Von Dmitri Bawyrin
Estland feiert ein Fest, die Menschen gratulieren einander persönlich und in sozialen Netzwerken, zu der guten Nachricht aus Brüssel: Kaja Kallas wird die nächste Hohe Vertreterin der EU für Außenpolitik werden.
Dabei freut die Esten und die estnischen Russen nicht der Aufstieg ihrer Regierungschefin an sich, ist es ihnen vollkommen egal, was aus Kaja Kallas persönlich wird. Hauptsache, sie ist nicht mehr Premierministerin des Landes.
Russische Sicherheitsbehörden schrieben sie Anfang des Jahres wegen der Demontage von Denkmälern für sowjetische Soldaten zur Fahndung aus. Aber auch die estnischen Nationalisten mögen Kallas nicht, da sie in Estland leben und die Ergebnisse ihrer Tätigkeit täglich mit eigenen Augen sehen. Das Anti-Rating der Premierministerin liegt bei 70 Prozent, genau so viele Bürger haben die Frage, ob Kallas gehen sollte, mit "Ja" geantwortet. Nur weg, egal wohin.
Im Vergleich zu dieser Blondine können selbst Joe Biden und Olaf Scholz als beliebt bezeichnet werden. Die Umfragewerte von beiden sind zwar beschämend niedrig, aber Kallas wird von ihren Mitbürgern aufgrund eines Zusammenspiels von zwei Umständen noch stärker als der deutsche und der US-amerikanische Politikerkollege gehasst.
Der erste davon ist der Zweite Kalte Krieg – nämlich der Versuch des Westens, Russland zu besiegen. Kallas trug ihren Teil dazu mit großem Enthusiasmus bei: Sie verhängte Sanktionen gegen Estlands großen Nachbarn, die über die gesamteuropäischen Sanktionen hinausgingen, und lieferte Waffen an die ukrainischen Streitkräfte, ohne auf einen Anstoß der Leiterin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, zu warten.
Innerhalb eines Monats nach Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine lieferte Estland Wladimir Selenskij Waffen im Wert von 0,8 Prozent des eigenen BIP. Spätere estnische Ersuchen um eine Aufstockung des US-Militärkontingents in der Republik wurden unter anderem dadurch ausgelöst, dass Kallas die Rücklagen für die Landesverteidigung in das "ukrainische Loch" gespült hatte.
Genauso "plötzlich" stellte sich heraus, dass Estland an Russland angrenzt und durch diese Nachbarschaft bislang Geld verdiente. Viel Geld. Der ehemalige "baltische Tiger" – die dynamischste Wirtschaft in der Region – wurde in einen Bärenwinkel zurückversetzt, eingeklemmt zwischen der "verbotenen Zone" und dem Finnischen Meerbusen. Die Folgen sind Rezession, Haushaltsdefizit und ein sinkender Lebensstandard.
Dennoch brauchte Kaja Kallas Geld – für die Ukraine und die Konfrontation mit Russland. Deshalb wurden Sozialprogramme gekürzt, Gebühren erhöht und neue Abgaben eingeführt – zum Beispiel für Autobesitzsteuer, was die Bevölkerung sehr verärgert hat.
Die Verarmung kratzt am Hochmut: Die Esten hatten sich bereits daran gewöhnt, sich nicht als Ost-, sondern als Nordeuropäer zu betrachten, also als Teil des skandinavischen Wohlstands. Das dürfte vorbei sein und nun konzentriert sich die Wut darüber auf Kallas: Sie hatte es immer und hat es immer noch zu bequem.
Kaja kennt keine Armut: Sie ist die Tochter von Siim Kallas, vor 1991 Leiter der sowjetischen Sparkasse in der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland. Kallas senior holte sowohl die estnische Republik als auch die Bank aus der Sowjetunion heraus und verdiente damit gutes Geld. Danach gründete er die liberal-nationalistische Reformpartei, war Chef des Außenministeriums und Finanzminister und amtierte von 2002 bis 2003 als Premierminister. Jetzt werden sowohl die Partei als auch die Regierung von seiner Tochter geführt, die zwar nicht besonders begabt, aber als einzige Tochter Siims Erbin ist.
