Von Dagmar Henn
Auch wenn das Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping schon einige Tage vorüber ist, eine genauere Bewertung der Ergebnisse hat gerade erst begonnen – allerdings eher nicht im Westen, der mit der Bestätigung seiner eigenen Vorurteile befasst ist. Nur ein kleines Beispiel vorab, aus einem Kommentar im Stern:
"Mit Zugriff auf die Landmasse und die Rohstoffe Russlands hat China die strategische Eindämmung durch die USA aufgebrochen. Beide sind die erklärten Feinde des Westens und damit natürliche Verbündete."
Der erste Satz ist zumindest richtig, wenn auch die Frage umgangen wird, warum die USA China "strategisch eindämmen". Der zweite Satz stellt die Folgen vor die Ursache. Es war der kollektive Westen, der beide Länder zu Feinden erklärt hat und sich seit Jahren mit Strategien befasst, wie man sie zerstören und unterwerfen könne.
Witzigerweise sieht die Frankfurter Rundschau die gleiche Frage genau entgegengesetzt; nicht China bricht die Eindämmung auf, sondern es ist die "letzte Rettungsleine für die russische Wirtschaft". Was beide Redaktionen übersehen, ist, dass für dieses Treffen ein sehr weitreichendes Programm gesetzt wurde, bei dem die geopolitischen Untaten der Vereinigten Staaten samt Anhang nur ein Punkt unter vielen sind.
Es gibt drei Quellen, die das Arbeitsprogramm verraten: eine gemeinsame Pressekonferenz von Xi und Putin am 16. Mai, eine weitere Pressekonferenz von Wladimir Putin mit der russischen Presse am 17. Mai und das entscheidende Dokument, die "Gemeinsame Erklärung zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Föderation über die Vertiefung der umfassenden strategischen Partnerschaft zur Koordination einer neuen Ära anlässlich des 75. Jahrestags der Etablierung diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern". Dieser Text scheint bisher tatsächlich nur auf Chinesisch vorzuliegen, man muss sich also mit digitalen Übersetzungen behelfen.
Und es ist ein gewaltiges Paket, das in dieser Erklärung abgearbeitet wird, angefangen mit dem Ziel, die Zusammenarbeit auf allen nur denkbaren Gebieten auszuweiten. Die deutschen Medien reagieren darauf mit der Egozentrik von Kindern: Mehr oder weniger passiert das alles, weil die beiden Großmächte westliche Sanktionen umgehen wollen. Schon die Vorstellung, da gäbe es die Idee eines Ziels, einen langfristigen gemeinsamen Nutzen, scheint undenkbar. Dabei müsste es eigentlich aus der europäischen Erfahrung nachvollziehbar sein.
Eines der gemeinsamen Projekte, die Putin erwähnt, ist ein Teilchenbeschleuniger, der in Dubna bereits gebaut wurde. In Dubna, etwa 120 Kilometer von Moskau entfernt, befindet sich das Vereinigte Institut für Kernforschung, an dem seit dem Ende der 1950er-Jahre bereits zahlreiche chemische Elemente entdeckt wurden. "Die Experimente, die an diesem Teilchenbeschleuniger durchgeführt werden, werden bahnbrechenden Mega-Wissenschaftsprojekten den Weg ebnen, die die Möglichkeiten jedes einzelnen Landes der Welt übersteigen."
Diese Begründung ist vollkommen mit jener identisch, die einst zur Gründung des CERN geführt hat, das 1957 den ersten Teilchenbeschleuniger in Betrieb nahm und heute mit der großen Anlage unter den Alpen sogar in der Populärliteratur berühmt ist. Die Möglichkeiten eines einzelnen Staates würden überschritten – wenn Russland und China jetzt anfangen, ihre Forschungskapazitäten (nicht nur) auf diesem Gebiet zu bündeln, dann heißt das ja nicht notwendigerweise, dass andere Staaten davon ausgeschlossen sind.
Es wundert nicht, dass das in Europa und den Vereinigten Staaten Schauer über den Rücken jagt. Das hat aber mehr mit einem Wirtschaftsmodell zu tun, das zunehmend auf der Bildung von Monopolen bezogen auf jeden noch so kleinen Fortschritt beruht, als mit den Vorstellungen Russlands und Chinas für die Entwicklung der globalen Wissenschaften, die bei Weitem nicht so exklusiv (im Wortsinne von ausschließend) ist wie die des Westens.
