Von Wladislaw Sankin
Auch nach zweieinhalb Jahren der russischen Militäroperation in der Ukraine ist dieses Video ein äußerst seltener Fund. Es zeigt den Anflug von vier russischen Ch-101-Marschflugkörpern auf einen Rüstungsbetrieb in Kiew. Nur 29 Sekunden ist es lang und wurde von einem Augenzeugen mit seinem Smartphone von den oberen Stockwerken eines Mehrfamilienhauses aus aufgenommen. Er sah sich offenbar nach der ersten Explosion in der Nähe sofort veranlasst, die Kamera einzuschalten und sie auf die aufsteigenden Rauchwolken zu richten. Er konnte nicht ahnen, dass er nur zwei Einschläge verpasst hat und noch vier weitere folgen würden.
Bei Sekunde fünf tauchte im Bild die dritte Rakete auf, dann die vierte, die fünfte und, weniger sichtbar, die sechste. "Artjom wird beschossen", sagt der Mann hinter der Kamera. "Artjom" ist eine große Maschinenfabrik im Kiewer Schewtschenko-Bezirk, die auch Rüstungsgüter für Präzisionswaffen herstellt. Das waren die einzigen ins Deutsche übersetzbaren Wörter, die der Mann in dem Video gesagt hat. Das Übrige waren rein emotionale Ausdrücke, die nur im "Mat", einem vulgären Jargon des Russischen, existieren. Seiner Tonlage nach klang der Kiewer eher begeistert als erbost. Hier ist unsere Quelle so unzensiert, wie wir sie auf Telegram fanden (Achtung: 18-plus-Inhalt):
Das Staunen ist verständlich, denn es war ein gewaltiges Schauspiel, das sich vor seinen Augen zeigte. Aufgetaucht ist das Video noch am selben Abend auf prorussischen Telegram-Kanälen – ohne die in diesem Fall übliche Verpixelung. Denn in der Ukraine ist es verboten, die Folgen des Beschusses zu filmen, um dem Feind nicht die Möglichkeit zu bieten, die Genauigkeit seiner Angriffe zu kontrollieren. Möglicherweise hat der Kiewer Augenzeuge die Aufnahmen prorussischen Kanälen direkt zugespielt, denn sie wurden nicht nur unverpixelt, sondern auch ohne jegliches Wasserzeichen veröffentlicht. Dass der SBU nun energisch nach dem Urheber des Videos fahndet, steht außer Zweifel.
Unser Thema ist heute aber nicht die fehlende Loyalität der Kiewer Bürger zum Regime in Kiew, sondern die "unendliche Geschichte" der angeblichen russischen Kriegsverbrechen. Ein Kriegsverbrechen liegt dann vor, wenn zivile Ziele gezielt beschossen werden. Dass die Russen an diesem Montag auch die Kiewer Kinderklinik "Ochmatdit" angegriffen haben, gilt nach einer "Bestätigung" durch die UNO als unbestreitbare Tatsache – so steht es zumindest in dem Eintrag in der US-kontrollierten Wikipedia, der sich wiederum auf einen Tagesschau-Artikel stützt.
Um die Schuld Russlands zu begründen, genügt es, die russischen Quellen und Analysen einfach per se als Desinformation und Propaganda zu diskreditieren. Zur Sicherheit blockiert man auch gleich noch den Zugang zu ihnen. Aber der Weg zu ihnen findet sich dennoch früher oder später. Und was dann? Dann eignet man sie sich als Bestätigung der eigenen Thesen an – dessen ungeachtet, was sie in Wirklichkeit zeigen.
Es ist schwer zu sagen, was den deutschen Propagandisten des Kiewer Regimes Julian Röpcke dazu bewegt hat, das oben beschriebene Video in seiner Bild-Sendung zu veröffentlichen. Anscheinend seine Liebe zu gewaltigen Kriegsbildern. Richtigerweise gestand er dabei ein, dass die Russen das Munitionswerk "Artjom" angegriffen haben, und zwar mit Ch-101-Marschflugkörpern. Die deutschen Zuschauer konnten sehen, wie die massiven Marschflugkörper mit deutlich erkennbaren "Flügelchen" eines nach dem anderen auf das Werk regnen.
