Von Dagmar Henn
Der Interviewpartner, den die Schwäbische Zeitung zum Thema Verfassungsschutz befragt, ist nur begrenzt ein Sympathieträger. Schließlich ist der Beamte, den die Zeitung Gregor S. nennt, selbst in der Betreuung von Spitzeln aktiv gewesen. Und er ist auch nicht wegen seines Gewissens in Konflikt mit seiner Behörde geraten, sondern eher wegen seines Arbeitseifers, denn er hatte – wohlgemerkt behördenintern und ganz den Vorgaben für brave Beamte entsprechend – die extreme Bürokratisierung moniert, Beschwerden von Kollegen zusammengetragen und seine Kritik auch noch mit Verbesserungsvorschlägen versehen. Das aber nützte alles nichts, sondern man "beförderte" ihn laut der Schwäbischen Zeitung aufs Abstellgleis: Er könne sich nach Görlitz versetzen lassen oder mit 36 Jahren in Rente gehen.
Das heißt nicht, dass seine technische Kritik unberechtigt ist. "Immer wieder völlig sinnfreie und zeitraubende Diskussionen mit der Abrechnungsstelle im Amt darüber, warum man welchen Kontakt zum Essen eingeladen hat und warum man bei einer Observation zwei statt nur einen Kaffee getrunken hat", führt er etwa als Beispiele an. Die Bürokratie führe auch zu einer Gefährdung der Mitarbeiter bei der Arbeit, weil zusätzliche Beobachter bei einem Treffen eben ordnungsgemäß beantragt werden müssten, was meist nicht funktioniere.
Diese Details sind durchaus glaubwürdig, und das ist keine neue Eigenschaft dieser Behörden. Der Münchner Schriftsteller Herbert Rosendorfer hat schon vor langer Zeit in seinem Roman "Das Messingherz" (1979), in dem es sich um den BND dreht, sehr sarkastisch ähnliche Verhaltensweisen beschrieben. Und die Rigidität der Haushaltskontrolle hat sich seit damals nur noch verschärft.
Aber wie gesagt: ein Ex-Soldat, der dann beim Verfassungsschutz das Führen von Informanten lernt, ist nicht unbedingt jemand, den man von Herzen bedauern möchte, auch wenn er selbst natürlich nur gute und ehrenwerte Motive für seine Berufswahl nennt. Aber in diesem Interview ist etwas zu finden, das sehr selten ist: ein Einblick, wie weit die Ausforschungsarbeiten dieser Behörde gehen. Das ist ein Punkt, über den sich die wenigsten Deutschen klar sind, sich auch nicht klar sein können, denn selbst wenn jemand seine eigenen Akten zur Einsicht anfordert, sind sie meistens zum größten Teil geschwärzt, weshalb ein Bild dessen, was tatsächlich alles passiert ist, nur bruchstückweise entstehen kann. Und eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Tätigkeit der 17 deutschen Ämter für Verfassungsschutz (16 in den Bundesländern und ein Bundesamt) ist nicht wirklich möglich, weil die Akten bundesdeutscher Dienste nach wie vor nicht zugänglich sind.
Der Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner beispielsweise wurde 40 Jahre lang überwacht. Als er seine freigeklagten Akten endlich erhielt, waren es 40 Ordner mit überwiegend geschwärzten Seiten. Er entdeckte dennoch, dass er den größten Teil dieser Zeit sogar persönlich observiert wurde, weil sich sogar Zeitangaben, wann er Lokale betreten oder verlassen hätte, darin fanden. Und die Überwachung begann, als er noch Jurastudent war.
Es gibt aber nur wenige, die ihre Akten einfordern oder gar herausklagen (ein prominenter Fall war jüngst der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen). In manchen Momenten, wie beim ersten Versuch eines NPD-Verbots oder beim NSU-Prozess, wird erkennbar, wie groß die Durchdringung ist und dass es vielfach eben nicht um Beobachtung geht (was in gewissem Maß legitim wäre), sondern auch um direkte Manipulation. Das, was vor längerer Zeit über das Netzwerk der NATO-Geheimarmeen (über dessen zuerst enttarnten italienischer Ableger Gladio) bekannt wurde, beschreibt eine Vorgehensweise, die auch sonst verbreitet ist.
