Von Dagmar Henn
Die britische Times machte daraus einen ganzen Artikel mit der Überschrift "Die deutsche Opposition deutet einen Richtungswechsel zur Ukraine an, mit einem Aufruf zu Friedensgesprächen"; die deutschen Medien wichen dem Punkt lieber aus und konzentrierten sich auf Aussagen von Friedrich Merz zu Wärmepumpen und möglichen oder unmöglichen Koalitionen. In Wirklichkeit liegen seine Aussagen im ZDF-Sommerinterview irgendwo dazwischen, beziehungsweise, eigentlich versuchen sie, nirgendwo zu liegen.
Der Satz, den die Times anführte – und der in den russischen Telegram-Kanälen geradezu Flügel verliehen bekam – lautete:
"Wir müssen sehen, dass wir Möglichkeiten eröffnen, wie dieser Konflikt auch irgendwann beendet werden kann."
Tatsächlich ist das fast die greifbarste Aussage in einem Gespräch, in dem Friedrich Merz sich mit jedem nur denkbaren Trick einer Festlegung zu entziehen sucht. Was passagenweise schon komisch wirkt. Bei der Frage nach Waffenlieferungen beispielsweise zieht er sich auf die Position zurück, das sei schließlich eine Entscheidung der Regierung, nicht des Parlaments; bei der Frage, ob er denn Taurus-Raketen liefern würde, erwidert er, "also ich beantworte ungern "Was wäre wenn"-Fragen", und zu seiner Haltung gegenüber Emmanuel Macrons Überlegungen bezüglich Truppenentsendungen erklärt er:
"Sie erwarten von mir nicht ernsthaft, dass ich hier den französischen Staatspräsidenten öffentlich in irgendeiner Weise bewerte oder gar kritisiere."
Sprich, seine Erfahrung, mit welchen Tricks man sich wegducken kann, statt eine Frage zu beantworten, ist unübersehbar.
Er sucht offenkundig nach Raum zum Manövrieren. Die Interviewerin, Diana Zimmermann, zitiert eine Umfrage des ZDF-Politbarometers, nach der 71 Prozent der Befragten im Osten wollen "dass so wie bisher oder weniger Militärhilfe in die Ukraine geliefert wird", und zitiert dann den sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer mit der Aussage: "Wir müssen die Logik von Waffen und Gewalt durchbrechen." Merz weicht auch hier aus. Man könne unterschiedliche Meinungen haben.
Es seien aber 45 Prozent, die sagten, weniger Waffen an die Ukraine, wirft Zimmermann ein. Woraufhin er auf die Entscheidungsbefugnis der Bundesregierung ausweicht. Auf den nächsten Nachsatz, ob er denn mehr und schneller wolle, folgt dann vor dem von der Times hervorgehobenen Satz noch:
"Nein, ich habe nur gesagt, wir hätten am Anfang mehr tun müssen. Aber wir haben jetzt heute den 23. Juli 2024. Es macht keinen Sinn, jetzt zweieinhalb Jahre zurückzuschauen, wir schauen nach vorn."
Das ist die Stelle, an der das Ringen um Raum zum Manövrieren sichtbar wird. Man könnte das auch einen eleganten vierfachen Toeloop nennen. Weil keinerlei Festlegung bezogen auf die Gegenwart stattfindet, die Erzählung der Vergangenheit aber schon einmal so umgeändert wird, dass eine völlige Kehrtwende jederzeit möglich wäre. Im Sinne von: Damals wäre das richtig gewesen, aber heute sind die Umstände ganz andere.
Was zumindest jenen, die die Geschichte mit Boris Johnson und dem Abbruch der Verhandlungen in Istanbul Anfang April 2022 nicht kennen, plausibel erscheinen mag. Auch an sein Ausweichen zur Taurus-Frage hängt er eine ähnliche Formulierung an:
"Welche Entscheidungen wir in der Zukunft treffen werden, hängt von den Umständen ab, die von uns heute keiner kennt."
Die Umstände allerdings lassen sich durchaus benennen. Da sind vier Landtagswahlen in östlichen Bundesländern, in denen die Erwartungen schlecht sind, auch wenn Merz ganz zu Beginn hervorhebt: "Immerhin, die CDU gibt es im Osten noch." Da sind die US-Wahlen im November, die womöglich die Vertreter der EU in eine ähnliche Hysterie stürzen wie 2016.
