Von Sergei Poletajew
In unserem letzten Artikel hatten wir die militärischen Aussichten Kiews vor dem Hintergrund des neuen Mobilmachungsgesetzes analysiert. Hier betrachten wir die Optionen des Westens in dem Stellvertreterkrieg, den er mit Hilfe der Streitkräfte der Ukraine führt.
Offizielle westliche Vertreter haben seit Anfang des Jahres über die Entsendung von Truppen in die Ukraine gesprochen. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte, er sei bereit, "jedes Szenario" in Betracht zu ziehen, einschließlich einer Bodenoperation. Regierungsvertreter in Estland und Litauen (darunter die Premierministerin Ingrida Šimonytė) unterstützten ihn umgehend. Und der Fraktionsvorsitzende Hakeem Jeffries der Demokratischen Partei im US-Repräsentantenhaus war der erste US-Politiker, der die Möglichkeit einer Truppenentsendung nicht mehr ausschloss.
Offiziell hat die Ukraine gar keine westlichen Truppen angefordert – Kiew hat stets lediglich mehr Waffen verlangt. Doch nun berichtet die New York Times, das Kiewer Regime habe die USA und die NATO offiziell um die Entsendung von Militärausbildern gebeten, um 150.000 Rekruten näher an der Frontlinie auszubilden. Obwohl sich die USA geweigert haben, diesem Ersuchen nachzukommen, hat General Charles Q. Brown Jr. als Vorsitzender des US-Generalstabs erklärt, dass die Entsendung von Ausbildern durch die NATO unvermeidlich zu werden scheint und dass "wir mit der Zeit dorthin gelangen werden".
Die Entsendung von Truppen in die Ukraine wird immer wieder diskutiert, aber bisher haben sich die westlichen Länder herausgehalten. Warum eigentlich? Ist eine umfassende NATO-Intervention in der Ukraine möglich? Und was würde passieren, wenn sie stattfinden würde? Und wie könnte der Westen damit den Verlauf des Konflikts noch zu seinen Gunsten beeinflussen?
Eine wahnsinnige Wette
Die westliche Doktrin in Bezug auf Russland stand schon lange vor der Eskalation dieses Konflikts fest: Russland sollte "mit den Händen" der Ukraine und auf ukrainischem Gebiet bekämpft werden. Ziel war es, Russland zum Spiel nach westlichen Regeln zu zwingen (im Idealfall durch eine Niederlage auf dem Schlachtfeld) und die wankende globale Hegemonie des US-geführten Blocks wiederherzustellen. Gleichzeitig wollten diese Offiziellen aber auch ihre eigenen Risiken minimieren und eine direkte militärische Konfrontation vermeiden, die zu einem Atomkrieg führen könnte.
Die zweite Säule dieser Doktrin – nämlich ein totaler Handelskrieg – hat keineswegs zu den erhofften Ergebnissen geführt. Im Jahr 2022 wurde deutlich, dass der Westen seine Fähigkeiten zur Kontrolle nicht nur des internationalen Finanzsystems, sondern sogar über seine eigenen Finanzströme überschätzt hat. Trotz gewisser Verluste und zusätzlicher Kosten war Russland dennoch in der Lage, alte Handelsbeziehungen durch neue zu ersetzen, und dies sogar mit einem minimalen Verlust an Einnahmen. Die strengen Sanktionen, die der Westen gegen seine eigenen Unternehmen verhängt hat, haben sich als ziemlich nutzlos erwiesen, da Russland zum größten Teil weiterhin die neuesten westlichen Produkte und Technologien erhält.
Was die Idee anbelangt, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen, so trat der Wendepunkt im Sommer 2023 ein. Nach dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive wurde klar, dass die Kiewer Streitkräfte nicht in der Lage sein würden, einen Frieden zu ihren eigenen Bedingungen zu erzwingen. Das Problem ist, dass der Westen im Konflikt mit Russland auf "all in" gesetzt hat und jedes militärische Ergebnis, das von ihm als zu vorteilhaft für Moskau angesehen werden muss – selbst Verhandlungen auf Augenhöhe – nun als Niederlage zu betrachten sind. Die ganze Welt würde erkennen, dass sie dem Hegemon die Stirn bieten kann – und sie kann dabei nicht nur vermeiden, zum Außenseiter zu werden, sondern kann sogar Vorteile daraus ziehen. Das aber kann der Westen nicht zulassen, denn es könnte eine Kettenreaktion auf globaler Ebene auslösen.
