Schützt Iran! Von europäischer Arroganz und vergessenen linken Tugenden

Der aktuelle Zustand der Linken in Europa ist ein wichtiger Etappensieg des US-Imperiums. Statt Länder, die im Fadenkreuz des korporativen Faschismus stehen, zu verteidigen, kämpfen sie an der Seite des eigenen Imperialismus gegen sie. Ihr Iran-Hass ist da nur ein Beispiel.

Von Oleg Jassinski

Es vergeht derzeit kein Tag ohne Nachrichten, bei denen man das Gefühl nicht loswird, dass sie eine nicht mehr zu kontrollierende Ereigniskette einleiten. Eine sicher nicht zufällige Häufung tragischer "Unfälle", deren Opfer (oder Zielobjekte?) allesamt Gegner der Pläne des globalen Konzernimperiums waren. Die Nachrichtensendungen tun bereits ihr Bestes, um uns von der Hauptsache abzulenken – der täglichen Provokation eines Weltkriegs durch die Verrückten, ihrer permanenten Suche nach dem casus belli, der nicht mehr auszuhalten sein wird.

Heute, wo die Welt einem außer Kontrolle geratenen Zug gleich auf die ultimative Katastrophe zurast, muss man leider nüchtern feststellen: Der aktuelle Zustand der Linken in Europa ist einer der größten Siege des imperialistischen Systems, auf den der Feind jahrzehntelang planvoll hingearbeitet hat. Er ist das vielleicht entscheidende Element in dem für den Weltkrieg präparierten Setting. Sogar die  russische Presse bezeichnet europäische Neoliberale und amerikanische Demokraten inzwischen als "Linke", während echte Linke, die sich dem Imperium entgegenstellen könnten, ein Schattendasein fristen.

Generell ist das globale ideologische Feld so mit Unkenntnis der Weltgeschichte und Ignoranz gegenüber den Grundlagen der Philosophie vermint, dass es für jeden lebendigen Geist Selbstmord ist, sich auf ihm zu bewegen.

Unter Ausnutzung der wachsenden menschlichen Verzweiflung und des großen Bedürfnisses, die unerträgliche Realität zu verändern, bietet der Weltmarkt der populistischen Slogans alle möglichen Mittel zur Betäubung von Ideen. Um die bloße Möglichkeit auszuschalten, dass die Massen einen wirklichen Wandel anstreben, versorgen uns speziell geschulte "Meinungsführer" mit lauter Simulationen eines Kampfes für die bessere Welt. Da wird schon mal behauptet, dass "die einzige wirkliche Revolution unserer Zeit die feministische Revolution ist" und dass "die Abschaffung von Plastikverpackungen die Welt vor dem ökologischen Kollaps retten wird". Und natürlich gehört auch der "Kampf gegen Tyrannen" (wer Tyrann ist, bestimmen die Meinungsführer) in diese Reihe.

Menschen, die von der Tradition der europäischen Überheblichkeit geprägt sind, sind es nicht gewohnt, zuzuhören, die Welt mit offenen Augen und offenem Geist zu sehen und zu versuchen, das zu verstehen, was außerhalb ihres engen, karikierten Wahrnehmungsfeldes liegt. Kein Wunder, dass die Slogan-Kampfparolen hier so gut ankommen. Ihr Hauptmerkmal ist die Intoleranz gegenüber allem, was gegen ihren Narzissmus und ihre Selbstzufriedenheit mit der eigenen Toleranz verstößt.

Seit einiger Zeit demonstriert die westliche "progressive Öffentlichkeit" eine eklatante kognitive Dissonanz: einerseits tritt sie leidenschaftlich für Rechte der Palästinenser ein, andererseits verurteilt sie ebenso leidenschaftlich das "faschistische Regime" in Iran. Um niemanden zu beleidigen, werde ich diesen Geisteszustand nicht Schizophrenie nennen.

