Von Susan Bonath
Ob in der Pflege und den Schulen, auf dem Bau oder in der IT-Branche: Immer lauter klagt die deutsche Wirtschaft über Fachkräftemangel. Folgt man der westlichen Doktrin, müsste der Markt das Problem von selbst regeln. Das tut er auch, nur nicht in Deutschland und schon gar nicht im Sinne der meisten Menschen.
Dieser Tage rätselten Experten über die neuen Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA). Warum stagniert die Arbeitslosigkeit und nehmen die Entlassungen wieder zu, während woanders Arbeitskräfte ohne Ende fehlen? Weshalb verbessern suchende Unternehmen die Arbeitsbedingungen nicht, um händeringend gesuchte Fachkräfte zu bekommen? Und wieso finden viele Schulabgänger dennoch keinen Ausbildungsplatz? An purer Faulheit liegt das kaum.
Arbeitslosigkeit steigt wieder
Die BA schwadroniert im gewohnten Stil: Dem Arbeitsmarkt fehle "der konjunkturelle Rückenwind". Daher falle "die Frühjahrsbelebung" leider "schwach" aus. Und dann der Schwenk: Zwar komme die deutsche Wirtschaft "seit zwei Jahren nicht in Tritt", aber die Situation am Arbeitsmarkt sei insgesamt noch "weiterhin robust". Ein Euphemismus folgt dem anderen.
Tatsächlich lag die Zahl der bei der BA als arbeitslos Gemeldeten im April bei 2,75 Millionen. Laut BA sind das 20.000 weniger als im März, aber 164.000 mehr als im April 2023. Die Menschen, die Maßnahmen absolvieren und de facto auch arbeitslos sind, sowie vorübergehend Arbeitsunfähige hinzugezählt, kommt die BA auf über 3,57 Millionen Betroffene – ein Anstieg um vier Prozent binnen Jahresfrist.
Betrachtet man den Verlauf der Arbeitslosenzahlen über die Jahre, fällt auf: Sie steigen wieder. So brach mit den Lockdowns 2020 der Arbeitsmarkt massiv ein. Die Anzahl der als erwerbslos gemeldeten Personen schoss damals um fast eine halbe Million in die Höhe.
Seit die Sanktionspolitik gegen Russland die Energiepreise nochmals in die Höhe trieb, scheint der Trend gesetzt: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt. Den fast 3,6 Millionen Betroffenen standen zuletzt gut 700.000 gemeldete offene Stellen gegenüber, die meisten davon erforderten eine spezifische Ausbildung.
Mehr Minijobber und Kurzarbeiter
Überdies müssen sich laut BA immer mehr Menschen mit Minijobs über Wasser halten. Innerhalb eines Jahres wuchs ihre Zahl um fast 100.000 auf knapp 7,5 Millionen Betroffene an. Auch wenn viele davon wahrscheinlich mit Bürgergeld aufstocken müssen, zählen diese Menschen nicht als arbeitslos. Sie kommen also auf die 3,57 Millionen Betroffenen noch obendrauf.
Die Kurzarbeit, vor Corona zumeist eine flautenbedingte Randerscheinung, nimmt auch wieder zu. Laut BA betraf dies im Dezember 2023 noch 146.000 Beschäftigte, im Februar dieses Jahres waren es schon mehr als 200.000. Grund seien vor allem wegbrechende Aufträge für Betriebe. Das verwundert nicht: Angesichts der hohen Energiepreise schwindet die Kaufkraft.
Massenentlassungen
Auch eine weitere Entwicklung scheint nicht so recht zum Fachkräftemangel zu passen: Die Medien berichten über immer neue Wellen von Massenentlassungen in Deutschland.
Es kriselt in vor allem in der Automobilbranche. So will etwa Bosch bis 2025 fast 1.000 Stellen in Deutschland streichen, Continental fast 3.000, das Unternehmen ZF sogar bis zu 12.000. Auch die Chemiebranche will tausende Arbeiter auf die Straße setzen, darunter etwa die BASF und Evonik, wie NTV berichtete.
Bildungsdesaster
Die moderne Arbeitswelt im digitalen Zeitalter ist zunehmend auf Spezialisten angewiesen, sei es in der Medizin oder im IT-Bereich, in der Elektronikbranche oder einfach im Büro. Fachwissen ist gefragt, und das erwirbt man in einer Ausbildung. Doch daran hapert es in Deutschland offensichtlich.
