Von Wladislaw Sankin
Man hat mit Kiew ein kleines Problem. Die Stadt war mehrere Jahrhunderte eine Provinz im Südwesten des russischen Reiches. Dann rief eine Gruppe ukrainischer Nationalgesinnter in den Revolutionswirren des Jahres 1917 in Kiew die Ukrainische Volksrepublik aus. Nach mehrfachen Machtwechseln und einem langen Bürgerkrieg wurde Kiew schließlich zu einer Hauptstadt – der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetischen Republik. Ab nun an lag Kiew nicht mehr in Russland, sondern in der Ukraine.
Dabei war Kiew als Hauptfürstensitz des Alten Rus seit jeher ein symbolträchtiger Sehnsuchtsort für alle Liebhaber der orthodox geprägten russischen Kultur und Gelehrsamkeit. Darin besteht das Problem für alle, die Kiew rückwirkend in diese Zeit hinein zum Zentrum einer neuen, ukrainischen Nation erklären möchten. Auch in der russischen Folklore nimmt Kiew einen wichtigen Platz ein. Die Klaviersuite "Bilder einer Ausstellung" des Komponisten Modest Petrowitsch Mussorgski ist dafür ein Beleg.
Denn der wohl eindrucksvollste Teil der ganzen Suite, der fünfminütige Schlusssatz mit seinen majestätischen Klängen und den glockenartigen Akkorden, ist der Bildvorlage "Bogatyr-Tor in der alten Hauptstadt Kiew" gewidmet. Bogatyr heißt "der Recke", das Tor wird auch als "Heldentor" oder "Das große Tor von Kiew" übersetzt. Der deutsche Mussorgski-Interpret Markus Becker merkte dies in der Beschreibung zu seiner Doppel-CD "Kiev-Chicago" zu Recht an:
"Kiew steht für die russische Romantik des späten 19. Jahrhunderts."
Sowohl in ihrer ursprünglichen Klavierfassung als auch in der orchestrierten Version sind die musikalischen "Bilder einer Ausstellung" nicht nur ein Juwel der Musikgeschichte und ein weltweiter Publikumsliebling – die Suite ist auch ein fester Gegenstand der Schulbildung, auch in Deutschland übrigens. Und dabei hören die Kinder auch etwas über das große Heldentor von Kiew im Zusammenhang mit einem russischen Komponisten und über eine russische Märchenhexe namens Baba Jaga. Wie ist denn das möglich, wenn die ukrainische Hauptstadt neuerdings in Deutschland laut Bundesregierung doch nun eigentlich "Kyjiw" heißt?
Nun ja, wenn Kiew, Baba-Jaga und den Sankt Petersburger Russe Mussorgski nicht wirklich zu trennen ist, dann muss da eben etwas hineininterpretiert werden. Und dann lesen wir plötzlich zu dem jüngsten Konzert des oben erwähnten Pianisten folgende Sätze:
"Zutiefst ergreifend war, wie Markus Becker die finale Apotheose, "Das große Tor von Kiew" begann: nicht lautstark selbstbewusst, sondern sacht und innig. Vorausgegangen war innen der Schrecken, den die russische Hexe Baba Jaga verbreitet. Das war bei Becker keine bloße Märchen-Illustration, sondern ein Inbild an Brutalität und Bösartigkeit. Danach die Choral-Einblendung im Finale, sie musste man fast wie Bitte um Frieden hören."
Also ist laut dem Autor dieser Zeilen Thomas Wirth der Schlussteil der "Bilder einer Ausstellung" eigentlich die "Innere Bitte um Frieden". Seine Musikkritiken in der Fränkischen Landeszeitung sind dem jüngsten Konzert von Becker im Rahmen des 7. Liszt-Festivals an der Liszt-Akademie im mittelfränkischen Schloss Schillingsfürst gewidmet.
Becker, der schon 2014 eine CD mit "Bilder einer Ausstellung" veröffentlichte, fängt in der Tat "Das große Tor von Kiew" ungewöhnlich leise an. In der Regel wird dieser Teil eher energisch und laut gespielt. Und "Die Hütte der Baba Jaga" davor? Eigentlich ist sie immer ziemlich "brutal", aber auch komisch, so, dass die "Hütte auf Hühnerfüßen" wie betrunken wirkt – die Alte Baba Jaga ist in den russischen Märchen nicht wirklich eine hundertprozentig böse Person. In manchen Märchen ist sie teils auch listig und lustig und teils sogar bemitleidenswert. Und übrigens nicht ausschließlich russisch, denn "Baba Jaga" ist eine Figur der slawischen Mythologie.