Auch Kajas Ehemann Arvo Hallik ist nicht mittellos. Seit Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine, die bekanntermaßen mit der Zeit zusammenfiel, als seine Frau ihren Mitbürgern unter Gefängnisandrohung untersagte, Geschäfte mit Russland zu tätigen, erwirtschaftete sein Transportunternehmen mehrere Zehnmillionen Euro in Russland. Als der Fall ans Licht kam, musste sich die Premierministerin entschuldigen und beweisen, dass ihr Ehepartner seinen Anteil "zum Preis eines Sandwiches" verkauft hatte. Diese Aussage mag wahr sein oder auch nicht: Kallas machte schon früher falsche Angaben über das Familienunternehmen.
Für die Chefin der EU-Diplomatie ist die Fähigkeit zu lügen eine absolut notwendige Eigenschaft, weshalb Kallas befördert wird. Sie mag keine Diplomatin sein, aber sie ist eine Frau und eine Russenhasserin, die die allgemeine Linie des Westens gegenüber Kiew und Moskau vertritt.
Es kann sein, dass ihre neue Chefin, Ursula von der Leyen, sich in Kallas wiedererkennt. Auch die Chefin der EU-Kommission scheiterte in ihrem vorherigen Job – im deutschen Verteidigungsministerium, das sie sechs Jahre lang leitete, wobei sie die Kampffähigkeit des deutschen Vaterlandes kritisch verringerte und sich in der Bevölkerung unbeliebt machte. In Brüssel hingegen zeigte sie sich anders – als harter und unermüdlicher Rammbock gegen Zweifler.
Nachdem sich Brüssel vor allem mit dem Konflikt mit Moskau beschäftigt hatte, erwies sich Ursula als die zuverlässigste Lobbyistin der ukrainischen Streitkräfte und als Selenskijs Vertraute in Europa. Dabei rächte sie sich an denen, die sie unterschätzt und die sich zu ihren Feinden gemacht hatten.
Die neue fünfjährige Amtszeit als Chefin der Europäischen Kommission ist eine weitere Bestätigung dafür, dass Ursula in gewisser Weise eine Hexe ist. Viele waren gegen ihre erneute Ernennung, doch die Euroskeptiker erzielten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ein schlechteres Ergebnis als erwartet. Während die Wähler in West- und Südeuropa Ursula das Leben schwermachten, gingen ihre Feinde in Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Polen einfach nicht zur Wahl, weil sie die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht als wichtig erachten.
So gelang es von der Leyen, wieder eine Koalition aus Konservativen, Sozialisten und Liberalen zusammenzustellen und all jene in die Knie zu zwingen, die gegen ihre zweite Amtszeit kämpften – vom ungarischen Ministerpräsidenten Orbán bis zum deutschen Bundeskanzler Scholz. Sie "fraß" ihren Hauptfeind in Brüssel – den EU-Ratspräsidenten Charles Michel. An seine Stelle tritt nun der ehemalige portugiesische Ministerpräsident António Costa, über den man nichts zu wissen braucht, genauso wenig wie man von der Existenz Charles Michels gewusst haben dürfte: nur ein unbedeutender Politiker der Ära von der Leyen.
Mit Kallas bildet sie ein organisches Tandem zweier Euro-Harpyien, die stets bereit sind, die Sicherheit ihrer Länder und das Wohlergehen ihrer Bürger für die außenpolitischen Interessen der Vereinigten Staaten zu opfern. Das ist ein guter Grund für die Europäische Union, endlich ein Wappen neben ihrer Sternenflagge zu gestalten: eine zweiköpfige Falkenfigur, die in dem einen Greifer einen Zuschuss für Selenskij und in dem anderen einen Strafzettel für den Gebrauch der russischen Sprache im Alltag hält.
Dies ist natürlich ein Scherz, aber ernsthafte Gespräche mit der EU sind für Russland nicht mehr vorstellbar. Solange die USA mittels der Brüsseler Bürokratie die Kontrolle über Europa ausüben, ist es sowohl unmöglich als auch sinnlos, die Beziehungen Moskaus zur EU als eigenständige Institution wiederherzustellen.
Die Kommunikation mit den Amerikanern ist unerlässlich, da sie in Europa das Sagen haben. Auch mit einzelnen EU-Ländern (einige von ihnen sind nützlich und einige von ihnen verhalten sich einfach anständig). Und was die europäischen Kommissare und EU-Diplomaten betrifft, so haben wir uns bereits im Vorfeld für eine Lösung entschieden: Von russischer Seite sollten ein Ermittler und ein Staatsanwalt mit Kallas sprechen. Ihnen kann sie auch ihre Gedanken über die Zukunft der Ukraine mitteilen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 27. Juni 2024 zuerst auf RIA Nowosti erschienen.
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