Die russischen Behauptungen, dass "Ochmatdit" von einer ukrainischen Flugabwehr-Rakete getroffen wurde, seien eine "pure Lüge". Die "qualitativ hochwertigen Videoaufnahmen" hätten dies bestätigt, sagt Röpcke stolz zu Anfang des Videos. Und griff dabei auf das schon allseits bekannte Video zurück, das den Anflug einer Rakete in der Nähe des Krankenhauses zeigt.
Mitten im Bild sind die aufsteigenden Rauchwolken über dem nahe gelegenen Werk "Artjom" zu sehen – der Angriff auf die Fabrik ist da bereits geschehen. Plötzlich fliegt von Westen her ein schmaler Flugkörper ins Bild, um einen Augenblick später das zweistöckige Klinik-Gebäude teilweise zu zerstören. "Das ist der russische "Ch-101" – kommentiert Röpcke und fügt "fachmännisch" hinzu, dass der "Marschflugkörper" von Bombern wie der TU-95 abgefeuert wird.
Das Problem ist jedoch: Diese Rakete hat erkennbar keine speziellen Flügelchen und sieht deutlich kleiner und dünner aus, als der Marschflugkörper Ch-101, der im Russischen "крылатая ракета", zu Deutsch "geflügelte Rakete", heißt. Wie schon in den ersten Stunden nach dem Beschuss mehrfach rekonstruiert, haben wir auf diesem Augenzeugenvideo offenbar eine NASAMS-Rakete vom Typ AIM-120 der ukrainischen Flugabwehr vor Augen. Dem Bild-Propagandisten bleibt somit nichts anderes übrig, als diese Rakete bewusst falsch zu benennen. Kein Wunder, dass viele Nutzer unter dem Video vorsichtig anmerken: "Komisch, dass die beiden Ch-101 sich gar nicht ähnlich sehen." Im russischen Internet macht bereits eine Karikatur die Runde, die in Anspielung auf die nervigen CAPTCHA-Tests anschaulich zeigt, wie unterschiedlich die beiden Flugkörper aus den beiden Videos aussehen – "Wählen Sie den Richtigen!"
Inzwischen gibt es von dem NATO-nahen Rechercheteam Bellingcat eine grafische Untersuchung mit 3D-Modellen, die uns glauben machen will, dass es doch eine russische Ch-101 war, die das Krankenhaus traf. Doch Proportionen, Länge, Kondensstreifen, das charakteristische Pfeifen, Schrapnellbeschädigungen und die Wucht der Explosionen sprechen für die russische Version. An dieser Stelle laden wir RT-Leser dazu ein, sich gern selbst einen Eindruck von der Bilderschlacht zu machen, die sich der russische Telegram-Kanal War of Fakes und Bellingcat im Netz lieferten.
Die wichtigste Frage ist auch hier: Cui bono? Wodurch sollte Russland von diesem einzelnen und militärisch sinnlosen, propagandatechnisch aber verheerenden Schlag auf eine Kinderklinik profitieren, während es in der Lage ist, mit gleich sechs Marschflugkörpern ein wichtiges militärisches Ziel (mitten im Wohngebiet!) erfolgreich zu treffen? "Das machen sie ganz bewusst, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren", erklärt uns der Bild-Redakteur.
Doch diese Erklärung greift zu kurz und basiert nicht nur auf jahrhundertealter antirussischer Propaganda-Beschallung, sondern auch auf vielen anderen zweifelhaften Behauptungen und Verdrehungen, die sich später oft als unwahr erwiesen haben. Darunter etwa der angebliche Angriff auf ein Einkaufszentrum in Charkow oder der Angriff mit einer mutmaßlichen Totschka-U-Rakete auf den Bahnhof in Kramatorsk.
Nichtsdestotrotz: Wie präzise die russischen Militärschläge gegen die ukrainische Infrastruktur oder Militäreinrichtungen auch immer sein mögen, es können dabei leider immer Unbeteiligte sterben. Und unabhängig davon, ob der jüngste Vorwurf auf Tatsachen basiert oder nicht, der Aufschrei wäre unter einer Voraussetzung verständlich: Dann nämlich, wenn er bei israelischen Bombardements von Krankenhäusern und Flüchtlingslagern im Gaza-Streifen auch nur annähernd so laut wäre.
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