Europäer, hört die Signale! ‒ USA wollen euch Krieg gegen Russland schmackhaft machen

Foreign Affairs gilt als die wichtigste Strategiezeitschrift der US-amerikanischen Außenpolitik. In einem aktuellen Artikel wird von den Europäern verlangt, Soldaten in die Ukraine und damit in die direkte Konfrontation mit Russland zu schicken. Die NATO ‒ und somit US-Soldaten ‒ müssten aber aus dem Konflikt herausgehalten werden.

Von Pjotr Akopow

Die Kernbotschaft der US-Propaganda für Europa lautet, dass der Kampf mit Russland um die Ukraine für den gesamten Westen von entscheidender Bedeutung ist ‒ und dass die USA gemeinsam mit Europa innerhalb des NATO-Formats alles tun müssen, um Kiew zum Sieg zu verhelfen und Putin zu stoppen, da er sonst nach der Ukraine auch Europa angreifen wird.

Dieser Gedanke wird in Washington von Politikern und Militärs ständig bekräftigt ‒ und wenn Europa nervös wird wegen einer eventuellen Änderung der US-Strategie infolge der möglichen Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus, wird es beruhigt, dass selbst in diesem Fall keine Katastrophe eintreten wird: Die Trägheit der US-Außenpolitik ist zu groß, und niemand wird dem neuen Präsidenten einen abrupten Kurswechsel erlauben.

Europa glaubt nicht wirklich an diese Beschwichtigung, hält aber immer noch an der Linie der transatlantischen Solidarität fest — und umso interessanter ist es, was einige US-amerikanische Analysten dem "alten Kontinent" bereits unterbreiten:

"Zu viele Politiker und Experten in den Vereinigten Staaten und Europa machen sich Putins Ansichten zu eigen, indem sie davor warnen, dass jede Art von externer Intervention in der Ukraine zum Dritten Weltkrieg führen würde. In Wirklichkeit wäre die Entsendung europäischer Truppen eine normale Reaktion auf einen Konflikt dieser Art.

Der Einmarsch Russlands hat das regionale Gleichgewicht der Kräfte gestört, und Europa hat ein vitales Interesse daran, dass dieses Ungleichgewicht korrigiert wird. Die naheliegendste Möglichkeit, dies zu tun, ist die Bereitstellung einer Rettungsleine für das ukrainische Militär, das von den Vereinigten Staaten wieder einmal im Stich gelassen werden könnte, und die beste Rettungsleine wären europäische Soldaten.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen sich nicht dem Diktat der zunehmend unzuverlässigen Vereinigten Staaten fügen, wenn es darum geht, wie der Kampf in der Ukraine geführt werden soll; sie können und sollten selbst entscheiden, wie sie die Freiheit und Sicherheit des Kontinents am besten gewährleisten können."

Dies ist ein Zitat aus dem umfangreichen Artikel "Europa, aber nicht die NATO, sollte Truppen in die Ukraine schicken", der diese Woche in der US-Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlicht wurde.

Drei der Autoren sind zwar keine hochrangigen US-Beamte, aber sie haben in der Fachwelt Gewicht, da sie in verschiedenen Denkfabriken gearbeitet haben, die sich mit strategischen Fragen befassen: der pensionierte Oberst Alex Crowther, der derzeitige Oberstleutnant der US-Luftwaffe Jahara Matisek und Phillips O'Brien von der Universität St. Andrews. Was sie vorschlagen, ist nichts weniger als eine direkte Provokation: Sie versuchen, Europa davon zu überzeugen, dass es sich an den Kämpfen in der Ukraine beteiligen muss, ohne dabei auf die Vereinigten Staaten zu schauen.

Ja, vergessen Sie die NATO und die USA, ‒ "die europäischen Staats- und Regierungschefs können es sich nicht leisten, dass die amerikanische politische Dysfunktion die europäische Sicherheit diktiert" ‒ handeln Sie auf eigene Faust, schicken Sie lieber früher als später Truppen in die Ukraine und fürchten Sie nichts ‒ Putin blufft nur!

"Die europäischen Streitkräfte könnten sich entweder an Nicht-Kampfeinsätzen ("noncombat operations") oder Kampfeinsätzen beteiligen, um den Druck auf die Ukraine etwas zu verringern. Ein reiner Nicht-Kampfeinsatz wäre in den meisten europäischen Hauptstädten am einfachsten zu verkaufen. Die europäischen Streitkräfte könnten die Ukrainer bei logistischen Aufgaben, wie der Wartung und Reparatur von Kampffahrzeugen, entlasten." 

