Von Marina Chakimowa-Gatzemeier
Anfang Mai dieses Jahres kam mein deutscher Bekannter, der 30-jährige Ben, von der Arbeit nach Hause, schrieb seiner Freundin eine Nachricht, dass er müde sei, dass er eine Pizza bestellen, essen und ins Bett gehen wolle. Aber er bestellte nichts und ging nicht ins Bett – er beging Selbstmord.
"Warum hat er das getan? Warum?", fragten seine Angehörigen einander und sich selbst. Er war intelligent, begabt, fleißig, einfühlsam, arbeitete in einem guten Unternehmen und spielte in seiner Freizeit in einer Rockband. Nur ein paar Wochen später zeigte uns seine Freundin einen Screenshot ihrer Korrespondenz vom Februar mit einem kurzen Satz: "Mir ist langweilig. Alles ist uninteressant und dumm."
"Ich bin wertlos", sagte mein Dresdner Bekannter Tolja, ein Russlanddeutscher, der in seine historische Heimat gegangen war. Er wollte eigentlich in der Bundesrepublik leben, sollte aber dort sterben – auch durch Selbstmord.
Die deutschen Medien schreiben kaum über die Selbstmordwelle, die die Bundesrepublik Deutschland erfasst hat, und ich habe im deutschsprachigen Internet keine Expertenanalysen zu diesem Thema gefunden. Es gibt aber eine Statistik des Nationalen Suizidpräventionsprogramm (NaSPro). Demnach stieg die Zahl derer, die freiwillig aus dem Leben schieden, im Jahr 2022 um 9,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 10.119 Menschen. (Anm. d. Red: Es war der höchste Anstieg seit den 1980er-Jahren, die Zahl der Suizide lag 2022 erstmals seit 2015 wieder über 10.000. Über 100.000 Menschen unternahmen im Jahr 2022 einen Suizidversuch.)
Ich denke, das liegt an der Sinnlosigkeit.
"Wir fliegen am Wochenende nach Mallorca, saufen uns die Hucke voll, kehren zurück, ruhen uns eine Woche lang aus und dann wieder nach Mallorca, um abzuschalten", schrieb einer von Bens Freunden in seinem Beerdigungs-Chat und fügte ein Foto von sich selbst am Strand an. Ein anderer fügte hinzu: "Und es ist nicht klar, wer Beileid braucht – wir oder Ben", und setzte ein lustiges Emoji.
In Deutschland gehört der Alkoholismus zur Normalität des Lebens. Bei der Betrachtung durchschnittlicher deutscher Männer bin ich oft zu dem Schluss gekommen, dass ihr fast massenhafter Alltags-Alkoholismus ein Versuch ist, sich an den seit vielen Jahren in ihrem Land propagierten unnatürlichen Lebensstil anzupassen und sich mit ihm zu arrangieren.
Kaum eine andere deutsche Tradition hat die alten Zeiten so sehr überlebt wie die Kneipen, in denen nach Feierabend Alkohol getrunken wird. Andere Traditionen sind diesbezüglich entweder intolerant, wie die Weihnachtstraditionen, oder es handelt sich um die gleiche Art des Alkoholkonsums, nur in größerem Ausmaß – wie das Oktoberfest in München. Arbeiter und Intellektuelle konsumieren literweise Alkohol, und die Kneipenbetreiber werden von ihnen oft als "mein Psychotherapeut" bezeichnet. Was die leichten Drogen angeht, so sind noch nicht alle offiziell erlaubt, aber man kriegt sie in Deutschland problemlos. Sogar auf Schulhöfen kann man abends den typischen Geruch von Gras riechen.
