Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Beim Blick vom Balkon nach draußen täuscht die wärmende Sonne über einen sehr launischen und labilen "Wonnemonat" hinweg, soll es doch erneut schlechteres Wetter und Regen geben. Sogar die grünende Natur draußen und Kater Murr III. drinnen scheinen von den ungewohnten Kapriolen irritiert zu sein.
Auch in den nächtlichen Träumen und Gedankengängen des Balkonisten haben sich dieser Tage immer mehr dunkle Farbtöne, Irritationen und Wirrungen untergemischt, so als ob noch wesentlich heftigere Gewitter aufziehen wollten. So, als würde sich alles immer konzentrierter und bedrohlicher zusammenziehen. Derlei Empfindungen, mehr Vorahnungen denn rationale Gedankengänge, hat er bislang nicht gekannt. Er scheint wie von einem unklaren dunklen Nebel umgeben, der sich immer mehr zu verdichten scheint und allmählich die Konturen aufziehenden Ungemachs erkennen lässt.
Nur durch einen leidlichen Zufall ist dem Balkonisten unlängst ein voluminöses, mit schwarzem Leineneinband versehenes und schon in die Jahre gekommenes Buch in die Hände gefallen, verlegt von einem damals noch nicht ganz dem unkritischen seichten Mainstream ergebenen Bertelsmann-Verlag: "Unser Jahrhundert im Bild". Gespickt mit zumeist hervorragend ausgewähltem Bildmaterial, eingeleitet von erläuternden Texten hochkarätiger Historiker, welche kraft des Erscheinungsjahres nahe an den schrecklichen Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts dran waren: teils selbst Zeitzeugen mit unvermeidlicher emotionaler Beteiligung, teils distanzierte Analytiker, die aber noch einen direkten Zugang zu den mündlichen und schriftlichen Berichten unmittelbar beteiligter Zeitgenossen hatten.
Doch das, was der Balkonist beim Durchstöbern und konzentrierten Lesen der gleichermaßen komplexen wie komprimierten Analysen findet, lässt ihn erschauern und erschrecken. Mehr als ihm lieb ist, spürt er, welch ähnliche Ausgangssituation damals quasi die "Ursuppe" zu einer der schrecklichsten Katastrophen des 20. Jahrhunderts gebildet hat.
Zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende zeigten sich ähnliche Phänomene wie in neuester Zeit: Es kam zunächst zu einem unglaublichen und fast irrationalen Wissenschafts- und Technik-Optimismus, entwickelte sich ein zunehmender Wohlstand für das wachsende Bürgertum, wenngleich im Hintergrund stets gesellschaftliche Spannungen lauerten. Innenpolitisch waren einige der beteiligten Regenten und Regierungen angeschlagen und standen unter Druck. Weltökonomisch gesehen gab es damals bereits eine aufkeimende Globalisierung, die ebenso wie heute in den Machtzentren zu eigenem Vorteil nutzbar gemacht werden sollte.
Daneben spielten im Politischen imperialistische Tendenzen eine gewichtige Rolle, welche von den Regierungen und Regenten sogleich in schön klingende ideologische Phrasen verpackt und dadurch verschleiert wurden. Seinerzeit war vor allem der (imperiale) Nationalismus antreibend und allerorten bis hinab auf die Ebene der Vereine und Stammtische wirksam. Was nur vordergründig einen Unterschied zur heutigen Zeit darstellt ‒ so man denn die vordergründigen Verlautbarungen der führenden EU-Granden und ihrer (medialen) Hofschranzen zunächst einmal ausblendet.
Denn in der heutigen Ära wird ein neugestaltetes Machtzentrum sichtbar, welches, noch umkämpft, sich aber bereits wie ein Spinnennetz über die meisten Staaten Europas erstreckt. Man könnte fast formulieren, der frühere imperiale Nationalismus wird in diesem Jahr durch einen neoimperialistisch agierenden EU-Zentrismus ersetzt. Die ursprünglich auch pazifistisch geprägte Paneuropa-Idee (selbst schon problematisch) wird zu einer moralisierenden paneuropäischen Machtstruktur pervertiert, um deren Kontrolle noch einige Epigonen kämpfen (man denke nur an das ständige "Vorpreschen" des französischen Präsidenten, der jedoch selbst innenpolitisch angeschlagen ist). Von dieser Machtstruktur beziehungsweise den ihr nacheifernden Staatsvertretern wird bereits jetzt eine eigens herbeidefinierte europäische Ideologie und die sehr einseitige "regelbasierte Ordnung", streng nach US-amerikanischem Drehbuch, postuliert.
Und wieder geht es dem Grunde nach um wirtschaftliche und politische Dominanz über andere "noch nicht von unseren Werten überzeugte Länder": wieder das alte imperialistische Motiv, dass an unserem moralisch einwandfreien Wesen alle Welt genesen solle... Und wenn sie denn nicht mitmachen wollen, so müssen zum Besten aller erneut Drohungen, Druck und Gewalt eingesetzt werden, seien sie politischer, ökonomischer, sozialer oder zuletzt auch militärischer Art (so wie wir es jetzt, "pöööhsen Gerüchten" zufolge, sogar aus Serbien, Georgien und womöglich auch aus der Slowakei vernehmen...).