Zwei Optionen
Anfang 2024 standen die westlichen Länder vor einem Dilemma: Im derzeitigen Stellvertreterkrieg war klar, dass sie dabei waren zu verlieren und dass die Ukraine schwächer wurde, während Russland stärker wurde. Den westlichen Führern war klar, dass sich die Lage bis Mitte oder Ende 2025 noch weiter verschlechtern würde – bis dahin erst sollte ihre eigene Militärproduktion in Schwung kommen – und Moskau könnte einen Mangel an Freiwilligen an der Front bekommen. Mit anderen Worten: Das Worst-Case-Szenario bedeutete, dass Russland in der Lage sein würde, mit überlegenen Streitkräften mindestens drei weitere erfolgreiche Feldzüge (im Sommer und Winter 2024 sowie im Sommer 2025) durchzuführen.
Die Logik des Konflikts drängt den Westen nun vor die Wahl, über die wir bereits im Mai 2022 geschrieben hatten: entweder direkt zu intervenieren und Russland allein zu bekämpfen oder ernsthafte Verhandlungen mit Russland über die Nichtmitgliedschaft der Ukraine in der NATO und im weiteren Sinne über die gesamte Sicherheit in Osteuropa aufzunehmen.
Paradoxerweise hat sich der Westen jedoch für eine dritte Option entschieden: das Nichtstun. Und das liegt gar nicht nur an seiner Trägheit, sondern auch an der schwächelnden Position der globalistischen Eliten, die viele erfolglose "Kreuzzüge für die Demokratie" hinter sich haben, von Vietnam bis Afghanistan.
Ab jetzt werden die ukrainischen Streitkräfte immer schwächer, das Ausmaß der Feindseligkeiten nimmt weiter zu, und die Gefahren, dass der Westen mit möglicherweise katastrophalen Folgen direkt in diesen Krieg eintritt, steigen von Tag zu Tag. Im Herbst 2022 – noch vor der begrenzten Mobilmachung in Russland – hätten 10 bis 15 NATO-Brigaden die bemerkenswerten, aber eher bedeutungslosen Siege der Ukraine bei Charkow und Cherson in einen strategischen Erfolg verwandeln können – sie hätten beispielsweise einen Durchbruch zum Asowschen Meer und eine anschließende Blockade der Krim sicherstellen können. Heute aber wäre selbst für die bloße Unterstützung der Front ein weitaus größerer Aufwand erforderlich.
Das System zum Narren halten
Der Grund für die Unentschlossenheit des Westens liegt auf der Hand: Er fürchtet eine Eskalation des Konflikts. Russland ist die größte Atommacht der Welt, und der russische Präsident Wladimir Putin hat wiederholt erklärt, er werde eine umfassende NATO-Intervention nicht dulden, die zu einem Atomkrieg führen würde.
Die Warnungen aus Moskau haben die westlichen Länder, allen voran die USA, herausgefordert, Wege zu finden, um "zu intervenieren, ohne zu intervenieren" und der Ukraine doch noch einen Sieg zu ermöglichen oder zumindest das eigene Gesicht zu wahren, ohne Russland direkt zu besiegen. Kurz gesagt: die westlichen Länder sind gezwungen, sich auf dem schmalen Grat zwischen Niederlage und Atomkrieg zu bewegen, ohne dass ein klares Endziel in Sicht ist.
Nachdem es nicht gelungen war, einen Landkorridor zur Krim zu öffnen, ist der Westen auch nicht in der Lage gewesen, eine alternative Militärstrategie zu finden. Außerdem weiß er nicht, wie er aus dem Zermürbungskrieg herauskommen soll, der selbst bei einer festgefahrenen Position und einer "statischen" Front zur Niederlage der Ukraine führen wird, da ein Gegner, der um ein Vielfaches schwächer ist (die Ukraine hat derzeit höchstens ein Fünftel der Einwohnerzahl Russlands), unweigerlich verlieren wird. Solche Beispiele gibt es in der Geschichte zuhauf.
In dieser Situation ist das Einzige, was den westlichen Strategen eingefallen ist, die ukrainischen Streitkräfte weiter zu unterstützen und die "Kosten" für Russland zu erhöhen – in der Hoffnung, dass Putin des Kämpfens müde wird. Natürlich nimmt niemand im Westen Rücksicht auf das Leid der Ukraine selbst. Im Westen nimmt man gern in Kauf, dass die Ukrainer weiterhin massenhaft sterben, nur damit der Westen sein Gesicht wahren kann. Man kümmert sich auch nicht um den demografischen und sozialen Zusammenbruch der Ukraine (der nach dem Zweiten Weltkrieg für ganz Europa beispiellos ist) oder die Zerstörung der Infrastruktur, die nicht nur eine normale Wirtschaft, sondern sogar ein normales Leben in diesen Gebieten für viele Jahrzehnte verhindern wird. Solche Themen werden einfach ignoriert oder als "Kollateralschaden" hingenommen.