"Größere gemeinsame Projekte sind bereits bei der Nichteisenmetallurgie, der chemischen und Holz verarbeitenden Industrie, Biotechnologie, Pharmazeutik, Erkundung des Weltalls und in vielen anderen Bereichen der Hochtechnologie in Arbeit. Russland und China entwickeln gemeinsam internationale Korridore für Transport und Logistik und nutzen dabei das Potenzial der transsibirischen sowie der Baikal-Amur-Eisenbahn, wie auch der Nordostpassage."
Natürlich kann man auch zur Nordostpassage sagen, es gehe dabei darum, die "strategische Eindämmung" Chinas aufzubrechen. Schließlich sind die Möglichkeiten einer US-Kontrolle dieses bisher wenig genutzten Seewegs minimal, da er weitgehend entlang der russischen Küste verläuft. Aber an anderer Stelle wird sichtbar, dass dahinter auch rein ökonomische Motive stehen könnten – auf die Frage nach dem Projekt "Power of Siberia 2" und dessen Umsetzungsstand antwortete Putin nicht klar, was in den westlichen Medien sofort als Krise zwischen den beiden Partnern gewertet wurde – was aber in Wirklichkeit darauf beruhen dürfte, dass angesichts der Tatsache, dass Russland ohnehin in atomare Eisbrecher investiert, die für die Nordostpassage nutzbar sind, und dem Potenzial dieser Strecke noch einmal nachgerechnet werden muss, ob der Transport auf diesem Weg nicht langfristig nützlicher ist als eine klassische Pipeline.
Auch in der Erklärung wird die Nordostpassage als eines der großen Projekte erwähnt, nun mit administrativen Details:
"Die Einrichtung eines chinesisch-russischen Unterausschusses für den arktischen Seeweg innerhalb des Mechanismus des Ausschusses für die regelmäßigen russisch-chinesischen Ministerpräsidententreffen, um eine beidseitig nützliche Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Nutzung der Arktis, dem Schutz des arktischen Ökosystems, die Förderung der Errichtung des arktischen Seewegs als internationaler Transportkorridor zu gewährleisten."
Es ist interessant und lehrreich, bei diesen Projekten auf die Details zu achten. Schließlich erklärte Xi Jinping bei dem gemeinsamen Presseauftritt:
"China und Russland dienen als Rollenmodell, indem sie anderen Wege zeigen, Beziehungen zwischen Staaten in einer neuen Art aufzubauen und als zwei benachbarte größere Mächte zusammenzuarbeiten."
Was geradezu zur Voraussetzung hat, dass bei grenzüberschreitenden Projekten nicht schlicht die Gewinnerzielung im Vordergrund steht, sondern der Nutzen, den zwei souveräne Entitäten davon haben. Die Verwunderung über die Überlegungen zu "Power of Siberia 2" hat auch mit der selbstverständlichen Erwartung westlicher Beobachter zu tun, dass die bekannte Technologie der Pipeline genutzt wird – weil das Ziel die Realisierung maximalen Gewinns aus dem Gasverkauf für das Gasunternehmen ist – während das Ziel, das Russland und China teilen, die Verbindung des Rohstoffhandels mit einem Maximum an Nutzen für die Infrastruktur ist. Das ist es, was "eine Herangehensweise des beidseitigen Gewinns bei der Gestaltung einer neuen Struktur einer Zusammenarbeit zur beidseitigen Wohlfahrt" bedeutet.
Ein kultureller Austausch auf allen Ebenen ist übrigens selbstverständlicher Teil davon, weil Nähe immer Verständnis erfordert – ein Punkt, den man innerhalb der Zwangsstruktur EU schlicht durch die Deklaration ersetzt hat, wir wären doch ohnehin alle "Europäer", als gebe es nichts mehr, dass der Portugiese über den Polen wissen wollen könnte und umgekehrt. Das war noch etwas anders in den Anfangsjahren der EWG, als es noch als wichtig galt, in Deutschland Französisch und in Frankreich Deutsch zu lernen. Spätestens die große Erweiterung nach 1989 ließ davon nichts mehr übrig, und die letzten Reste von Souveränität verschwanden unter einer amerikanisierten Werte-Pampe.
