Von Wladislaw Sankin
Zunächst ein paar Zahlen, die der russische Präsident Wladimir Putin am 6. Juni gegenüber den westlichen Nachrichtenagenturen bekannt gab: Zu der Zeit befanden sich 6.465 ukrainische Soldaten und Offiziere in russischer Gefangenschaft. Auf der ukrainischen Seite waren es 1.348 russische Militärangehörige, die festgehalten wurden.
Die meisten von ihnen ergaben sich nicht freiwillig, sondern wurden in einer für die jeweilige Seite aussichtslosen Kampfsituation gefangen genommen. Für eine freiwillige Kapitulation haben die Russen eine spezielle Frequenz für weitverbreitete Funkgeräte "Baofeng" eingerichtet – mit dem Rufzeichen "Wolga". Wie viele Ukrainer von dieser Gelegenheit bislang Gebrauch gemacht haben, ist nicht bekannt, aber es gibt solche Fälle durchaus.
Das Problem für die Ukrainer dabei ist: Die Kapitulation wird von der eigenen Seite stets massiv behindert, indem die Kapitulationswilligen, solange sie sich als solche zu erkennen geben, zur Liquidation freigegeben werden. Auf dem von Drohnen und Nachtsichtgeräten durchleuchteten Kampffeld, wo auch die Dunkelheit und Schützengräben keinen Schutz mehr bieten, wird die Kapitulation zu einem extrem schwierigen Unterfangen.
Der russische Militärblogger Boris Roschin hat vor wenigen Tagen auf seinem Telegram-Kanal Colonelcassad von einer filmreifen Geschichte der versuchten Rettung berichtet. Filmreif buchstäblich, weil sie durch Videoaufzeichnungen der umherfliegenden Drohnen in allen Details dokumentiert worden war und somit authentisch ist.
Zu seinem Bericht fügte Roschin zwei Drohnen-Videos hinzu und erklärte einleitend: "Wir erzählen solche Geschichten nicht oft, aber hier können wir nicht schweigen". Auf dem ersten Video war zunächst zu sehen, wie (weiter wie angegeben) ein Mitglied des 23. Bataillons der Territorialverteidigung mit dem Namen Sergei Worobej (zu Deutsch Sperling) durch einen russischen Granatenabwurf auf dem Kampffeld leicht verletzt wurde.
Da der ukrainische Soldat offenbar in diesem Moment feststellen musste, dass er herumkreisenden Drohnen schutzlos ausgeliefert war, beschloss er, sich zu ergeben. Er machte dazu ein entsprechendes Handzeichen. Der Operator verringerte die Flughöhe und zeigte dem Soldaten, dass er nun der Drohne folgen sollte.
Als er sich schon auf der Feldstraße leicht hinkend auf die russische Position zubewegte, erkannten seine Kampfkameraden seine Absicht. Sie warfen Granaten vor ihm ab und feuerten ein paar Schüsse aus einem Mörser ab, um ihn zum Umkehren zu bewegen. Als dies misslang und bis zu der russischen Position nur eine kurze Strecke verblieb, beschossen die Ukrainer ihren Kameraden mit einer mit Sprengsatz beladener FPV-Drohne. Worobej konnte ihr zunächst kurz ausweichen, dann kehrte die Drohne jedoch um und traf den Soldaten schwer.
Nach der Explosion blieb Worobej zunächst regungslos liegen, doch er hatte überlebt. Am nächsten Tag sah ein Drohnenoperator der russischen Streitkräfte, wie Sergei sich bewegte, und warf ihm eine Wasserflasche zu. Der Soldat bekam Angst und versuchte, sich wegzurollen, weil er dachte, es sei eine Granate. Dann warfen sie ihm Essen und das Schmerzmittel Nefopam sowie ein Funkgerät zu, um mit ihm in Kontakt zu bleiben und ihn ein wenig zu beruhigen.
Er sagte, er habe alles verstanden, wisse, dass er von einer ukrainischen Granate getroffen worden sei und antwortete noch eine Weile. Er war sogar in der Lage, sich zu setzen, zu essen und zu trinken. In der zweiten Nacht "leuchtete" der Soldat in der Wärmebildkamera – er war also noch am Leben.
Allerdings hatten die russischen Streitkräfte ein Problem mit dem Evakuierungswagen – der einzige, den die Einheit hatte, war defekt. So ging wertvolle Zeit verloren und Sergei starb. Er war 43 Jahre alt. Die Wunde, die sich als tödlich herausstellte, wurde dem Ukrainer nicht von einer russischen, sondern von einer AFU-Drohne zugefügt.
Solche Geschehnisse sind bisher nur im Ukraine-Krieg, dem ersten echten Drohnen-Krieg der Geschichte, möglich. Menschen- oder mitunter auch KI-gesteuerte Flugfahrzeuge bestimmen immer mehr das Kampfgeschehen. Und sie sind nicht nur in der Lage, gegnerischen Soldaten fast an jedem beliebigen Ort das Leben zu nehmen, sondern auch – je nach Willen des steuernden Operators – ihr Leben zu retten.
Diese Geschichte zeigt auch, dass die russischen Soldaten oft bereit sind, für die Rettung ihres verwundeten ehemaligen Gegners nicht nur wertvolle Ressourcen zu verwenden, sondern bei der Evakuierung auch ihr eigenes Leben zu riskieren.
Im Krieg sterben auf beiden Seiten täglich hunderte Soldaten. Heldenmut, Angst, Blut, Schmerz, Trauer und Freude, dass man überlebt hat, sind im Soldatenalltag eng miteinander verwoben. Es passieren auch Grausamkeiten, und diese könnten sogar von derselben Hand ausgeführt worden sein, die vorher etwas Gutes getan hat. Aber immer wieder zeigen die Kämpfenden ihr menschliches Gesicht. Ich schließe nicht aus, dass auch die ukrainische Seite einen russischen Soldaten derart retten könnte; zumindest will ich daran glauben. Schließlich bleiben wir vor allem Menschen – jedenfalls sollte es so sein.
Und das macht Hoffnung, denn auch dieser Krieg wird zu Ende gehen und es wird Frieden herrschen zwischen Russen und Ukrainern. Und irgendwann werden sie endlich verstehen, dass sie ein Volk sind und dann werden die einstigen Gegner gemeinsam ein neues Land aufbauen. Sie werden dann nicht mehr an Hass-Propaganda glauben und endlich erkennen, wer Feind und wer Freund ist.
Diejenigen im Westen, die täglich Schauergeschichten über Russen erzählen, damit in der Bevölkerung der für die Kriegsvorbereitung benötigte Hass-Pegel nicht nachlässt, sind keine Freunde der Ukraine – im Gegenteil, sie steuern das Land auf den Abgrund zu. Denn die Ukrainer werden von ihren "Freunden" nur solange gebraucht, wie sie gegen die Russen kämpfen. Sobald sie umkehren, werden sie zu Ex-"Freunden" wie verbrauchtes Material. Genauso erging es dem Kämpfer Sergei Worobej, der sich ergeben wollte und deshalb durch die eigene Drohne starb.
Mehr zum Thema - Was die Ukraine erwartet: Die Gnade des Siegers