Der Westen mag seine Strategie in Bezug auf Russland nicht explizit darlegen, aber sie kommt ohnehin in verschiedenen Veröffentlichungen und Erklärungen klar zum Ausdruck: Ziel ist es, die Kiewer Streitkräfte an der Front zu unterstützen und gleichzeitig den Konflikt immer tiefer ins russische Territorium zu tragen, in der Hoffnung, dass Putin um Gnade betteln wird, noch bevor die Ukraine zusammenbricht.
Es ist unwahrscheinlich, dass die westliche Elite noch auf einen Sieg Kiews auf dem Schlachtfeld hofft. Wahrscheinlicher wird für sie jetzt entweder das "koreanische Szenario", bei dem niemand gewinnt und die Ukraine weiterhin Russlands Gegner bleibt, oder das "palästinensische Szenario", also ein ewiger Krieg auf dem ehemaligen Territorium der Ukraine. Klar ist, dass der Westen alles tun wird, um ernstgemeinte Verhandlungen mit Russland zu vermeiden.
Krieg der Städte
Trotz der zunehmenden Eskalation und der zunehmenden Einmischung des Westens in den Konflikt gibt es nach wie vor eine rote Linie: Die Ukraine darf die "alten" Gebiete Russlands – also die Gebiete, die der Westen seit dem Ende der Sowjetunion noch als Teil Russlands anerkennt – nicht mit westlichen Raketen beschießen.
Die Art und Weise, wie die Ukraine (mit verdeckter Zustimmung des Westens) dieses Verbot dennoch umgeht, ähnelt jedoch den Methoden eines findigen Anwalts, der die tollsten unerkannten Schlupflöcher in Gesetzestexten findet. Wenn zum Beispiel "Territorium" als "Land" interpretiert wird, dann gelten ja "Luftziele" nicht als "Territorium" und die Ukraine darf Luftziele im zweifelsfrei international anerkannten russischen Luftraum treffen. Wenn eine Langstreckendrohne zwar aus westlichen Komponenten und mit westlicher Zielerfassung in der Ukraine jedoch erst zusammengebaut wurde, zählt das auch nicht, und erst recht nicht, wenn westliche Waffen unter falscher Flagge eingesetzt werden (zum Beispiel von der in der Ukraine ansässigen paramilitärischen Gruppe "Russisches Freiwilligenkorps"). All das ist in Ordnung und natürlich gibt es viele solcher Beispiele. Warum ist das so? Es ist nicht bekannt, ob es diesbezüglich klare Vereinbarungen gibt, aber auf jeden Fall wurde in Moskau eindeutig erklärt, dass Russland bei offensichtlichen Angriffen auf seine "alten" Gebiete Vergeltung üben und westliche Städte direkt – und nicht über Stellvertreter – angreifen wird.
In militärischer Hinsicht werden die Kiewer Streitkräfte kaum von einer solchen Eskalation profitieren. Erstens wird die ukrainische Armee mit solchen Schlägen die strategische Lage an der Front nicht verändern, so wie auch die Bombardierung der "neuen Gebiete" Russlands und der Krim mit allen möglichen Waffen für Kiew nichts gebracht hat.
Zweitens reicht der Nachschub an westlichen Raketen nicht aus, um die russischen Raketenabwehrsysteme zu überlasten und echte militärische Ziele zu erreichen. Auch wenn gelegentlich Raketen auf russischem Territorium einschlagen, hat man sich in Moskau auf die Situation eingestellt, ergreift Maßnahmen, um künftige Angriffe zu verhindern, und führt Vergeltungsschläge durch.
Mit anderen Worten: Falls der Westen tatsächlich russische Städte angreift (eine Idee, die selbst in den gefährlichsten Jahren des Kalten Krieges unerhört war), wird er nichts erreichen, sondern nur die Risiken erhöhen und eine Eskalation herbeiführen, die er eigentlich vermeiden möchte.
Es ist jedoch möglich, dass sich der Westen durch die verzweifelte Lage an der Front und die Notwendigkeit eines gewissen Propagandaerfolgs früher oder später zu einem solchen Schritt gezwungen sieht – und vielleicht wird dies schon sehr bald geschehen. Bislang scheint es das wahrscheinlichste Szenario zu sein, das zu einer Eskalation des Konflikts jenseits des begrenzten ukrainischen "Sandkastens" führen könnte.
"Boots on the Ground"
Und was ist mit der Entsendung von Truppen in die Ukraine? Wird der Westen das tatsächlich wagen? Das ist unwahrscheinlich. Wie bereits erwähnt, hat sich das Ausmaß des Konflikts (und die Lage beider Seiten) in den letzten zwei Jahren verändert, und um einen Erfolg zu erzielen, müsste die NATO jetzt Dutzende von Brigaden in die Ukraine entsenden (mindestens 100.000 bis 150.000 Kämpfer), mehrere hundert Flugzeuge schicken, und riesige Marschflugkörperangriffe (hunderte Salven pro Tag) starten.
