Machtgier ohne Kontrolle: Unterlassene Hilfeleistung

Seit Menschengedenken steht die Frage im Raum, wie sich Macht einhegen lässt. Immer wieder gab es – teils erfolgreiche – Versuche, dies zu tun. Doch in der jetzigen Verfassung ist die Menschheit an einem fatalen Punkt angekommen.

Von Tom J. Wellbrock

Hunger, Durst oder Sex unterliegen natürlichen Regulierungen. Man kann weder ständig essen noch trinken noch pausenlos Sex haben. Zwar entstehen diese Bedürfnisse immer wieder neu, aber sie begrenzen sich aber stets selbst. Macht und Machtgier sind anders konstruiert.

Die Macht

Vornehmlich ist der Mensch von Machtstrukturen bestimmt. Hierarchien gibt es zwar auch in der Tierwelt, sie folgen aber anderen Mustern. Insbesondere Menschenaffen gehen teilweise sehr gezielt und strategisch vor, um Machtpositionen zu erlangen, auszubauen und zu erhalten. Dabei gilt nicht automatisch das Recht der Macht des Stärkeren, sondern oft der Erfolg der Strategie. Ein körperlich unterlegener Menschenaffe kann sich etwa durch den Aufbau einer Gruppe von Unterstützern in eine machtvolle Position bringen. Doch, wie gesagt, der Machtstellung innerhalb der betreffenden Gruppe sind natürliche Grenzen gesetzt.

Auch im Zusammenleben von Menschen spielt Macht eine Rolle. Sie ist nicht per se schlecht, denn sie kann aus besonderen Fähigkeiten entstehen, die anderen Gruppenmitgliedern fehlen. Hundertprozentige Gleichwertigkeit gibt es nicht, und sie wäre auch nicht nützlich. Schon immer in der Geschichte gab es herausragende Persönlichkeiten mit hervorragenden Fähigkeiten, durch die sich der Durchschnitt verbessern konnte.

Allein die Entwicklung der Schrift wird sinngemäß als Begrenzung ohne Grenzen bezeichnet. Sie besteht aus einer übersichtlichen Anzahl von Zeichen, aus denen sich jedoch seit ihrer Erfindung nahezu grenzenlose Möglichkeiten ergeben haben. Wissen hat also zu Macht geführt – das Wissen, die Schrift mit Gedanken und Ideen zu verbinden und daraus praktische Handhabe entstehen zu lassen. Naturgemäß kann nicht jeder gleich gut mit dem Gebrauch der Schrift umgehen, es muss hier also zu einem Machtgefälle kommen. Im besten Falle profitieren von diesem Machtgefälle aber auch jene, denen die Fähigkeiten fehlen, mit der Schrift zu arbeiten.

Die Macht des Mehr

Wenn Macht zum Selbstzweck wird, befindet sie sich in einer endlosen Schleife der Machtgier. Ohne jede Selbstregulierung strebt der Mächtige nach immer mehr Macht. Davon profitieren nicht mehr er und die anderen, sondern ausschließlich er selbst. Bei der grenzenlosen Machtgier werden "keine Gefangenen gemacht", der Weg zu mehr Macht geht immer zulasten derer, die weniger oder keine Macht haben. Auch deswegen ist nicht etwa die Anhäufung von Geld die Antriebsfeder, ab einer gewissen Menge ergibt die weitere Vermehrung von Geld überhaupt keinen Sinn mehr.

Finanzieller Reichtum beginnt dort, wo mehr Geld als für den Bedarf und die Bedürfnisse notwendig vorhanden ist. Wenn mit dem Beginn der regelmäßigen Einnahmen etwas aus dem vorherigen Zyklus übrig ist, verschafft das eine gewisse Macht. Je größer der Anteil, der über das Notwendige hinausgeht, ist, desto mehr Macht verschafft dies. Aber es gibt eine Grenze dessen, was benötigt wird. Wenn der Punkt erreicht ist, an dem es faktisch nicht mehr möglich ist, das vorhandene Geld auszugeben, weil es in der Summe über den Möglichkeiten des Konsums liegt, bekommt es eine andere Funktion.

