Von Susan Bonath
"Vorsicht, Desinformation!", warnt in Dauerschleife das Establishment der Wahrheitsdeuter. Schuld sei das viel zu wenig regulierte Internet. Die braven Bürger davor schützen will am liebsten auch der deutsche IT-Branchenverband Bitkom. Viele seien überfordert von der Nachrichtenflut, hat er nun – freilich etwas spät – herausgefunden. Das Netz, so der Verband, mutiere immer mehr zu einer Schleuder von Falschnachrichten.
Man ahnt bei aller Wahrheit, die in diesen wenig überraschenden Feststellungen steckt, worum es bei Studien wie dieser tatsächlich gehen dürfte: Kontrolle. Das Establishment ringt um seine Deutungshoheit im staatlich organisierten Meinungsmanagement. Ihm zufolge lügen immer nur die anderen: Nazis, Russen und Araber zum Beispiel, Palästinenser sowieso. Dabei sind Propaganda-Lügen auch eine Spezialität deutscher Leitmedien.
Politiker-Lügen
Für Heuchelei und Fehlinformation im Land der selbsternannten "Wahrheitskommissare" gibt es viele Beispiele. So log jüngst etwa der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag Michael Roth (SPD) ganz ungeniert in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): Man dürfe den Staat Palästina derzeit schon deshalb nicht anerkennen, weil die dessen Autonomiebehörde im Westjordanland den Staat Israel nicht anerkenne.
Das ist leicht als Falschaussage zu entlarven: Die Palästinensische Autonomiebehörde, heute unter Führung von Mahmud Abbas, erkennt Israel bereits seit dem Osloer Friedensabkommen 1993 offiziell an. Sie unterwarf sich damit letztendlich der Besatzungsmacht. Zum Leidwesen der Palästinenser verschärft Israel seine Besatzungsrepressionen seither ständig: Der Siedlungsbau schreitet voran, Kontrollpunkte schießen wie Pilze aus dem Boden, die Gefängnisse werden immer voller, die Toten mehr.
Dass Roth diese seit 30 Jahren bestehende Realität nicht kennt, ist eher unwahrscheinlich. Allerdings wäre eine derartige Ahnungslosigkeit bei einem hochbezahlten deutschen Außenpolitiker wie ihm kaum weniger schlimm, als wenn er ganz bewusst öffentlich gelogen hätte.
Nun könnten immer noch die viel gepriesenen deutschen Qualitätsmedien Roths Falschaussage richtig stellen. Die Betonung liegt hier auf dem Konjuktiv, denn genau das ist nicht passiert. Selbst öffentlich-rechtliche Sender wie das ZDF kolportierten sein Propaganda-Märchen unkommentiert in die Öffentlichkeit.
Gräuelpropaganda
Was den Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 betrifft, ist das Netz wahrlich voll von israelischen Propaganda-Lügen. Auch die deutsche Presse verbreitet solche bis heute unkorrigiert weiter. So übernahmen etwa im Oktober zahlreiche Leitmedien, darunter der Tagesspiegel, aus Israels Presse die Gräuel-Geschichte, wonach die Hamas "bis zu 40 Babys und Kleinkinder geköpft und verstümmelt" habe.
Auch das öffentlich-rechtliche ZDF trug die Story weiter. Die Jüdische Allgemeine verbreitete sie sogar als Tatsachenbehauptung: "Im Kibbuz Kfar Azza hat die Hamas Babys und Frauen geköpft."
Entpuppt hat sich die Geschichte längst als von interessierter Seite erfundene Gräuelpropaganda. Dennoch ist sie weiterhin im Internet zu lesen, auch in deutschen Leitmedien. Nach einer Richtigstellung unter den Artikeln – was das Mindeste im Sinne des Presserechts wäre – sucht man vergeblich.
"Qualitäts"-Verschwörungsmythen
Deutsche Medien entpuppen sich freilich nicht nur in ihrer Berichterstattung zum Nahostkonflikt als propagandistische Desinformationsschleudern für das politische Meinungsmanagement. Ganz besonders eifrig sind sie auch zum Thema Ukraine-Krieg bei der Sache. Allseits beschwören sie die "russische Gefahr" und kolportieren konzertiert die immer gleiche Wahnvorstellung: Russland plane, die EU zu überfallen.
Darauf gibt es zwar keinen einzigen Hinweis und von russischer Seite unzählige Dementi. Das aber hält die deutsche "Qualitätspresse" nicht davon ab, mit solch absurden Verschwörungsmythen Angst zu schüren. Die Politik will schließlich die Bevölkerung schnell kriegsreif trommeln. Die Rüstungsindustrie kassiert bereits die ersten Sonderprofite.
So bereite sich Polen bereits "auf einen Krieg mit Russland vor", fabulierte im Februar die Frankfurter Rundschau. Im April legte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) noch mal kräftig nach: "Viele Polen planen schon die Flucht", so das Blatt. Handfeste Belege sucht man vergeblich.
Faktenchecker-Märchenstunde
Die genannten sind nur einige Beispiele von vielen für mit Desinformation und Mythen gespickte Propaganda in der deutschen Presse. Zum Glück, so könnte man meinen, gibt es heutzutage "Faktenchecker". Sie sind die selbst ernannten demokratischen Oberdeuter der einzig wahren Wahrheit, stets präsent, wenn Unliebsames durch das Netz geistert. Das Problem: Unliebsam ist nicht immer gleich falsch.
So treten auch die Faktenchecker zuweilen kräftig in den Fettnapf. So fantasierte beispielsweise der ARD-Faktenfinder vor gut einem Jahr, der renommierte Journalist Seymour Hersh habe in einem seiner Artikel behauptet, der Terroranschlag auf die Nord-Stream-Leitungen sei mit einem "Sprengstoff in Pflanzenform" verübt worden.
Das Ziel des Faktenchecks war durchsichtig: Man wollte Hersh die Kompetenz als Journalist absprechen und ihn als, auf Deutsch gesagt, "tüddeligen alten Mann" darstellen, der nur noch Unsinn schreibe. Doch blöd gelaufen, denn diesmal fiel auf, das etwas nicht stimmt. Ein Shitstorm brach über die Tagesschau herein.
An einem Übersetzungsfehler habe das gelegen, hieß es fast entschuldigend bei t-online, der FAZ und anderswo. Das Motto: Kann schon mal passieren, Faktenchecker sind ja auch nur Menschen. Das Tagesschau-Format änderte seinen Beitrag leicht – die Botschaft, Hersh sei wohl schon senil, blieb allerdings erhalten.
Deutungshoheit
Was mit solchen Studien suggeriert wird, ist klar: Es gebe nur die Guten, die niemals Propaganda betreiben, auf der einen und die bösen Propagandisten auf der anderen Seite. Diese Vorstellung ist freilich so absurd, wie wenn die rechte "bürgerliche Mitte" zu Protesten "gegen rechts" aufruft.
In Wahrheit geht es dem Establishment allein um seine Deutungshoheit. Je schädlicher sich seine Politik auf die Normalbevölkerung auswirkt, desto lauter und moralinsaurer wird getrommelt. Wer Krieg voran- und Energiepreise hochtreibt, hat allen Grund, seine Propagandaschleudern auf Hochtouren laufen zu lassen – damit am Ende alles noch irgendwie ein bisschen demokratisch wirkt. Der Westen kennt sich aus mit Teppichen, unter die er seinen Dreck beharrlich kehren kann.
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