Schließlich würden solche Bemühungen zwar die Lage an der Front stabilisieren und die Kiewer Streitkräfte retten (vorausgesetzt, der Kreml erklärt als Reaktion darauf keine größere oder gar vollständige Mobilmachung), aber sie würden noch immer nicht Russlands Niederlage garantieren, sondern nur einen Atomkrieg näher bringen.
Bei einer direkten Intervention werden die NATO-Bodentruppen (wie heute die ukrainischen) schließlich mit Munitionsmangel konfrontiert sein, und in der Luft werden die NATO-Streitkräfte durch russische Raketenabwehrsysteme beschädigt und Angriffen ausgesetzt sein (derzeit operiert die NATO-Aufklärung noch immer gänzlich ungehindert über dem Schwarzen Meer). Darüber hinaus droht sogar hierbei ein Konflikt mit China, denn wenn die NATO ihre Waffenarsenale in der Ukraine leert, könnte China entweder zusehen, wie sich die Situation entwickelt, oder Russland direkte Hilfe anbieten.
Infolgedessen würden sich die NATO-Staaten in einem Stellungskrieg mit hohen Verlusten und unklaren Zielen wiederfinden. Letztendlich könnte dies jedoch dazu beitragen, die Widersprüche zwischen Russland und dem Westen zu lösen, da der von den USA geführte Block wie ein dickköpfiges Kind das Gefühl haben könnte, alle Mittel des Widerstands ausprobieren zu müssen, bevor er nachgibt.
Eine weitere Option für den Westen wäre die lediglich "symbolische" Verlegung von ein paar Truppen in die Ukraine – zum Beispiel die Entsendung von ein oder zwei Brigaden, die als Ausbilder für die Rekruten der Kiewer Streitkräfte dienen würden (obwohl man sagen muss, dass nach zwei Jahren Krieg die Veteranen auf beiden Seiten der Frontlinie diejenigen sind, die dem Rest der Welt, einschließlich der NATO, noch beibringen könnten, wie man kämpfen sollte), oder einfach nur zur Wartung von Flugzeugen.
Es versteht sich von selbst, dass aber jede in der Ukraine stationierte Truppe aus einem Drittland zu einem völlig legitimen militärischen Ziel für Russland wird.
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die westliche Doktrin – nämlich die Kombination aus einem totalen Handelskrieg und einem Stellvertreterkrieg – nicht zum Sieg geführt, sondern dabei ihren eigenen "Klienten" (die Ukraine) der Gefahr einer großen Niederlage ausgesetzt hat. Der Westen scheut sich aber nach wie vor, selbst direkt in den Konflikt einzugreifen, auch wenn es darum geht, "alte" russische Gebiete anzugreifen oder Raketenabwehrsysteme unter eigener Flagge zu betreiben, ganz zu schweigen von einer direkten Entsendung eigener Truppen.
Gleichzeitig vermeidet der Westen noch immer ernsthafte Verhandlungen mit Russland und zieht es vor, mit dem Strom zu schwimmen, wobei er sich mit dem Gedanken tröstet, dass Russland irgendwie schließlich doch noch durch die steigenden Kosten aufgerieben und sich zurückziehen wird.
In der Zwischenzeit passt sich Russland weiter an die Situation an und baut seine Wirtschaft, seine Handelsbeziehungen und seine Gesellschaft wieder auf, um in der Realität eines langen Konflikts zu leben und sich dennoch erfolgreich zu entwickeln. Die Strategie des Westens (oder vielmehr das Fehlen einer solchen Strategie) war offensichtlich erfolglos. Insbesondere angesichts des derzeitigen Ausmaßes seiner Verwicklung in den Konflikt könnte die Kräfte der Ukraine schon lange vor jenem Zeitpunkt erschöpft sein, an dem für Russland größere Unannehmlichkeiten an der Front auftauchen.
Übersetzt aus dem Englischen und zuerst erschienen am 22. Mai 2024.
Sergei Poletajew ist ein Informationsanalytiker und Publizist. Er ist spezialisiert auf die russische Außenpolitik und den Russland-Ukraine-Konflikt. Der 1980 in Moskau geborene Poletajew hat die Fakultät für Journalismus der Staatlichen Universität Moskau absolviert. Im Jahr 2017 gründete er zusammen mit den Wissenschaftlern Oleg Makarow und Dmitri Stefanowitsch das Informations- und Analyseprojekt Vatfor.
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