Das Geld wird dann als Werkzeug zum Machtausbau verwendet. Und hier wird die nächste Grenze überschritten. Die reichsten Menschen der Welt können sich nicht nur alles kaufen, was sie wollen, sie sind durch ihre finanziellen Ressourcen auch in der Lage, auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Wer an diesem Punkt angekommen ist, hat die Machtgier tief verinnerlicht. Das Finanzielle sorgt nun dafür, dass die Einflussnahme immer weiter gesteigert werden kann. Im Rausch dieser sich steigernden Macht fallen alle Hüllen, der Machtgierige kennt keine Grenzen, will nur weitere Grenzen überschreiten, um seine Macht auszubauen. Er geht dabei immer brutaler und skrupelloser vor und nimmt keinerlei Rücksicht auf die Opfer, die seinen Weg pflastern.

Da es an diesem Punkt keine Selbstregulierung gibt, müssen Gesellschaft und Politik eingreifen und die Macht einhegen. Der Mächtige, der diese Stufe der Macht erreicht hat, ist – Ausnahmen mögen diese Regel bestätigen – nicht in der Lage, sich selbst unter Kontrolle zu bringen, seine Macht und Machtgier sind so weit in ihm fortgeschritten, dass eine äußere Regulierung zwingend wird.

Verkleidete Macht

Die Machtgier der heutigen Zeit kommt betont un-mächtig daher. Sie gibt sich nicht zu erkennen, sondern verkleidet sich als Instanz gegen sich selbst, ohne die Dinge beim Namen zu nennen. Das erklärt etwa die Rhetorik der "Verteidigung" von Grundrechten, der Meinungsfreiheit oder des Grundgesetzes. Die Machtgierigen von heute wollen nicht als Mächtige identifiziert, sondern als Kumpel und Kämpfer für das Gute wahrgenommen werden.

Durch dieses perfide Spiel war es möglich, aus einem ukrainischen korrupten Staat mit faschistischen Grundzügen und zutiefst demokratiefeindlichen Rahmenbedingungen ein Land aus Menschenfreunden und Kämpfern für Frieden und Freiheit zu machen. Denn in der westlichen Erzählung sind auch in der Ukraine keine machtgierigen korrupten Politiker an der Spitze, sondern Verbündete der "Guten" aus dem Westen.

Das Böse, das Imperiale kommt aus Moskau, dort herrscht die Ausbreitungskrankheit eines russischen Diktators vor, der vor lauter Zerstörungswut und Machtgier kaum laufen kann. Die Verblendung der Menschen funktioniert so gut, dass die Ukraine in Charkow sogar beginnen konnte, Obdachlose, Drogenabhängige und Alkoholiker gewaltsam für den Krieg zu mobilisieren. Derlei unverantwortliche Handlungen sind nur möglich, wenn das moralische Bild der Menschen völlig entstellt und bis auf die intellektuellen Grundmauern niedergebrannt wurde.

Diese schäbige und skrupellose Form der Machtgier kann nur realisiert werden, wenn das Umfunktionieren des Wortes "Verteidigung" tief im menschlichen Denken verankert werden konnte. Wurde die Definition dieses Begriffes erst vollständig neu und der ursprünglichen Bedeutung grundlegend widersprechend vollzogen, können schlimmste Taten verübt werden, ohne den moralischen Kompass der Menschen zu berühren. Diese Manipulation schafft eine Machtkonstruktion, die sich der Machtgier nicht mehr schuldig bekennen muss, im Gegenteil, sie gibt sich als Regulator von schädlicher Macht durch die Ausübung positiver.

