht beide Lebensformen in Kontakt und Konflikt kamen. Um diese Lebensformen gegen Gefahren zu schützen, waren unterschiedliche Vorgehensweisen der Absicherung notwendig. Der Feudalismus schützte seine Länder und Bauern durch mehr oder weniger befestigte, aber erklärte Grenzen, Wehrkerne in Form von Burgen und mehr oder weniger stehende Heere.
Für Nomaden- und Hirtenvölker war das bedeutungslos. Für sie war es wichtig, in den Weiten des endlosen und nicht durch Eigentumsrechte geschützten Raums schnell dort eingreifen zu können, wo Gefahren für ihre Herden und Lebensgrundlagen drohten. Ihr Schwerpunkt zur Gefahrenabwehr lag auf der leichten Reiterei und leicht mitzuführenden Waffen wie Pfeil und Bogen. Diese Völker entwickelten sich zu schnellen und sehr wirkungsvollen Reitertruppen.
Aber im Laufe der Entwicklung nutzten sie diese Fähigkeiten nicht nur zum Schutz der eigenen Interessen und Eigentümer, sondern auch zur Aneignung fremden Eigentums. Dieser schnellen Reiterei mit ihren wirkungsvollen Distanzwaffen waren die plumpen, in schweres Eisen für den Nahkampf gerüsteten Heere der Feudalherren nicht gewachsen.
Hunnen und Mongolen tauchten plötzlich auf aus den Weiten des Ostens, überfielen die europäischen Bauern und Fürstentümer, plünderten und raubten, was sie mit sich nehmen konnten, und verschwanden wieder in den Weiten, aus denen sie gekommen waren. Anders als bei den Feudalherren waren ihre Einfälle nicht auf dauerhafte Landeroberung ausgerichtet.
Anstatt dieses fremde Land in Besitz zu nehmen, nahmen die Reitervölker den Ertrag dieses Landes in Besitz. Mit den geraubten Werten der Feudalgesellschaft zogen sie wieder ab, um dann nach Jahren wieder erneut einzufallen und das einzukassieren, was in der Zwischenzeit von den Sesshaften erwirtschaftet worden war.
Die Stunde der Ideologen
Dieser Konflikt zwischen Sesshaften und Nomaden, als Ausdruck unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklung, hatte sich im europäisch-asiatischen Raum über Jahrhunderte hingezogen. Noch heute tobt er in ähnlicher Form im Norden Afrikas und der Sahelzone, umgedeutet von westlichen Meinungsmachern als Religionskonflikt zwischen Christen und Moslems. Er tobte aber nicht nur zwischen den Nomaden- und Reitervölkern und den Feudalgesellschaften im Westen. Er griff auch nach Osten beziehungsweise Süden aus, in Richtung China, was zum Bau der Chinesischen Mauer geführt hatte.
Was also in Europa als Bedrohung aus dem Osten zu einer ständigen Gefahrenlage verewigt wurde, könnte in China zum Schlagwort für eine Bedrohung aus dem Westen oder Norden herhalten, wenn man das denn wollte. Im Westen jedenfalls haben diese historischen Ereignisse zu einem Missbrauch im Interesse von Propaganda und Meinungsmache bereits nach der Russischen Revolution, besonders aber seit der Nazizeit geführt. Die Gefahr aus dem Osten diente hauptsächlich der Stimmungsmache gegenüber der Sowjetunion und ihrem damaligen sozialistischen System mit seiner tragenden Kraft, der Kommunistischen Partei.
Die Niederlage des Faschismus gerade durch diese Sowjetunion bestätigte im Westen bei vielen politischen Kräften die Theorie von den primitiven Horden aus den Weiten Russlands. Das war nach dem Krieg der Begriff, auf den sich viele im Westen verständigen konnten, weil man vom slawischen Untermenschen nur noch hinter vorgehaltener Hand redete. Bei vielen im Nachkriegsdeutschland galt als Erklärung für die eigene Niederlage, dass man im Gegensatz zu den Mitgliedern des deutschen Kulturvolkes die primitiven Russen zu Millionen in den Fleischwolf des Krieges werfen konnte, weil dort ein Menschenleben wenig galt.
