Von Rainer Rupp
Auf der Webseite der RAND-Corporation erschien Anfang dieses Monats ein Interview mit der hochrangigen RAND-Mitarbeiterin Ann Marie Dailey unter dem Titel "The United States, NATO, and Geopolitical Strategies" (Die Vereinigten Staaten, NATO und geopolitische Strategien). Die RAND-Corporation ist die berühmt-berüchtigte, gigantische Denkfabrik, die von der U.S. Air Force im Kalten Krieg als geostrategisches Analysezentrum gegründet worden war. Im Laufe der Zeit mutierte RAND zu einem der einflussreichsten Zentren der US-Kriegstreiber, die mit dem militärisch-industriellen Komplex Hand in Hand zusammenarbeiten und von letzterem großzügig finanziert werden. Hier ein prägnanter Auszug aus dem Interview:
Frage an Ann Marie Dailey:
"Apropos US-Hilfe für die Ukraine: Sie haben davor gewarnt, dass das Ausbleiben der US-Unterstützung für die Ukraine eine 'Serie von amerikanischen Niederlagen' einleiten würde. Inwiefern?"
Antwort von Ann Marie Dailey:
"Es gibt Leute in Washington, die sagen, dass wir die Ukraine nicht weiter unterstützen können, weil dies unsere Fähigkeit untergräbt, uns auf China vorzubereiten. Aber wenn wir uns auf einen möglichen zukünftigen Konflikt mit China vorbereiten, gibt es zwei Welten, in denen wir ihn austragen könnten:
Das eine ist eine Welt, in der die Ukraine verliert. In dieser Welt werden alle unsere europäischen Verbündeten sich darauf konzentrieren, sich vor dem nächsten Angriff aus Russland zu schützen. Die Vereinigten Staaten werden diplomatisch isolierter sein, weil diese 31 NATO-Verbündeten viel mehr um ihre eigene Sicherheit besorgt sein werden als darum, den Vereinigten Staaten in einem Kampf gegen China zu helfen.
Die andere Welt ist eine, in der die Ukraine gewinnt. Dann haben Sie eine Ukraine, die die größte und fähigste Armee in Europa sein wird und als Bollwerk gegen russische Aggressionen dient. Die siegreiche Ukraine gibt den Vereinigten Staaten eine starke europäische Flanke im Osten. Dort haben wir Länder, die nicht nur von ihrer eigenen Sicherheit überzeugt sind, sondern auch von der kollektiven Fähigkeit der NATO, Aggressionen abzuschrecken und zu besiegen. Sie werden eher bereit sein, uns beizustehen, wenn sich die USA in einem Krieg im Indopazifik befinden. Die Vorstellung, dass die Hilfe für die Ukraine uns dabei behindert, uns auf einen Krieg mit China vorzubereiten, bedeutet, die Welt als flach zu sehen, obwohl sie rund ist."
Die Rand-Analystin macht kein Geheimnis aus dem Endziel der USA und über den eigentlichen Sinn und Zweck des blutigen Krieges mit Hunderttausenden Toten ukrainischen Soldaten und geschätzt einer Million Verwundeten. Auch sie will den Krieg gegen China. Aber sie weiß, dass die USA die ökonomische, politische und militärische Hilfe ihrer europäischen Vasallen benötigen, um gegen China anzutreten. Wenn der Krieg in der Ukraine mit einem Sieg Russlands endet, dann werden die USA an Einfluss in Europa verlieren.
Um China zu bekämpfen, müssen die USA ihre Kontrolle über Europa stärken, unabhängig von den menschlichen und wirtschaftlichen Kosten auf dem europäischen Kontinent. Die globale Hegemonie der USA steht auf dem Spiel. Frieden ist für RAND und seine Geldgeber in Washington und im Militärisch-Industriellen Komplex ein Gräuel, weil er eine neue, multipolare Weltordnung einläuten würde, und dann könnte nichts die europäischen Vasallen davon abhalten, sich zu emanzipieren und amerikanischen Joch zu befreien.
Aber wie kommt Ann Marie Dailey zu einer derartigen Analyse, die einen Tunnelblick mit außerordentlicher Skrupellosigkeit verbindet, denn die Folgen ihrer Politikempfehlung in Gestalt zahlloser Menschenopfer scheinen ihr keine Überlegung wert. Dabei ist Ann Marie Dailey offensichtlich eine hochintelligente, vielseitige und effiziente Frau. Sie hat einen Master-Abschluss in internationaler Wirtschaft, ist anschließend zum Militär gegangen und wurde Hauptmann bei den US-Pioniertruppen, um anschließend Politikberaterin zu werden, wobei sie unter anderem als leitende Beraterin des stellvertretenden US-Verteidigungsministers für internationale Sicherheitsangelegenheiten mit Schwerpunkt Russland, Europa und Eurasien tätig war.
Zugleich scheint Ann Marie Dailey der lebende Beweis dafür zu sein, dass hohe Intelligenz nicht vor dummen oder gar verheerenden Schlussfolgerungen schützt, etwa wenn man gegenüber dem russischen Gegner voreingenommen ist oder gut dafür bezahlt wird, scheinbar schlüssige Analysen anzufertigen, die im militärisch-industriellen Komplex hochgeschätzt werden, weil sie zukünftige Profite sichern, wie ihre Politikempfehlung im Interview zeigt.
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