Und da ist die dräuende militärische Niederlage in der Ukraine. Wobei im Umgang damit auch das Detail eine Rolle spielen dürfte, dass Merz nicht nur CDU-Chef, sondern auch Vertreter von BlackRock ist, und diese Investmentgesellschaft die halbe Ukraine gekauft hat und gerade dabei ist, sie zu verlieren; was womöglich dazu führen könnte, dass es ihr lieber ist, irgendwie noch wenigstens ein Viertel zu behalten …
Wobei sich natürlich die Frage stellt, ob dieses Ausweichen und Antäuschen wirklich zumindest ein ernsthaftes Streben nach Spielraum darstellt. Oder ob das nicht schlicht ein Versuch ist, die Wähler im Osten zu täuschen, indem er bis nach den Wahlen ein wenig Kreide frisst. "Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht" …
Außenpolitik, so erklärt er später in einer längeren Tirade, müsse man immer ein Stück Ungewissheit vermitteln "an den jeweiligen Gegenüber". Vor dem letzten Wort gibt es ein kleines Zögern, an dem man erkennt – oder erkennen soll, künstlerisch betrachtet ist das Interview eine Höchstleistung –, dass ihm das Wort "Gegner" auf der Zunge lag, wenn nicht gar "Feind".
Wobei auch Friedrich Merz weiß, dass die Debatte, in der vermeintlich " schon seit zweieinhalb Jahren diese taktischen und strategischen, diese militärischen Fragen viel zu sehr in der Öffentlichkeit" diskutiert werden, in Wirklichkeit auf einem extrem begrenzten Spielfeld stattfindet. Weil die entscheidenden Punkte, etwa wie es überhaupt zum Bürgerkrieg in der Ukraine kam, was nachvollziehbare russische Interessen sind, was damals mit Boris Johnson geschah und auf welcher Grundlage Verhandlungen über ein Kriegsende realistisch wären, vollständig tabuisiert wurden und in eben dieser Debatte überhaupt keine Rolle spielen.
Frankreich, so Merz, habe das besser gemacht. Seit einigen Tagen kursiert ein Video auf Telegram, auf dem vermeintlich französische Soldaten in der Ukraine (es gibt zahlreiche Zeugenberichte, dass Angehörige der Fremdenlegion längst zumindest in mehreren Hundert bereits an der ukrainischen Front eingesetzt sind) einem Ferkel eine Macron-Maske aufsetzen und es beschimpfen.
"Macron, du gibst einen Sch**ß auf die Franzosen."
Das Video kann natürlich eine Inszenierung sein, aber die Berichte über die Truppen sind glaubwürdig. Und Macron hat, das wird sich vermutlich schon bei der ersten Runde der Parlamentswahlen zeigen, mit seiner Politik der einsamen Entscheidungen nicht wirklich die Zuneigung der Franzosen gewonnen (die ihn allerdings zuvor schon hassten).
Im Kern gibt es nur eine Botschaft, die sich aus den raffinierten Verrenkungen des CDU-Vorsitzenden ziehen lässt, und das ist leider nicht der Wunsch nach Verhandlungen, den die Times herausgelesen hat. Aber es ist ein Anzeichen von Bedrängnis, die noch nicht weiter führt als bis zu dem Wunsch, sich nicht festlegen zu wollen – die jedoch, sollte sie weiter wachsen, zu einem Kurswechsel führen könnte.
Was den geschickten Eindruck, den Friedrich Merz erweckt, letztlich konterkariert. Denn statt die Vorstellung zu verbreiten, man könne zumindest diese CDU noch wählen, vermittelt er die Botschaft, es brauche mindestens noch eine ordentliche Klatsche bei den anstehenden Landtagswahlen auch für die CDU, damit aus dem Eiertanz vielleicht eine Perspektive für eine weniger kriegstreiberische Politik entsteht, die viele Deutsche herbeisehnen.
Ganz zu schweigen davon, dass die Maßeinheit, in der diese Politik zu messen ist, tausende unnötig gefallene Ukrainer sind. Eine reale Schuld, vor der sich vielleicht Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock auf Dummheit und Bundeskanzler Olaf Scholz auf Feigheit herausreden können. Friedrich Merz kann das nicht.
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