Die BA verzeichnete zwischen Oktober 2023 und April 2024 etwa 342.000 Bewerber, die zur Arbeitsagentur gingen, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten. Das waren 6.000 mehr als im Vorjahreszeitraum. Über die Hälfte von ihnen stand im April noch immer ohne Stelle da.
Sehr wahrscheinlich scheitern viele Bewerber bereits an mangelhafter Schulbildung. Dafür wäre der Staat zuständig. Doch auch an Lehrern fehlt es bekanntlich. Allein in Sachsen fielen im ersten Halbjahr 2023/2024 mehr als eine Million Unterrichtsstunden aus.
Der Staat kümmert sich zu wenig um die Kinder. Während die Söhne und Töchter aus wohlhabenden Familien auf teure Privatschulen ausweichen können, müssen Ärmere mit staatlichen Angeboten vorliebnehmen. Doch statt diese, auch angesichts der gestiegenen Migration, besser auszustatten, wurde jahrelang gespart und gestrichen. Das potenzierte soziale Probleme und sorgt zunehmend für unerträgliche Arbeitsbedingungen. Nach ernsthaftem Bemühen um künftige Fachkräfte sieht das nicht aus.
Industrie wandert ab
Den Sozialabbau wiederum begründet die Bundesregierung mit Mindereinnahmen und Haushaltslöchern. Das ist kein Wunder, wenn Konzerne ihre Produktion in Billiglohnländer verlagern und zunehmend mit ausländischen Großunternehmen, gerne mit Hauptsitz in den USA, verschmelzen. Auch Steuerhinterziehung ist ein beliebter "Sport" der Superreichen. Ausgleichen sollen das die Lohnabhängigen. Ihr Netto vom Brutto wird immer weniger, geschröpft wird vor allem die arbeitende Mittelschicht.
Der Abzug der Produktion dahin, wo mit den geringsten Mitteln der meiste Profit erwirtschaftet werden kann, entspricht allerdings der kapitalistischen Logik. Wenn die Märkte offen sind und die Politik nicht eingreift, kann man das keinem Unternehmen verübeln. Denn der einzige Wert, den die westliche kapitalistische Wirtschaft kennt, ist bekanntlich das Kapital. Das muss sich möglichst profitabel verwerten lassen.
Absurde Sanktionspolitik
In Deutschland und der EU kommt freilich das Energiedesaster hinzu, verursacht vor allem durch die absurde Sanktionspolitik gegen Russland. Auch die Aufklärung des Terroranschlags gegen die Nordstream-Pipelines ist augenscheinlich unerwünscht. So haben die Entscheider im Bundestag und im EU-Parlament die europäische Wirtschaft praktisch abgeschnitten von ihrer Lebensader.
Unternehmen, die es sich leisten können, packen die Koffer und ziehen dorthin, wo es billiger ist, gefolgt von gutbetuchten Hochstudierten, also Fachkräften, die freilich auch dort benötigt werden. Zurück bleiben vor allem kleine Betriebe und Lohnabhängige, die der Staat zur Kasse bittet. Denn die zahlreichen Ableger von US-Konzernen wissen, wie man Steuern vermeidet und trotzdem Fördermittel kassiert. Da ist es nicht erstaunlich, dass zugleich Fachkräfte fehlen und die Arbeitslosigkeit steigt.
Abwärtsspirale
Die Abwärtsspirale ist also eine Mischung aus ökonomischen und politischen Faktoren: Politisch forcierte horrende Energiekosten und im Sinne der Logik des freien Marktes abwandernde Unternehmen sorgen für einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Mangelhafte Bildung, zu Verwerfungen führende Sozialkürzungen und miese Arbeitsbedingungen bescheren zugleich den Fachkräftemangel.
Das ist ein Teufelskreis aus Deregulation der Märkte und Sozialabbau, mit dem unter anderem die kriegerische Aufrüstung finanziert werden soll. Politiker wie Finanzminister Christian Lindner (FDP) schwören gar darauf als Allheilmittel. Für die mächtigsten Großkonzerne, gerne mit Sitz in den USA, mag das stimmen. Doch für die Massen in Deutschland und Europa beschleunigt das die Abwärtsspirale weiter.
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