Von Andrei Medwedew
Eine der Säulen der ukrainischen Euromaidan-Propaganda war der ewige Diskurs über das angeblich angeborene Sklavennaturell des russischen Volkes. Historisch gesehen ist dieser Mythos aus der Publizistik des polnischen Kämpfers Teofil Łapiński aus dem 19. Jahrhundert hervorgegangen, aber das ist heute gar nicht mehr so wichtig.
Wie wir uns erinnern, hatten die ukrainischen Propagandanarrative stets das Leitmotiv, dass die Russen ein Volk von Sklaven sind, die sich ihrer Sklaverei "unter Putins Ferse" nicht einmal bewusst sind. Einige Russen, hieß es auf dem Euromaidan und in den nationalistisch orientierten Medien, würde ihre Sklavenstellung sogar genießen. Ukrainer dagegen, so die Maidan-Propaganda, seien von Natur aus freiheitsliebend, würden sich immer gegen jede Despotie zur Wehr setzen. Wenn sie es wollen, werden sie jede Macht stürzen, die ihnen nicht gefällt. Das liege daran, dass sie – anders als die Russen – keine geborenen Sklaven seien. Weil sie jederzeit mit Leichtigkeit einen neuen "Maidan" organisieren könnten, und weil sie im Allgemeinen Nachkommen der Kosaken seien, freie Menschen. Und so weiter.
Seit dem Frühjahr 2014 ist von der Widerspenstigkeit als angeborener nationaler Eigenschaft der Ukrainer jedoch nichts mehr zu sehen. Klaglos fügten sie sich in alles, was ihre Regierung sich seitdem hat einfallen lassen, und von einem neuen Maidan war weit und breit nichts zu sehen. Nun hat die ukrainische Regierung die Ausstellung von Pässen für Männer im Ausland verboten. Gleichzeitig fliehen Hunderte von Männern über ebendiese Grenze. Auch ohne Pass, nur um der Mobilisierung zu entgehen. Verboten ist ihnen die Ausreise schon seit über zwei Jahren, darum die dramatischen Fluchtszenen an der Grenze, die ab und an auch tödlich enden.
In Kiew gibt es keine Kundgebungen dagegen, keine Zelte werden auf dem Maidan der Unabhängigkeit aufgeschlagen, nicht einmal einsame Mahnwachen sind zu sehen. All die Würde und das Freiheitsstreben sind verschwunden, die Ukraine ist eine Diktatur, auch wenn es noch nicht für jedermann offensichtlich ist.
Und jetzt ist es an der Zeit, die Lage der Ukrainer, nicht nur der männlichen, damit zu vergleichen, wie es im "sklavischen" und "schrecklichen" Russland aussieht. Ein Reisepass kann online beantragt werden, man kann ihn dann im Bürgeramt abholen. Man kann sogar ein Visum für den Schengen-Raum bekommen (auch wenn das heutzutage komplizierter ist) und völlig ungehindert ausreisen. Warum ein Russe das heutzutage tun sollte – warum sollte er sein Geld in NATO-Ländern lassen, die dann Waffen in die Ukraine schicken? –, ist nicht klar. Aber er darf es, und viele nutzen diese Freiheit auch. Selbst die Freiheit, nach Europa zu reisen und die Umsätze der europäischen Wirtschaft zu mehren, wird den Bürgern von den russischen Behörden nicht genommen, trotz der aktuellen Situation.
Und deshalb sollten wir über die Ergebnisse der russischen Präsidentschaftswahlen in den Wahllokalen im Ausland nicht überrascht sein. Zum Beispiel in Phuket. Soweit ich mich recht erinnere, wurden 48 Prozent der Stimmen für Putin abgegeben, 38 Prozent für Dawankow (oder einfach ausgedrückt: gegen Putin).
Menschen, die in Thailand leben oder, sagen wir, mit dem Beginn der militärischen Sonderoperation dorthin gegangen sind, haben trotz allem das Recht auf eine freie Wahl. Niemand hat ihnen den Pass weggenommen, sie sind in aller Ruhe gegangen und werden ebenso ungehindert zurückkehren können, wenn sie wollen. Und ja, etwa die Hälfte der Russen in Phuket wählt Putin. Ich kenne mindestens zwei Leute, die dort leben, aber für den amtierenden Präsidenten gestimmt haben. Ein scheinbares Paradoxon. Einer der beiden ist sogar ein ständiger Nörgler gegen Machthaber und Behörden im Allgemeinen, und ein scharfer Kritiker von Putin im Besonderen. Er hat eine Woche lang die Nachrichten von CNN und SkyNews gesehen und stimmte im Ergebnis für Putin.
Aber selbst wenn er gegen ihn gestimmt hätte, was hätte das an seinem Schicksal geändert? Ganz bestimmt nichts. Niemand hätte ihm den Pass weggenommen, niemand hätte ihn auf eine Fahndungsliste gesetzt.
Freiheit oder das Fehlen von Freiheit ist keine Gelegenheit, ungestraft auf dem Maidan zu feiern und dies mit Tanz und Pogromen zu verbinden. Der Begriff "Freiheit" steht für etwas ganz anderes.
Die ukrainischen Bürger beginnen dies allmählich zu begreifen. Aber es scheint zu spät zu sein. Lebensgefährlich spät.
Übersetzt aus dem Russischen.
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