Die Schwäbische Zeitung, in der dieses Interview erschienen ist, ist übrigens eines der wenigen Blätter, die bisher nicht von einem der fünf bundesweit dominanten Medienkonzerne aufgekauft wurden. Unter den Eigentümern findet man unter anderem einen Nachfahren des berüchtigten, auch "Bauernjörg" genannten, Erich von Waldburg-Zeil vom ultrakonservativen Hochadel der katholischen Variante. Dessen Großvater hatte eine Münchner Zeitschrift namens "Der gerade Weg" finanziert, deren Herausgeber Fritz Gerlich am 1. Juli 1934 in Dachau von den Nazis ermordet wurde.
Das ist vermutlich die Voraussetzung dafür, dass ein Artikel, der jene internen Verfahrensweisen genauer ausbreitet, die jetzt auch auf die "Delegitimierer des Staates" angewandt werden, überhaupt erscheinen kann, denn innerhalb des weitgehend vereinheitlichten Mainstreams wäre das bereits viel zu kritisch.
"Wenn man eine Organisationsstruktur aufklären will, guckt man sich natürlich auch an, mit wem die Zielpersonen verkehrt. Und dann überprüfen wir auch diese Leute. Wir durchleuchten das Umfeld, den Arbeitgeber, die Geliebte, die Kumpels, die zum Grillen kommen, also eigentlich alles, was wir finden können. Wir versuchen, ein Gesamtbild zu bekommen. Das machen wir nach handwerklichen Regeln, und diese Regeln sind für alle gleich, egal ob Linksextremist oder Staatsdelegitimierer. Wir machen alles, was das Handwerk hergibt und fahren alles auf, was wir bei echten Extremisten auch auffahren."
Wenn man das Verfassungsschutzgesetz gelesen hat, samt aller Neuerungen, welche die sozialdemokratische Bundesministerin der Justiz Nancy Faeser kürzlich hat einfügen lassen, dann bekam man schon eine Ahnung, was alles zu diesem Vorgehen gehört. Aber irgendwie redet man sich dann doch ein, das könne nur die ganz bösen Jungs betreffen, also diejenigen, vor denen diese Behörden "uns" eigentlich schützen sollen, oder zu schützen behaupten, wie Terroristen verschiedenster Geschmacksrichtung.
Aber auch diesen Zahn zieht Gregor S. dem geneigten Publikum. Diese ganze Liste könne "auch jemanden treffen, der lediglich die Grünen nicht mag und ein nach offizieller Lesart staatsdelegitimierendes Plakat aufhängt, ein entsprechendes Schild bei einer Demo hochhält oder einen entsprechenden Post in sozialen Medien absetzt. Das reicht schon aus."
Und es ist vor allem die Formulierung "nach handwerklichen Regeln", mit welcher der Diplom-Verwaltungswirt im Fachbereich Nachrichtendienste zu erkennen gibt, wie üblich diese Vorgehensweise ist. Es handelt sich gewissermaßen um ein standardisiertes Verfahren, das nach Dienstanweisung absolviert wird. Seine Formulierung deutet an, dass weniger differenziert wird, als ein Außenstehender vermuten würde. Das mag im Wesen einer deutschen Behörde liegen, aber viele mögliche Betroffene dürften noch nicht einmal darüber nachgedacht haben, dass die deutsche Obrigkeit sich dafür interessieren könnte, wer "die Kumpels, die zum Grillen kommen" sind.
Das Gesetz jedenfalls hat inzwischen auch eine Kommunikation in der Gegenrichtung legalisiert. Arbeitgeber, Geliebte und die Kumpels können nicht nur mit erfasst und überprüft werden (schließlich nützt es nichts, die Namen der "Mitgriller" zu kennen, wenn man sie nicht ihrerseits einer Überprüfung unterzieht), sondern es ist auch legal und bisweilen erwünscht, ihnen mitzuteilen, dass der Beschäftigte, der Liebhaber oder Grillkumpel ein Objekt verfassungsschützerischen Interesses ist. Dabei sollte auch die kontoführende Bank nicht vergessen werden, denn eine Kontokündigung zu veranlassen ist derzeit eines der Lieblingsspiele dieser Dienste.