Auch Anfang des 20. Jahrhunderts wurde nicht nur eine immer intensivere Kriegspropaganda betrieben, sondern die Politiker glaubten (um mit Golo Mann zu sprechen), den Ersten Weltkrieg "auch mit Ideen rechtfertigen und sozusagen anheizen zu müssen; und die Engländer, eingefleischte Imperialisten jahrhundertelang, verfielen auf die Idee, es sei ein Krieg gegen den Imperialismus und für das Lebensrecht schwacher Völker. Die Amerikaner griffen dies auf, als sie 1917 intervenierten: Es sei ein Krieg für das innere und äußere Selbstbestimmungsrecht der Völker, für Demokratie und nationale Freiheit" (Golo Mann in "Unser Jahrhundert im Bild", Bertelsmann 1964). Erstaunlich, dass die gleiche Argumentation beinahe stereotyp von angloamerikanischer Seite bis heute zur Rechtfertigung diverser Kriege bemüht wird ‒ und nun neuerdings auch im Sprachgebrauch von NATO, EU und der damit assoziierten Staaten auftaucht.
Um die Zeit der vorletzten Jahrhundertwende wurden vielfältige politische Bündnisse zwischen den Nationen vereinbart, langwierige Verhandlungen teils ergebnislos beendet. Hieraus resultierten bereits erste Konflikte, vor allem um die kolonialen Besitztümer. Diese Zeit war geprägt von anfangs regional begrenzten Krisen- und Kriegsgebieten, welche aber in immer kürzeren Zeitabständen und dann näher an Europa heranrücken sollten. Es gab bereits wiederholte Zuspitzungen in Afrika, speziell auch in Nordafrika, schwelende Konflikte in Ostasien (nicht nur im Krieg zwischen Russland und Japan Anfang des 20. Jahrhunderts) und auf dem Balkan. Genau von dort sollte, letztlich vielleicht sogar nur durch den final auslösenden zufälligen Funken, der Weltenbrand ausgelöst werden.
Im Hintergrund befand sich damals bei einigen Beteiligten aber auch schon die Idee, "ein Stück von Russland herauszuknabbern". So wurde als Begründung des Kriegs gegen Russland in deutschen Zeitungen propagandistisch, aber wahrheitswidrig verkündet, dass Russland eine Verschwörung plane. Man solle sich daher besonders auch vor Spionen hüten (finden wir hier womöglich eine erstaunliche Duplizität der politmedialen Formulierungen?!). Und wenngleich die Führer der europäischen Nationen eigentlich noch keinen weltumfassenden Krieg wollten, so waren dennoch nicht nur Deutschland und Frankreich bereit, einen vermeintlich begrenzten Krieg "in der Ferne" hinzunehmen (zum Beispiel auf dem Balkan).
Aber besteht nicht heute ebenso ein Wirrwarr an Absichtserklärungen, Verträgen und Bündnissen? Wobei sich durchaus regionale, supranationale, politische, ökonomische und militärische Verpflichtungen überlappen und auch kontrovers gegenüberstehen können, wodurch diese (genauso wie damals) für mehr Spannungen denn Ausgleich sorgen? Besonders bedenklich erscheinen unter diesem speziellen Aspekt in diesem Jahr die militärischen Absichts- und Verpflichtungserklärungen einiger Staaten gegenüber der Ukraine, wie auch das diesbezügliche hochriskante Hin- und Hermanövrieren von EU und NATO. Ist dies denn so gar unterschiedlich von der "Bündnislandschaft" vor dem Ersten Weltkrieg, wo schließlich auch blinde "Bündnistreue", unausgegorener "Kadavergehorsam" und laut schallende Propaganda den letzten Schritt in den dann unausweichlich gewordenen Automatismus des Krieges bedeutet hatten?! Und sehen wir nicht bereits wieder seit der letzten Jahrhundertwende ebenso zunehmende regionale Krisen und Kriege, die sich erneut immer mehr annähern?!
In den wenigen Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war in den meisten europäischen Ländern neben einer zunehmenden Kriegspropaganda mit ihrer üblichen Schwarz-Weiß-Sicht und den dazugehörigen Feindbildern auch ein zunehmendes Wettrüsten (teilweise bis hin zur vorauseilenden Umstellung auf Kriegswirtschaft) zu beobachten. Gar musste das Deutsche Reich trotz rapide wachsenden Volkswohlstandes immer mehr Anleihen aufnehmen, um die exorbitant wachsenden Rüstungsausgaben stemmen zu können ‒ und bewegte sich so immer tiefer in eine Finanzmisere hinein.
Ist nicht eine ähnliche Entwicklung, beinahe weltweit, ebenso heute zu beobachten? Auch der modern anmutende Begriff des "Sondervermögens Bundeswehr" ist nicht aus dem historisch luftleeren Raum gegriffen: Im Sommer 1913 wurde ein Heeresgesetz erlassen zur Stärkung des "Friedensheeres", das hohe Sonderausgaben verursachte (welche letztlich durch direkte Steuern auf große Vermögen gedeckt wurden, den sogenannten "Wehrbeitrag").
Am Ende darf der kritisch eingestellte Leser selbst entscheiden, ob er den Betrachtungen des Balkonisten folgen mag oder nicht, ob er dessen auf historischen Analogien beruhende Betrachtungen selbständig weiterverfolgt, oder sie verwirft.
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