Von Gleb Prostakow
Wie unterschiedlich das politische und das wirtschaftliche Establishment des Westens die Konfrontation mit Russland bewertet, zeigt die Grenzziehung für das Risiko, das beide Parteien in diesem Konflikt für akzeptabel halten. Unlängst schlug die Zeitung Financial Times Alarm mit einem Artikel unter der Überschrift "Westliche Unternehmen ziehen ihre Plänen zum Verlassen Russlands zurück". Nach mehr als zwei Jahren seit dem Beginn des Ukraine-Konflikts habe es sich herausgestellt, dass nur wenig mehr als zehn Prozent der transnationalen Unternehmen, die in Russland Geschäfte machten, das Land verlassen haben.
Nach Angaben der Kiewer Hochschule für Wirtschaft, wo solch ein Register geführt wird, haben nur 387 Unternehmen den russischen Markt vollständig verlassen, während 1.223 Unternehmen ihre Tätigkeit nur reduziert haben und 2.100 Unternehmen unverändert dort weiter tätig sind. Dabei hatte der Westen auf politischer und diplomatischer Ebene alle möglichen Sanktionen eingeführt und müsste sich sehr anstrengen, um sich noch etwas Neues einfallen zu lassen. Die Diskrepanz zwischen den beiden Herangehensweisen liegt in der Frage nach den Kosten.
Die durch einen Rückzug vom russischen Markt verursachten Kosten sind im Laufe der zwei Jahre stetig gewachsen. Als größte Glückspilze erwiesen sich die ängstlichsten transnationalen Unternehmen – sie verkauften ihre Firmen ganz schnell, als die entsprechenden Kosten noch minimal war. Doch inzwischen ist ein Rückzug nur noch mit kolossalen Verlusten möglich. Transaktionen zum Verkauf von Vermögenswerten hier ansässiger Vertreter unfreundlicher Länder bedürfen der Genehmigung einer besonderen Regierungskommission. Zu den wesentlichen Vorbedingungen dafür zählen ein Abschlag von 50 Prozent vom realen Marktpreis und eine 15-prozentige "Rückzugssteuer". Es ist fast unmöglich geworden, die Unternehmensanteile an das eigene Management vor Ort zu übertragen, wie das anfangs der Fall war. Immer schwieriger wird es, in den Verträgen die Möglichkeit eines Rückkaufs festzuschreiben. Wer gehen will, hat für immer zu gehen. Punkt.
Die meisten westlichen Unternehmen warteten bis zur letzten Minute in der Hoffnung auf ein Ende oder zumindest ein Einfrieren des Konflikts. Doch als ihnen bewusst wurde, dass der Konflikt systemischer Natur ist, war es für den Aufbruch schon zu spät. Mit Sicherheit können jene Unternehmen mit europäischen Wurzeln und einem Absatzmarkt in der EU die Verluste durch einen Rückzug aus Russland gar nicht auf den heimischen Märkten kompensieren. Das Abwandern europäischer Unternehmen in die USA und nach China sowie der Verlust des russischen Markts sichert zahlreichen multinationalen Unternehmen eine trostlose Zukunft.
Darüber hinaus waren die in Russland errichteten Produktionsstätten häufig nicht allein auf den russischen Absatzmarkt, sondern auch auf Märkte der Eurasischen Wirtschaftsunion ausgerichtet. Der Verkauf oder die Beschlagnahmung dieser Produktionsstätten bedeutete weitgehend auch zugleich den Verlust der Märkte in Kasachstan, Kirgisistan und Armenien bedeuten, ohne Weißrussland zu berücksichtigen, das ohnehin wie Russland mit Sanktionen belegt ist.