Der Moralzustand der deutschen Bürger erinnert mich an den unseren in Russland in den 1990er-Jahren. Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, übermäßige Freizügigkeit, Fäulnis, Verfall – "Dekadenz", wie die Deutschen es selbst nennen. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Ruin in den Köpfen, die Zerrissenheit in den Seelen – all das haben wir schon einmal erlebt. Erinnert euch, wie der Tod damals eine reiche Ernte von den Jungen geholt hat. Erinnert euch an die Freunde aus eurer Jugend, die damals gestorben sind. Talentierte, intelligente, freundliche Menschen sind einer nach dem anderen an den Folgen von Drogen, Alkohol und selbstmörderischen Schlägereien gestorben. Igor Rasterjajew singt jetzt ehrlich über sie:
"Die Jungs haben einen solchen Weg für sich gewählt. Aber trotzdem hat sie jemand, oh Gott, gedrängt und hereingelegt."
Drogen, Alkohol und kriminelle Banden bringen immer mehr Deutsche um. Der Grund ist die Aussichtslosigkeit, die Lebenssinnlosigkeit, das Fehlen von Wichtigem und von Menschen, für die man lebt. Die Frage sollte nicht lauten: "Warum hat Ben sich umgebracht?", sondern "Warum hat Ben beschlossen, dass er wertlos ist?"
Heute wissen wir genau, von wem und warum wir in den 1990er-Jahren "gedrängt und hereingelegt" wurden. Hat Gott uns damals vor dem Untergang bewahrt? Oder, und das ist ein extremer Gedanke, war es die Armut, die uns gerettet hat? Wir haben uns damals auf das elementare physische Überleben konzentriert. Darauf haben wir uns im hungernden, zerstörten Russland fokussiert. Uns hat die Dekadenz nicht interessiert. Wir mussten uns ernähren.
Aber ein wohlgenährter Europäer kennt den Kampf ums Überleben nicht, also "zerfällt" er: Er kauft sich Unnötiges und versinkt in Krediten, prahlt mit neuen Geisteskrankheiten, zieht sich bei modischen Toleranzparaden aus, pervertiert sich. Das erinnert an den Untergang des Römischen Reiches, wo die sybaritische Elite zwar alles hatte, aber keinen Sinn für das Leben.
Je intelligenter und gefühlvoller ein Mensch ist, desto uninteressanter ist es für ihn, nur für sich selbst zu leben. Die materiellen Güter haben für ihn zu wenig Bedeutung. Aber in der Konsumgesellschaft gibt es keine anderen Bedeutungen als materielle Güter. Ben reiste um die Welt, fuhr das beste Auto, kaufte sich teure Dinge, aß nur Bio-Lebensmittel, wie alle wohlhabenden Deutschen – Ben hatte alles, außer einem würdigen Grund zum Leben. Im atheistischen Deutschland, wo der Glaube an Gott als überholt und oft sogar als beschämend gilt. Im liberalen Deutschland, wo der Individualismus triumphiert, "Liebe dich selbst, tu, was du willst, verweigere dir nichts". Die Übersättigung endet zwangsläufig in der Trostlosigkeit.
Es ist uns bekannt, wer heute dort die Menschen, die den Mut haben, zu denken und die Richtigkeit der menschenfeindlichen postmodernen Agenda in Frage zu stellen, in den Abgrund stößt und sie hereinlegt. Die Menschen, die sich nicht damit zufriedengeben, nur für den Komfort zu leben. Fundamentale Begriffe – Geschlecht, Familie, Glaube – werden ausgehöhlt, uralte Traditionen werden zerschlagen. Und es wundert mich nicht, wenn ich immer öfter höre, dass vernünftige Deutsche aus Deutschland fliehen und in Lateinamerika noch billige Wohnungen aufkaufen. In der Türkei und in den Vereinigten Arabischen Emiraten wachsen die deutschen Gemeinden derzeit am schnellsten.
"Deutschland ist nicht mehr mein Land" – diese Aussage habe ich auf Deutsch schon viele Male im Urlaubsland Ägypten gehört, wo sich BRD-Bürger zu Tausenden niederlassen. Sie sind diejenigen, die jetzt sehr gut verstehen, dass die Russen für ihr Recht kämpfen, sie selbst zu sein. Und nach Kriegsende werden diese vernünftigen Europäer zu uns kommen.
Nur Ben geht nirgendwo mehr hin.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erscheinen am 10. Juni 2024 bei Wsgljad.
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