Aufgrund dieses primitiven Charakters bestand die Bedrohung aus dem Osten weiter fort, solange "der Russe" weiterhin im Osten lauerte. Das war auch im Adenauer-Deutschland eine weitverbreitete Einstellung gegenüber der Sowjetunion, die es angeblich nur auf Deutschlands Wohlstand abgesehen hatte und deshalb auch jederzeit bereit sei, über unschuldige Deutsche herzufallen. Da mischte sich die Jahrhunderte alte Erfahrung von den Raubzügen der Hunnen- und Mongolenstürme mit dem neuen Weltbild der kommunistischen Bedrohung.
Dass zu jener Zeit der Sozialismus mit seiner Forderung nach der Enteignung der Kapitalbesitzer starken Zuspruch auch in den westlichen Gesellschaften hatte, verstärkte dieses Feindbild und die damit verbundenen Ängste und Projektionen. In diesem Weltbild stehen dem deutschen Kulturvolk primitive Horden gegenüber, egal ob es sich dabei um Hunnen, Mongolen, slawische Untermenschen, fanatische Bolschewiken oder sonstige kulturlose Gruppen oder Völker handelt.
Heute schließt sich daran auch Wladimir Putins Russland nahtlos an. Seit der politische Westen woke geworden ist und dem Rassismus abgeschworen hat, steht Russland nicht mehr für den slawischen Untermenschen. Aber dennoch wird weiterhin ein kulturelles Gefälle zwischen dem politischen Westen und Russland gesehen und vermittelt. Nach Ansicht der westlichen Meinungsmacher ist Putin getrieben von der Angst, dass sich an den Grenzen seines autokratischen Reiches Demokratien westlichen Zuschnitts entwickeln. Deren überlegene freiheitliche Lebensart übt nach Ansicht dieser Meinungsmacher eine Anziehungskraft aus, der Russland wenig entgegensetzen kann.
Wenn auch faschistische Parolen im woken Westen nicht mehr salonfähig sind, so wird doch immer wieder deutlich, dass sich die westliche Führungsriege in Medien, Politik und Wissenschaft immer noch Russen und Chinesen intellektuell und kulturell überlegen fühlt. Man sagt es nicht mehr, merkt es vermutlich sogar nicht einmal mehr selbst, aber aus vielen Veröffentlichungen schimmert das Herrenmenschendenken immer noch durch. Rassische Überlegenheit gegenüber Untermenschen wurde ersetzt durch die Vorstellung kultureller, moralischer und intellektueller Überlegenheit.
Unfähige Ideologen
Solche Theorien sagen aber mehr aus über diejenigen, die sie schaffen und verbreiten, als über jene, mit denen sie sich beschäftigen. Der politische Westen kann sich nicht trennen von dem Wahn eigener Überlegenheit, und je fadenscheiniger und inhaltsloser solche Vorstellungen werden, umso heftiger scheint sich der Kampf um deren Aufrechterhaltung zu gebärden.
Jene, die solche Weltbilder bedienen, belegen nichts weiter als die eigene Unfähigkeit, geschichtliche Vorgänge als geschichtliche, das heißt, vergangene zu betrachten. Sie sind nicht in der Lage, die Unterschiede zwischen den Zuständen zu erkennen, geschweige denn Entwicklung wahrzunehmen. Für sie ist die Welt stehen geblieben in den Hunnen- und Mongolenstürmen. Für sie ist gleich, was ähnlich aussieht, und das versuchen sie mit oberflächlichen Analysen zu belegen. Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, ist das eine Erklärung dafür, dass die Gefahr immer aus dem Osten kam, die Russen ein kulturell niederes Volk sind, das die Demokratie fürchtet und die starke Hand eines autokratischen Führers braucht.
Im Weltbild der westlichen Meinungsmacher leben die Gefahren aus den Weiten des eurasischen Ostens und seiner Bewohner, den Russen, weiter. In Ermangelung tieferer Einsichten in die Entwicklung von Gesellschaften und Menschheit greifen sie zurück auf einfache Weltbilder. Ihre Fähigkeit zur Analyse ist so weit verödet, dass weiterhin alte Ängste gepflegt und damit bedient werden – wie die der Gefahr aus Russland oder die Angst der Europäer, besonders der Deutschen, vor der Inflation.
Das sind alte Ängste, denen heute die Grundlage fehlt. Da aber die inneren Triebkräfte solcher Entwicklungen nicht erkannt werden, schwelen sie als Ängste weiter. Die Meinungsmacher und Ideologieschaffenden im Westen sind immer weniger in der Lage, diese Ängste durch sachliche Erklärungen aus der Welt zu schaffen. Hinzu kommt, dass sie es in vielen Fällen auch gar nicht wollen.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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