Der Rückzug wäre nicht so peinlich gewesen, wenn der russische Markt für Industrie- und Konsumgüter durch einen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft infolge der Sanktionen vollständig implodiert wäre. Aber auch das ist nicht geschehen: Russlands Wirtschaft ist nicht nur nicht zusammengebrochen, sondern sie wächst sogar, wenn auch nicht ohne beträchtliche staatliche Subventionen. Ein Boomen des Konsums wird in vielerlei Hinsicht künstlich zurückgehalten – durch den Leitzinssatz der russischen Zentralbank, die befürchtet, dass sonst die Liquidität im System zu einer unkontrollierbaren Inflation führen könnte.
Die Ermüdung und Verärgerung westlicher Unternehmen angesichts des Aktionismus ihrer Politiker erreichten im Jahr 2024 einen bisherigen Höhepunkt. Mehrere Firmen – wie etwa Auchan – erklären nun ganz offen, dass sie nicht beabsichtigen, den russischen Markt zu verlassen. Wohlklingende Umschreibungen, Verweise auf die Unmöglichkeit eines Firmenverkaufs und Ähnliches gehören zunehmend der Vergangenheit an. Westliche Unternehmen erklären glasklar, am russischen Markt festhalten zu wollen – trotz der Gefahr, von den Regulierungsbehörden ihrer Heimatländer gerügt zu werden. Ganz einfach deshalb, weil wohl die Regulierungsbehörden nicht ihre eigenen Unternehmen dafür bestrafen können sollten, dass die versuchen, in der aktuellen wirtschaftlichen Situation zu überleben und Geld zu verdienen.
Auch die Ukraine, die in ihrer Euphorie über die Unterstützung jene in Russland tätigen internationalen Unternehmen verfolgte, wurde gezügelt. Im März dieses Jahres verzichtete die ukrainische Regierung unerwartet auf das Weiterführen einer Liste von sogenannten internationalen Kriegssponsoren, in der Unternehmen wie Nestle, PepsiCo, Raiffeisenbank und zahlreiche weitere große Namen aufgeführt waren. Andererseits wurden besonders freche westliche Firmen von Moskau demonstrativ und scharf bestraft. So wurden etwa die Vermögen von Danone und Carlsberg beschlagnahmt und der Föderalen Agentur zur Verwaltung von Staatsvermögen unterstellt. Freilich wurde die Entscheidung bezüglich Danone später wieder geändert, und die ehemals französischen Fabriken wurden schließlich an ein Unternehmen in der russischen Teilrepublik Tatarstan verkauft.
Ja, die berüchtigte von Jermak-McFaul-Kommission (benannt nach dem Leiter der Präsidialadministration der Ukraine und dem ehemaligen US-Botschafter in Russland) arbeitet immer noch daran, neue Sanktionen und Druckmittel gegen Russland zu erfinden. Da ist die Rede sowohl von der Durchsetzung und gar der weiteren Senkung des Preisdeckels für russisches Öl als auch von einem Verbot von russischem Gas aus Pipelines, von Uran, Aluminium und vielem mehr. Dabei geht es aber wohl eher um angenehme Sitzungen in den Büros US-amerikanischer Denkfabriken. In Wirklichkeit schlug die Biden-Administration angesichts der bevorstehenden US-Wahlen sehr schnell der Kiewer Führung auf die Finger, als die russische Ölraffinerien anzugreifen versuchte und prompt die Ölpreise nach oben kletterten. Gerade das sind die wahren Kosten der Sanktionen – für den Westen.
Die transnationale Wirtschaft zeigt auf jede erdenkliche Weise ihre Bereitschaft zum Beenden des Konflikts, während sich das politische Establishment im Gegensatz dazu weiter radikalisiert. Die Interessen der Macht und des Geldes driften offenkundig auseinander, was für die USA völlig untypisch ist. Das bedeutet aber, dass ein Ende tatsächlich nahe ist. Wenn schon über Angriffe mit westlichen Waffen tief auf russischem Gebiet und über eine mögliche nukleare Reaktion aus Moskau diskutiert wird, dann bedeutet dies, dass jetzt eine tiefe Finsternis Einzug hält, auf die bekanntlich die Morgendämmerung folgt.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad am 30. Mai 2024.
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