"Chinesische Familien lesen Puschkins und Tolstois Bücher, während die traditionelle chinesische Kultur, die Peking-Oper und Tai-Chi eingeschlossen, bei den Russen sehr populär ist."
Beide sehen diese Beziehungen gewissermaßen als den Motor der BRICS; nicht nur, weil die gemeinsame wirtschaftliche Macht so groß ist, sondern vor allem, weil der Umgang miteinander, der in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurde, eine Art Versuchslabor für ein Modell war, das nicht auf Herrschaft und Unterordnung beruht. Noch einmal Xi:
"Wir drücken unsere feste Entschlossenheit aus, im Kontext des russischen Vorsitzes bei BRICS dieses Jahr zusammenzuarbeiten – und wenn China in der zweiten Jahreshälfte die Präsidentschaft der SCO [Shanghai Corporation Organisation] übernimmt – eine umfassende, eng geknüpfte, ergebnisorientierte und hochranginge Partnerschaft zu schmieden, um den Globalen Süden zu vereinigen und ihn zu stärken."
Das ist der Punkt, auf dem die Charakterisierung als "erklärte Feinde des Westens" beruht. Ein gestärkter Globaler Süden, das bedeutet unter anderem höhere Rohstoffpreise. Das zeigen etwa langfristige Daten ihrer Entwicklung, die in der ersten Phase der Dekolonisierung, zu Beginn der 1960er, eine deutliche Steigerung erfahren haben, nur um mit der Stabilisierung des neuen kolonialen Schemas über Weltbank und IWF wieder zu fallen. Sicher, das verändert die Verteilung der Erträge. Aber da die normale Bevölkerung des Westens in den letzten Jahrzehnten ohnehin weniger eine Verbesserung, sondern häufiger eine Verschlechterung des Lebensstandards erfahren hat, könnte es ihr egal sein, wenn die Gewinne beispielsweise der Investmentfirmen fallen.
Es ist eine kleine Minderheit in den westlichen Nationen, die durch eine stabile multipolare Weltordnung tatsächlich verlieren würde. Und es ist mitnichten so, dass die Staaten des Westens dauerhaft ausgeschlossen würden. Putin dazu:
"Du sagtest, dass die Zukunft von Russland und China abhängt, aber das ist nur teilweise wahr. Die Zukunft der Menschheit hängt von der ganzen Menschheit ab […] es gibt absolut keinen Zweifel, dass vor unseren Augen eine neue Welt Gestalt annimmt und multipolar wird. Ich glaube, darüber sind sich alle im Klaren. Es ist wichtig, dass jene, die versuchen, ihr Monopol zu halten, weltweit über alle Fragen zu entscheiden, das realisieren (ich glaube, dass sie das vollständig realisieren). Wenn sie das verstehen, sollten sie alles tun, um diesen natürlichen Prozess zu erleichtern. Ich wiederhole, dieser Prozess sollte friedlich und konfliktfrei sein, und die Meinungen aller Parteien des internationalen Prozesses sollten gänzlich berücksichtigt werden. Alle von uns sollten nach Kompromissen suchen, wenn wir die schwierigen Entscheidungen treffen, die vor uns liegen."
Es wäre politisch möglich, diesen Übergang ohne größere Auseinandersetzungen ablaufen zu lassen, sagte er damit. Aber die Regierungen des Westens sind nicht imstande, im langfristigen Interesse ihrer Länder zu handeln. Sie handeln unmittelbar im Interesse jener sehr begrenzten Gruppe von Konzernen, die durch die entstehende neue Ordnung am meisten zu verlieren haben, weshalb sie sich mit aller Kraft einer Entwicklung widersetzen, die im Grunde nicht mehr aufzuhalten ist. So wird dieser Punkt in der gemeinsamen Erklärung formuliert:
"Die beiden Seiten wiesen darauf hin, dass sich größere Veränderungen in der Welt beschleunigen, der Status und die Stärke der Länder und Regionen des "Globalen Südens" kontinuierlich wächst und sich die Multipolarisierung der Welt beschleunigt. Diese objektiven Faktoren beschleunigen die Umverteilung von Entwicklungspotenzial, Ressourcen, Gelegenheiten etc. in eine Richtung, die für Schwellen- und Entwicklungsländer günstig ist, und fördert die Demokratisierung internationaler Beziehungen und internationale Fairness und Gerechtigkeit der Länder, die an Hegemonie und Machtpolitik festhalten und versuchen, die anerkannte, auf dem Völkerrecht beruhende internationale Ordnung durch eine "regelbasierte Ordnung" zu ersetzen."