"Ich weiß, wozu der Verfassungsschutz fähig ist, wenn man sich mit ihm anlegt", meinte seine Anwältin Christiane Meusel, die bei dem Interview dabei war. Die verweist dabei auf ihre Erfahrungen als Anhängerin der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR und darauf, dass sie wegen eines Aufnähers einmal festgenommen worden sei, weshalb sie wisse, wozu ein Überwachungsstaat fähig sei. Auch Gregor S. zieht diesen Vergleich: "Die Ängste vieler Menschen, dass hier derzeit ein Überwachungsstaat wie in der DDR aufgebaut wird, diese Ängste sind nicht ganz unberechtigt, ja."
Das aber unterschätzt bei Weitem, wie ohnehin die meisten Verweise auf die DDR, all das, was in der Bundesrepublik geschah, und noch mehr das, was augenblicklich geschieht. Denn abgesehen davon, dass eine der Funktionen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit war, das zu liefern, wozu man in der Bundesrepublik Meinungsforschung betrieb, und dass andere Teile, wie die Spionageabwehr und die für die Ermittlungen zu NS-Verbrechen zuständige Abteilung, mit Ermittlungsarbeiten befasst waren, die in der BRD von Polizei und Staatsanwaltschaft erledigt würden, gab es eine ganz fundamentale Einschränkung.
Die DDR-Verfassung verbriefte ein Recht auf Arbeit und ein Recht auf Wohnung, und da die Einkommensunterschiede in der DDR nicht groß waren, konnte selbst eine andere Arbeitsstelle nicht ins absolute Elend führen. Hauptdruckmittel der Verfassungsschützer im heutigen Deutschland sind aber genau diese beiden Punkte, nämlich mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnung zu drohen. Und schon die so harmlos klingende Nachricht an die kontoführende Bank, die dann vielfach zu einer Kontenkündigung führt, kann existenzbedrohend werden, wenn mit diesem Konto Kredite bedient werden müssen.
Dabei kann man nicht oft genug betonen, dass diese Formen staatlicher Verfolgung heute bereits vielfach zur Anwendung kommen, wenn gar keine Straftat vorliegt. Der Aufnäher, weswegen die Anwältin in der DDR festgenommen worden war, war dort tatsächlich verboten, entsprach also ungefähr dem FDJ-Hemd in der Bundesrepublik, weswegen ich einmal festgenommen wurde und dann zwanzig Stunden gemeinnützige Arbeit leisten musste. Das war im Jahr 1982, und ich hätte diesen Punkt nicht unter der Überschrift "Überwachungsstaat" abgelegt. Und ich würde darauf wetten: bestünden die Akten aus meiner Jugend noch (rechtlich müssten sie längst geschreddert sein, aber beim bayerischen LfV weiß man nie), dann könnten sie vom Umfang sicherlich mehr als konkurrieren. Der Umfang der Überwachung im Westen war nie geringer als jener im Osten: jeder Brief, der von West nach Ost ging und umgekehrt, wurde dreimal gelesen, vom Dienst West, vom Dienst Ost und dann vom jeweiligen Empfänger. Aber weil – wie oben erwähnt – die westlichen Akten im Gegensatz zu jenen des MfS nie zugänglich wurden, kann man öffentlich so tun, als hätte entlang der gefährlichsten Grenze des Kalten Kriegs nur eine Seite viele, viele Daten gesammelt.
