Von Alexej Danckwardt
Frankreich-Kenner überrascht es nicht: Das Land spielt wieder sein beliebtes politisches Spiel "Verhindert Le Pen", wie bei jeder Wahl der letzten 20 oder 30 Jahre schon. Das Wahlsystem des Landes, bei dem nach dem Mehrheitswahlrecht in Einpersonenwahlkreisen gewählt wird und im ersten Wahlgang für das Mandat die absolute Mehrheit erforderlich ist, macht dieses Spiel möglich und aus Sicht der Le-Pen-Hasser auch nötig.
Im zweiten Wahlgang wird überall dort, wo der Kandidat der Extremrechten reale Chancen auf das Mandat hat, eine Zweckkoalition der Linken und der Parteien der bürgerlichen Mitte gebildet, die versucht, alle ihre Anhänger für einen nichtnationalen Kandidaten zu gewinnen. Deshalb hatte der Front National, der vor einigen Jahren in "Rassemblement National" umbenannt wurde, bei allen vorausgegangenen französischen Wahlen weniger Sitze im Parlament erringen können, als es der landesweite Stimmenanteil eigentlich andeutete.
Auch jetzt soll nach demselben System der Sieg der Rechten noch einmal verhindert werden. Der Spitzenkandidat der linken "Neuen Volksfront", Jean-Luc Mélenchon, hat bereits am Wahlabend angekündigt, in nahezu allen Wahlkreisen, in denen der linke Kandidat nicht erstplatziert ist, diesen zugunsten von Macrons Neoliberalen zurückzuziehen. Die Empfehlung an die eigenen Anhänger war deutlich: lieber Macrons Leute wählen, als einen zusätzlichen Sitz für das Rassemblement National zu ermöglichen.
Ähnlich, wenn auch mit einem durchschaubaren Vorbehalt versehen, war die Empfehlung von Macrons glücklosem Regierungschef Gabriel Attal in der Wahlnacht: Die Wähler sollen sich hinter dem Kandidaten versammeln, "der unsere republikanischen Werte" teilt. Der hier verklausulierte Vorbehalt richtet sich gegen Kandidaten der Partei "La France Insoumise" (LFI) von Mélenchon, die zusammen mit Sozialisten, Kommunisten und Grünen die "Neue Volksfront" gebildet hat. Diese, nicht aber Sozialisten und Grüne, sind für Macron und Attal ähnlich "antirepubilkanische Radikale" und unerwünscht, wie die "Extremrechten" von Marine Le Pen. Nicht ohne Grund griff Attal – selbst der größte Verlierer des Wahlsonntags – in seinem nächtlichen Auftritt die "Neue Volksfront" ausdrücklich für das Bündnis mit den Mélenchonisten an und meinte, ohne LFI wäre das Ergebnis der Neuen Volksfront besser als die gestrigen 28 Prozent ausgefallen. Fragt sich nur, auf wen Macrons künstliche Partei "Zusammen" besser verzichtet hätte, um die Wahlschlappe von knapp 20 Prozent der Wählerstimmen zu vermeiden...
Wie dem auch sei, der "barrage républicain" – der "republikanische Damm" – zeichnet sich immer deutlicher ab. Und das ist in der Tat ein Problem für Marine Le Pen und ihre Anhänger. Aktuell hat das Rassemblement National nur 37 von 577 Sitzen sicher, die Linken konnten sich im ersten Wahlgang 32 sichern, die Macronisten ganze zwei. In 500 Wahlkreisen muss am kommenden Sonntag der zweite Wahlgang abgehalten werden und es ist die große Preisfrage, in wie vielen davon sich der RN-Kandidat gegen den Einheitskandidaten aller anderen Parteien durchsetzen kann.
Le Monde meldet am Montagabend, dass bereits 175 drittplatzierte Kandidaten ihre Kandidatur für den zweiten Wahlgang zurückgezogen haben, um einen Wahlsieg von Le Pens Mann oder Frau in ihrem Wahlkreis zu verhindern. Des Verständnisses wegen sei erwähnt, dass in Frankreich nicht nur die zwei im ersten Wahlgang bestplatzierten Kandidaten in die Stichwahl gehen, sondern jeder Kandidat, der im ersten Wahlgang mindestens 12,5 Prozent aller Wahlberechtigten seines Wahlkreises hinter sich vereinen konnte. Es sind somit auch Stichwahlen mit drei oder vier Kandidaten möglich und für den Sieg im zweiten Wahlgang reicht die relative Mehrheit. Das ist der Hintergrund des ganzen Geschiebes um den "barrage".
Meinungsforscher prophezeien dem Rassemblement National zwischen 230 und 280 Sitzen im Ergebnis des zweiten Wahlgangs. Selbst mit 280 Sitzen wäre das Ziel der eigenen parlamentarischen Mehrheit für Marine Le Pen und ihren Kandidaten für den Posten des französischen Premierministers Jordan Bardella verfehlt. Erforderlich sind 289 Sitze. Behalten die Meinungsforscher Recht (und danach sieht alles aus), wären Le Pen und Bardella für eine sichere Regierungsbildung auf Verbündete angewiesen, doch daran mangelt es. Zersplitterte Extremrechte haben bislang zwei sichere Sitze im Parlament, es kommen vielleicht noch zwei oder drei dazu.
Ein potenzieller Koalitionspartner könnten die Gaullisten und deren Partei "Les Républicains" (Die Republikaner) sein, doch schon der Versuch, dort über eine mögliche Zusammenarbeit mit Le Pen nachzudenken, hat kurz vor den Wahlen zur Abberufung von deren Parteivorsitzenden geführt. Die neue Parteiführung ist strikt gegen jede Zusammenarbeit mit Le Pen, und ob sich unter den letztlich gewählten Gaullisten Abweichler finden, steht in den Sternen. Damit sie überhaupt in Versuchung kommen, muss das Rassemblement National möglichst nah an die als Obergrenze des Machbaren gezeichneten 280 Mandate kommen. Und Linke wie Macrons Bürgerliche werden in den verbleibenden fünf Tagen alles daran setzen, das Ergebnis der Rechten möglichst gering zu halten.
Einen Strich durch die Rechnung kann Macron und den Strippenziehern der französischen Politik eigentlich nur der Wähler machen, wenn er von dem Zweckbündnis der vereinigten Linken mit dem für Wirtschaftsverfall, Sozialabbau und Kriegsgefahr verantwortlichen neoliberalen Macron stärker angewidert ist, als von der Aussicht auf national-konservative Ordnungspolitik, die Le Pen und Bardella dem Land verheißen.
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