Aber der "Nicht-Kampfeinsatz" wäre nur der Anfang, etwas, das den Europäern tatsächlich "leichter zu verkaufen" ist (auch wenn das eine Lüge ist: schon jetzt zeigen Umfragen eine negative Einstellung dazu in den meisten EU-Ländern) ‒ eine vollwertige Beteiligung am Krieg wäre die Folge:

"Eine solche Mission könnte darin bestehen, die ukrainischen Luftverteidigungskapazitäten zu stärken, etwa durch die Entsendung von Personal, die Bereitstellung von Ausrüstung oder sogar die Übernahme des Kommandos und der Kontrolle über das ukrainische Luftverteidigungssystem.

Eine weitere Kampfmission ("combat role") ‒ die wie eine Luftverteidigungsmission wahrscheinlich keine russischen Streitkräfte einbeziehen würde ‒ würde Patrouillen entlang Teilen der ukrainischen Grenze umfassen, wo keine russischen Truppen stationiert sind, wie zum Beispiel an der Schwarzmeerküste und an den Grenzen zu Weißrussland und Transnistrien.  

Ein mögliches russisches Ziel ist Odessa, der wichtigste Hafen der Ukraine, über den ein Großteil der Exporte des Landes abgewickelt wird. Sollten sich russische Truppen der Stadt nähern, hätten die europäischen Streitkräfte in der Nähe das Recht, sich zu verteidigen und auf die anrückenden Soldaten zu schießen."

Um so etwas zu rechtfertigen, muss man den Europäern natürlich so viel Angst wie möglich einjagen ‒ und über den gesamten Artikel verstreut lassen sich viele Aussagen über die vermeintliche russische Bedrohung für Europa finden: 

"Es gibt keinen Grund zu erwarten, dass Putin bei der Ukraine Halt macht; er hat bereits gesagt, dass alle ehemaligen Sowjetrepubliken an Russland zurückgeführt werden sollen. Die baltischen Staaten könnten die Nächsten sein, gefolgt von Finnland und Polen, die Fürstentümer innerhalb des vorsowjetischen Russischen Reiches waren."

Es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass all dies eine glatte Lüge ist, aber Foreign Affairs ist keine Boulevardpresse, sondern eine der einflussreichsten US-amerikanischen Publikationen, deren Autoren an amerikanischen Militäruniversitäten lehren und die Behörden in Washington beraten. In diesem Fall besteht ihr Ziel darin, die europäischen Staats- und Regierungschefs von der Notwendigkeit einer direkten Beteiligung Europas an einem Krieg mit Russland zu überzeugen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sie selbst glauben, was sie sagen, das heißt, wir haben es mit einer völlig unzureichenden Wahrnehmung der Realität zu tun.

(Anm. d. Red.: Foreign Affairs hat diese Passage inzwischen geändert, da darin "fälschlicherweise behauptet wurde, der russische Präsident Wladimir Putin habe erklärt, dass alle ehemaligen Sowjetrepubliken an Russland zurückgegeben werden sollten". In der neuen Version heißt es nun: "Putin nannte den Zusammenbruch der Sowjetunion 'die größte geopolitische Katastrophe' des 20. Jahrhunderts und beklagte, dass 'sich dutzende Millionen unserer Mitbürger und Landsleute außerhalb des russischen Territoriums wiederfanden'. Die baltischen Staaten sind in Gefahr, ebenso wie Polen.")

Der globalistische, transatlantische Teil der US-Elite glaubt, dass Russland und Putin einen Teil Europas erobern werden, um ihn Amerika wegzunehmen, und da die USA selbst in eine Phase innenpolitischer Turbulenzen geraten, fordern sie Europa auf, Verantwortung zu übernehmen und Putin auf dem Gebiet der Ukraine zu bekämpfen. Denn "die Ukraine ist Europa".

"Stattdessen stützt Russland seine Hoffnungen auf einen Sieg fast ausschließlich darauf, dass Europa die Ukraine als vom Rest des Kontinents getrennt betrachtet. Bislang haben sich diese Hoffnungen bewahrheitet. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben Angriffe auf die Ukraine geduldet, die eine einheitliche europäische Reaktion ausgelöst hätten, wenn sie in einem NATO- oder EU-Mitgliedsstaat stattgefunden hätten. Diese Haltung hat es Russland ermöglicht, seinen Krieg in der Ukraine eskalieren zu lassen, in der Gewissheit, dass das übrige Europa auf Distanz bleiben wird.

Das Eintreffen europäischer Streitkräfte in der Ukraine würde diese Kalkulation ändern. Moskau müsste mit der Möglichkeit rechnen, dass eine europäische Eskalation den Krieg für Russland nicht gewinnbar machen könnte."

Europa sollte also in einen direkten militärischen Konflikt mit Russland gehen, um die Ukraine zu kontrollieren, und gleichzeitig die Gefahr ignorieren, dass der Krieg zu einem Atomkrieg eskalieren könnte? Ja, natürlich! Und was ist mit der Tatsache, dass diese These der vorhergehenden widerspricht, also den Plänen Russlands, sich eines Teils Europas zu bemächtigen? Es gibt keine andere Möglichkeit ‒ wenn es nötig ist, machen wir Russland Angst, und wenn es passt, reden wir über seinen Bluff:

"Die eigentliche Frage ist, ob Russland tatsächlich Atomwaffen einsetzen würde, wenn europäische Streitkräfte in die Ukraine eindringen. Diese Frage ist wohl schon jetzt überflüssig, da derzeit Spezialeinheiten aus westlichen Ländern in der Ukraine operieren. 