Interessant ist hier die Bezeichnung als "objektive Faktoren". Hierin zeigt sich einer der deutlichsten Brüche, wobei China und Russland auf der einen Seite stehen und der Westen auf der anderen. Dabei geht es um den schlichten Punkt, ob die größeren Entwicklungstendenzen ein Gegenstand des Willens sind oder eben nicht. Objektive Faktoren, das sind Einflüsse, die sich durch Willensentscheidungen, gleich mit welchen Mitteln man diese unterfüttert, nicht aufhalten oder gar beseitigen lassen. In dem Moment, in dem man sich auf das Eingeständnis einlässt, dass es derartige objektive Prozesse gibt, findet sich auch eine Grundlage für Kompromisse.
Ein derartiger Kompromiss würde natürlich voraussetzen, die internationalen Gremien wieder funktionsfähig zu machen – hier ausgedrückt von Putin, aber mehrfach in Variationen zu finden:
"Darum fordern unsere Länder eine Erneuerung der globalen wirtschaftlichen Führung, eine Reform und Entpolitisierung multilateraler Einrichtungen, wie der Welthandelsorganisation, G20, dem Asien-Pazifik Forum für wirtschaftliche Zusammenarbeit, und sie an die modernen Realitäten anzupassen."
Ist das jetzt die unerbittliche Kampfansage an den Westen? Nicht wirklich. Der konnte über Jahrzehnte hinweg mit internationalen Institutionen leben, die ihm nicht völlig unterworfen waren. Aber seit ungefähr zehn Jahren werden sie so gut wie alle auf die Position des Westens verpflichtet. Was vorübergehend hilft, im Westen selbst den Eindruck zu untermauern, dass "die ganze Welt" diese teile, aber zu einem enormen Preis – dem Verlust aller niedrigschwelligen, informellen Kontakte.
Nicht umsonst erwähnt die gemeinsame Erklärung Sport, Kultur, Studentenaustausch, Förderung des Tourismus. Die Zusammenarbeit von Behörden und die Tätigkeit der Diplomatie sollten die oberste Spitze sein. Vertrauen aufzubauen, ist ein vielschichtiger und langwieriger Prozess. Es zu zerstören, kann vergleichsweise schnell gehen, wie in den letzten Jahren zu erleben war.
Aber je rigider und hierarchischer die westliche Ordnung wurde, desto geringer ist auch die Erfahrung in all dem, was der Diplomatie vorausgeht. Eine Struktur der Unterordnung benötigt keine Sensibilität. Die Art der zwischenstaatlichen Beziehungen, wie sie sich in der Begegnung Putin – Xi darstellte, setzt aber Wahrnehmung für die Unterschiede und deren Akzeptanz voraus.
Übrigens, relativ verborgen, findet sich in der gemeinsamen Erklärung noch ein Detail: Trotz dessen, dass im Grunde auch in Richtung Westen das Angebot gemacht wird, an der sich ändernden Welt mitzuwirken, vergeben und vergessen sind die westlichen Sünden nicht. Das deutet sich an in einem kurzen Abschnitt zu Afghanistan:
"Die beiden Seiten betonten, dass die Vereinigten Staaten und die NATO, als die Parteien, die für die zwanzigjährige Invasion und Besetzung Afghanistans verantwortlich sind, nicht abermals versuchen sollten, militärische Einrichtungen nach Afghanistan und in die umgebenden Gebiete zu senden. Stattdessen sollten sie die Hauptverantwortung für Afghanistans gegenwärtige Schwierigkeiten bei Wirtschaft und Lebensstandard tragen und die Hauptkosten für den Wiederaufbau Afghanistans übernehmen, und alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um das Einfrieren des afghanischen Nationalvermögens zu beenden."
Das ist ein erstes Anzeichen dafür, dass Russland und China bereits an Plänen für den Zeitpunkt arbeiten, an dem der ganze Konflikt vorüber ist, so oder so.
Mehr zum Thema – Rainer Rupp: Russland und China – die wichtigsten Stabilisatoren auf der internationalen Bühne