Was im Ausland bezüglich der Erzählung für die Deutschen recht gut funktioniert, stockt im Inland in Deutschland ein wenig. Das hängt mit der AfD zusammen, bedingt auch mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Insbesondere die AfD ist für die Mächtigen in Deutschland eine ernste Gefahr. Durch den recht breiten Zuspruch in der Bevölkerung kann sie Stiche setzend auf die herrschende Politik einwirken, denn je größer ihr Einfluss auf der politischen Landschaft wird, desto stärker wird die Gefahr des Machtverlustes bei den Herrschenden. Die Ziele und die Programmatik der AfD spielen hier keinerlei Rolle. Die Tatsache, dass sie nicht zur politischen Kaste gehört, die sich selbst als "Demokratische Parteien" bezeichnet, ist ausreichend.

Keine Chance der Machteinhegung?

Losgelöst von ihren eigenen Zielen, kann die AfD derzeit als die einzige Option zur Eingrenzung der Macht bezeichnet werden. Inwieweit sie selbst die Rolle der jetzigen Mächtigen übernehmen würde, wenn sie entsprechende Funktionen ausfüllen würde, sei dahingestellt und ist rein spekulativ. Sie ist aber ein wirkmächtiger Gegenpol zur bis auf die Knochen korrumpierten und korrupten Politik, deren Existenzgrundlage mittlerweile ausschließlich der Machterhalt und die Machtzunahme ist.

Die derzeitigen politischen Strukturen Deutschlands sind so tief in die einzelnen Institutionen hineingewachsen, dass eine Regulierung de facto nicht mehr möglich ist. Die Bevölkerung hat ohnehin nur noch sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten auf die Politik, sie beschränken sich auf die Bundestagswahlen. Das Ergebnis dieser Wahlen ist seit Jahrzehnten der Austausch von Parteikürzeln und Ministernamen, ohne dabei eine Unterscheidbarkeit an den Tag zu legen.

Hier macht die AfD – perspektivisch eventuell auch das BSW – tatsächlich einen Unterschied. Programmatisch hebt sich die Partei von den etablierten Parteien ab und könnte im Erfolgsfalle tatsächlich eine zumindest teilweise Machtverschiebung erzielen. Daher wird sie so massiv bekämpft. Trotzdem kann man die Frage stellen, warum die AfD von den etablierten Parteien nicht einfach eingehegt wird, so wie es etwa bei der Partei "die LINKE" geschehen ist. Von der ursprünglich durchaus systemkritischen Partei ist heute ja in der Tat nicht mehr viel übrig geblieben, sie ist zahm geworden, liebäugelt mit Positionen der Parteien, die sie früher bekämpft hat und hat durch zahlreiche Ämter und Posten kein gesteigertes Interesse mehr daran, etwas Grundlegendes zu ändern, was womöglich die eigene Position schwächen oder gefährden würde.

Die AfD ist anders, weil ihre Mitglieder anders sind. Alexander Gauland nannte die Partei einen "gärigen Haufen" und traf es damit vermutlich ziemlich gut. Doch es gibt einen weiteren Grund dafür, dass die AfD nicht einfach "eingemeindet" werden kann in die machtpolitischen Strukturen der Parteienlandschaft. Es ist die Stimmung in der Bevölkerung. Diese ist zunehmend durch Misstrauen und Abneigung gegenüber der herrschenden Politik gekennzeichnet. Die spieltheoretische Frage, wann eine kritische Masse erreicht ist, die zum Kippen der aktuellen Machtstrukturen führen kann, ist schwer zu beantworten, aber es gibt ernstzunehmende Persönlichkeiten, die diese Grenze schon bei 20 Prozent ansiedeln.

Wenn das so wäre, bestünde für die herrschende Politik die berechtigte Sorge, dass ihr System zusammenbrechen könnte. Daher kann es nicht verwundern, dass die AfD mit Hauen und Stechen bekämpft und sogar über ein Parteiverbot nachgedacht wird. Aus der Distanz betrachtet scheint die AfD tatsächlich eine der letzten Möglichkeiten zu sein, die destruktive und zutiefst menschenfeindliche Politik der Machtgier einzudämmen oder gar abzuschaffen. Ob die Partei dieser Verantwortung aber im Fall der Fälle wirklich gerecht werden kann, ist die große Unbekannte.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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