Aber so oder so, dass der Journalist in seiner Kritik zur Musik von Mussorgski einen russischen Angriff auf Kiew hineininterpretiert hat, liegt heutzutage wohl auf der Hand. Aber war das seine Intention oder wirklich die des Pianisten? Das war nicht ganz klar. Klar war nur, dass dem Pianisten diese Interpretation zumindest gefallen hat – er hat den vollständigen Artikel auf seiner Facebook-Seite mit seiner Danksagung veröffentlicht:
Dann fragte jedoch eine RT-Leserin (die mir auch den Tipp zu dem Artikel gegeben hat) den Musiker direkt zu dieser fragwürdigen Interpretation. Markus Becker, der auch als Professor an der Musikhochschule in Hannover tätig ist, antwortete. Genauer gesagt, fragte er rhetorisch zurück: "Was wäre daran russophob?" Als die Leserin ihre Frage höflich erläuterte, schrieb er unwirsch zurück, dass es ihm schwer falle, ihr gegenüber nicht "bösartig zu werden". Ein Blick auf ihr Facebook-Profil habe ihm gerade gezeigt, wo das Problem ist: "Ich denke, wir lassen das!" In einem weiteren Post, der dann auf meine Einmischung erfolgte, weigerte sich der Musiker im Zusammenhang mit der "russischen Aggression in der Ukraine" von einem "BRD-Narrativ" zu sprechen und beendete die Diskussion. Die Fotowand auf seiner Facebook-Seite spricht für sich: Am 1. März 2022 schmückte er wie Tausende andere sein Profilbild mit einer Ukraine-Fahne.
Natürlich werden die lästigen RT-Leser und -Schreiber den Professor nun endlich in Ruhe lassen und nicht mehr versuchen, an seinem festgefügten Weltbild zu rütteln. Das Verhalten vieler Kulturschaffender im Zuge der Ukraine-Krise hat uns eines gelehrt: Wer ein unbeschwertes Leben im Kulturbetrieb weiterführen will, darf die offiziellen Narrative nicht hinterfragen. Noch besser sollten sie proaktiv werden und "den Aggressor" öffentlich verurteilen und Solidaritäts-Aktionen mit dem "angegriffenen Land" zeigen. Und wenn sie schon ein russisches Musikstück spielen wollen oder sollen, dann sollten sie das auch inhaltlich auf ganz "besondere" Weise begründen. Die denkwürdige "neue" Interpretation des Mussorgski-Klassikers in der Fränkischen Landeszeitung ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau diesem Zeitgeist entsprungen.
Nachtrag: Nach der Fertigstellung des Artikels flammte die Fachdebatte um Mussorgski auf der Facebook-Seite des Pianisten wieder auf – diesmal ohne unser Zutun. Einer der Nutzer wies auf eine frische Anmerkung des bekannten Mussorgski-Interpreten Jewgeni Kissin hin. Es lohnt sich, diese im Wortlaut wiederzugeben:
"Es gibt sicherlich einige Werke, die ich gegenwärtig nicht spielen würde, zum Beispiel Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung". Das letzte Bild dieses wunderbaren Zyklus heißt "Das große Tor von Kiew". Kiew wird in diesem Kontext als Hauptstadt Russlands angesehen. Auch Tschaikowskys "Ouvertüre 1812" op. 49, die von Russlands Sieg über Napoleon erzählt, halte ich gegenwärtig für problematisch. Man sollte auf alle die Werke verzichten, die russische Siege feiern".
Der russischstämmige Kissin ist radikaler Putin-Gegner, der von einem "ukrainischen Sieg" über Russland träumt und den Westen vor zu viel "Angst vor Eskalation" warnt. Seiner Argumentation konnte sich Markus Becker nicht anschließen. "Das Tor von Kiew" sei kein Auftragswerk Putins für seinen Einmarsch in der Ukraine gewesen, und ein russischer Sieg werde hier auch nicht gefeiert, schrieb er. Die ukrainische Haupstadt nannte er "Kyjiw". Politisch korrekt.
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