Moskau äußert sich regelmäßig mit aggressiver Rhetorik gegenüber den NATO-Mitgliedern, aber bisher hat es nur gebellt und nicht gebissen. Es vermeidet Kontakte mit NATO-Streitkräften und konzentriert sich stattdessen auf Nachbarländer außerhalb des Bündnisses, wie Georgien und die Ukraine, die es gefahrlos herumschubsen kann. 

Bereits 2014 drohte Putin mit einem Angriff auf Polen, Rumänien und die baltischen Staaten, und in den folgenden Jahren drohte er mit einem Einmarsch in Finnland und Schweden, wenn diese der NATO beiträten, er drohte Norwegen, weil dieses Land zusätzliche US-Truppen beherbergt, er drohte Polen und Rumänien, weil diese Länder Einrichtungen zur Abwehr ballistischer Raketen beherbergen, und 'allen europäischen Ländern', die die Stationierung von US-Raketen auf ihrem Boden zuließen. 

In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat der Kreml mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen Dänemark, Polen, Schweden, die Ukraine, das Vereinigte Königreich, die baltischen Staaten, die Europäische Union insgesamt und natürlich die NATO und die USA gedroht oder solche Szenarien in Simulationen durchgespielt.

Irgendwann müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs Putins Säbelrasseln ignorieren, das lediglich Propaganda ist und auf der unbegründeten Annahme beruht, die NATO wolle Russland angreifen oder dort einmarschieren."

Der Rat ist also einfach: Europa sollte Putins Warnungen ignorieren, denn er droht schon seit langem damit, NATO-Länder anzugreifen (egal, dass wir uns das alles ausgedacht haben), hat es aber nie gewagt. Also nur zu, stellt Truppen in die Ukraine (die nicht zu Russland, sondern zu Europa gehört, vergesst das nicht) ‒ es wird keinen Atomkrieg geben!

All dieser analytische Wahnsinn prägt auch folgende bewundernswerte These:

"Darüber hinaus würde eine Reaktion unter europäischer Führung die russische Propaganda entkräften, dass die Intervention der NATO-Staaten in der Ukraine lediglich ein amerikanischer Trick sei, um Russland zu schwächen.

Die Auffassung, die NATO sei in diesem Krieg der Aggressor, ist in vielen Teilen der Welt verbreitet, und wenn Europa ihr entgegentritt, könnte es Moskau sowohl diplomatisch als auch wirtschaftlich weiter isolieren. Und da die europäischen Streitkräfte außerhalb des NATO-Rahmens und des NATO-Gebiets agieren würden, würden etwaige Verluste keine Reaktion nach Artikel 5 auslösen und daher nicht die Vereinigten Staaten auf den Plan rufen. Der Gegner Russlands wäre nicht die NATO, sondern eine Koalition europäischer Staaten, die ein Gleichgewicht gegenüber dem nackten russischen Imperialismus anstreben würden."

Wenn der Krieg offiziell nicht die NATO, sondern die Länder der Nordatlantischen Allianz betrifft, ist es natürlich kein Krieg Russlands mit der NATO, sondern ein Krieg mit einzelnen Ländern der Europäischen Union! Es ist nicht einmal notwendig, dies zu kommentieren, außer daran zu erinnern, dass die Europäer in einer anderen, noch fiktiveren Realität Angst haben, dass die NATO zusammenbrechen könnte, wenn sie nicht auf Moskaus Herausforderung in der Ukraine reagieren (schließlich sollten wir nicht vergessen, dass Moskau dann die baltischen Staaten angreifen wird!).

All diese Überlegungen eines aufgeregten Geistes wären lächerlich, wenn sie nicht mit dem wirklichen Feuer und dem wirklichen Krieg spielen würden, der sich auf dem Territorium der russischen Welt und mit dem Leben ihrer Bewohner in der Ukraine abspielt. Die europäischen Staats- und Regierungschefs, die den Ratschlag von Foreign Affairs gelesen haben, werden darin jedoch keine Anleitung zum Handeln sehen, sondern eine Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen: Die Transatlantiker in Übersee sind endgültig in eine Sackgasse geraten und wollen sich mithilfe der Köpfe ihrer europäischen Juniorpartner aus dieser herauskatapultieren.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 25. April 2024.

Pjotr Akopow ist Kolumnist und Analytiker bei RIA Nowosti.

Mehr zum Thema ‒ "Deutliche Schritte in Richtung Krieg" – Bundeswehr bereitet Deutschland auf NATO-Großübung vor