Ich bin weit davon entfernt zu glauben, dass alle unsere Traditionen ewig, schön und schützenswert sind. Im Gegenteil – wir sind historische Wesen und sind ständig auf einer unendlichen Reise durch die Weltgeschichte, wenn auch nicht immer in die richtige Richtung. Der Westen, der versucht, die Welt zu beherrschen, versteht sie, die Welt, nicht. In seiner Wahrnehmung sind Inder, Muslime und Russen genauso minderwertig, wie es Juden in einer gewissen europäischen Demokratie vor knapp einem Jahrhundert waren.

Wenn ich hysterische Argumente über das "iranische Regime" höre, bei denen sich die Verteidiger der israelischen Politik und die "demokratische Linke" (diese beiden Wörter in einer Million Anführungszeichen) völlig einig sind, werde ich an die bekannte Geschichte der "Pussy Riots" und ihren Kampf gegen das "Regime" erinnert. Arrogante Ignoranten drangen in das Territorium eines anderen Glaubens ein, um die Gefühle von Menschen, die die Welt anders sehen, absichtlich und öffentlich zu verletzen, und ergingen sich dann in einem ohrenbetäubenden Geheul darüber, dass ihre eigenen Rechte durch das spätere Strafverfahren "verletzt" wurden.

Vieles an der iranischen Innenpolitik mag mir nicht gefallen, aber ich habe nicht das Recht, anderen Nationen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Schon gar nicht habe ich dieses Recht gegenüber Nationen, die im Fadenkreuz des Imperiums stehen. Ist es doch unser aller moralische Pflicht, die Unabhängigkeit jedes Staates, den der Faschismus der globalen Konzerne und der Finanzwelt bedroht, zu verteidigen. 

Echter Respekt vor dem Anderen ist keineswegs "Toleranz", sondern in erster Linie ist es die Einsicht in die Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Es ist die Fähigkeit und der Wunsch, vom Anderen zu lernen. Völker und Kulturen befinden sich in ihrer eigenen historischen Zeit, und der Versuch, ihnen seine vermeintlich "fortschrittlichen" Kalender und Uhren aufzuzwingen, ist eine der Hauptursachen für Kriege.

Es ist unmöglich, das reale Russland, das reale China, jedes beliebige Land durch Berichte in der Presse oder sogar durch gute Filme zu spüren und wenigstens ein wenig zu begreifen. Man muss das jeweilige Land betreten und zumindest eine Zeit lang seine Luft atmen, um die eigenen Lungen von Stereotypen und Vorurteilen zu reinigen. Wahrscheinlich ist es dasselbe mit Iran, worüber wir kaum etwas wissen und worüber uns die Medien nichts außer Karikaturen vorsetzen.

Der Kampf für eine wirkliche Veränderung erfordert einen offenen Geist. Er erfordert Bildung und Kultur, die eine kritische Analyse der uns vorgesetzten Slogans überhaupt erst möglich macht. Das ist auch der Grund, warum die westliche Zivilisation in den von ihr kontrollierten Gebieten Bildung und Kultur so gezielt zerstört.

Die einzige Chance, die ich sehe, ist, dass die Feinde der Menschheit etwas in ihren Kalkulationen übersehen haben. Dass der Mensch viel zu komplex und zu widersprüchlich ist, als dass man einen gegen ihn gerichteten Plan perfekt durchkalkulieren könnte. Er hat die Fähigkeit, im Inneren zu wachsen und aus den Fesseln falscher Narrative auszubrechen. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit: werden der Larve noch rechtzeitig Flügel wachsen, dank derer sie einem Schmetterling gleich aus ihrem Gefängnis entschweben kann, bevor die ganze Welt im Höllenfeuer verbrennt? 

Oleg Jassinski (englische Transliteration: Yasinsky), ein aus der Ukraine stammender Journalist, lebt überwiegend in Chile und schreibt für RT Español sowie unabhängige lateinamerikanische Medien wie Pressenza.com und Desinformemonos.org. Man kann ihm auch auf seinem Telegram-Kanal folgen.

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