Aber damals musste man zumindest noch etwas tun, das irgendwie als politische Aktivität gewertet werden konnte, also etwas mit Zugehörigkeit zu Gruppen bestimmter Überzeugung zu tun hatte, mit gemeinsamem Handeln, und wenn es nur die Teilnahme an Demonstrationen war, oder das Verwenden bestimmter Zeichen. Eine Wortmeldung heute jedoch auf Facebook liegt weit unterhalb politischer Aktivität. Die Schwelle ist inzwischen gewaltig abgesenkt worden – im Vergleich zu den 1980er Jahren. Und wenn eine derartige Tiefe der Überwachung eigentlich bereits bei ernsthafter, langanhaltender politischer Aktivität in einer abweichenden Richtung schwer zu rechtfertigen ist (wer je einen Verfassungsschutzbericht gelesen hat und auch nur einen Teil der beschriebenen Organisationen kennt, der weiß, wie absurd das schon immer war), nämlich bei Handlungen, die nicht ernsthaft als politische gesehen werden können, dann wird das vollends absurd und dient nur noch als ein Mittel zur Einschüchterung.
Nicht vergessen sollte man: das Standardverfahren, das G. beschreibt, enthält auch die Nutzung "öffentlich zugänglicher Informationen". Das ist ein Stichwort, unter dem sich auch von Google oder anderen Datenhändlern erworbene Datenpakete verbergen können, aus denen sich Bewegungsprofile und Protokolle der Internetaktivitäten erschließen lassen. Ganz zu schweigen davon, dass die vielen Nebendienste, die in den letzten Jahren entstanden sind – ein paar besonders "ehrenhafte" Journalisten eingeschlossen – auch auf illegal erworbene Daten zurückgreifen, die sie dann veröffentlichen, was sie in der Folge auch für den deutschen Verfassungsschutz nutzbar macht.
Das ist ein ganzes Netzwerk in einer Grauzone, das für eine beinahe komplette Überwachbarkeit sorgt, bei der nur noch die Gesichtserkennungsdaten von öffentlichen Plätzen oder von Toll Collect fehlen, um den alten Spielfilm "Der Staatsfeind Nr.1" mit Will Smith zur alltäglichen Wirklichkeit zu machen, aber die Live-Gesichtserkennung ist in Deutschland bereits im Einsatz, und Drohnenüberwachung gibt es zumindest bei Demonstrationen mittlerweile auch. Dort wurde in der BRD zwar schon immer gefilmt, aber da die Auswertung von Filmen und Fotografien sehr zeitaufwendig war, beschränkte sich das Ergebnis dieser Beobachtungen auf relativ wenige Personen. Das hat sich mittlerweile sehr geändert.
Der Überwachungsstaat, den das Interview des Verfassungsschützers Gregor S. in der Schwäbischen Zeitung erkennen lässt, ist ein ganz neues Kaliber – oder die modernisierte Version eines noch älteren Kalibers. Das mag jeder selbst überprüfen. Vor wenigen Tagen erst sah ich mir den alten DDR-Film KLK an PTX (leider in optisch sehr schlechter Qualität) an, einen Film über die Rote Kapelle als eines der größten Widerstandsnetze im Hitlerfaschismus. Es ist ein sehr ruhiger Film, der eigentlich eher den Alltag zeigt. Aber weil die Autoren des Drehbuchs Zugang sowohl noch zu Überlebenden als auch zu allen Materialien in den Archiven der DDR hatten, dürfte die Art der Gespräche der historischen Wirklichkeit sehr nahe kommen.
Nein, eigentlich kann man sagen, sie entspricht mit Sicherheit der historischen Wirklichkeit. Denn es ist geradezu unheimlich, diesen Gesprächen zu lauschen. Sie sind viel, viel zu nahe an den Zuständen der Gegenwart in Deutschland. Man muss nicht den ganzen Film sehen, aber diese Mischung aus Vorsicht und Angst, diese ständig präsente Aufmerksamkeit, wann man wem gegenüber was aussprechen kann, das alles wird sich bekannt anfühlen. Das ist gewissermaßen die Abrundung dessen, was die Aussagen von Gregor S. in diesem Interview liefern. Das eine ist, was von staatlicher Seite tatsächlich geschieht, und das andere ist das, was es mit den Menschen in Deutschland macht.
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