Von Tarik Cyril Amar
Der Bundeskanzler Olaf Scholz war zu einem dreitägigen Besuch in China. Er reiste nicht allein, mit in seinem Tross war eine große Delegation von Vertretern der deutschen Wirtschaft, insbesondere von Vorzeigeunternehmen wie Mercedes, Siemens und BMW.
Scholz hatte eine anspruchsvolle Agenda: Der Bundeskanzler wollte über internationalen Handel und Wettbewerb, über Klimapolitik, die Spannungen um Taiwan und über den Krieg in der Ukraine und Chinas Verhältnis zu Russland sprechen. Da Iran nach dem illegalen Angriff Israels auf das iranische Konsulat in Damaskus von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt hatte, fühlte sich Scholz veranlasst, auch dazu eine Stellungnahme abzugeben.
Zwei Themen überragten alle anderen auf der Tagesordnung: die deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen und die Beziehungen zwischen China und Russland. Bezüglich der Handelsbeziehungen ist das entscheidende Problem, dass der Westen insgesamt – angeführt von den USA – eine Politik des nicht erklärten Wirtschaftskrieges gegen China eingeschlagen hat und dabei ständig mit weiterer Eskalation droht.
Das war die Leitlinie der jüngsten Reise von Janet Yellen nach Peking. Die US-Finanzministerin kam mit einer Liste von Forderungen angereist, um das einzudämmen, was die USA als "chinesische Überkapazitäten" und "Preisdumping" anprangern und reiste wieder ab mit ihrer unverblümten Drohung, dass hinsichtlich weiterer Angriffe gegen die chinesische Wirtschaft "nichts ausgeschlossen" sei.
Dann ist da noch die Europäische Union, die der Führung in Washington wie gewohnt bedingungslos folgt. Unter Hardlinern wie der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und deren Vizepräsidentin Margrethe Vestager verstärkt man in Brüssel die antichinesische Rhetorik und Handlungsweise. Peking wurde dort offiziell zum "Kooperationspartner, wirtschaftlichen Konkurrenten und systemischen Rivalen" erklärt. Die EU-Kommission sieht die "wirtschaftliche Sicherheit" durch China gefährdet und geht gegen chinesische Konkurrenten in der E-Mobilität, bei Windkraftanlagen und bald auch bei medizinischen Geräten vor.
Gleichzeitig wissen die deutschen Wirtschaftsmanager jedoch, dass sie sich einen langwierigen Wirtschaftskonflikt mit China nicht leisten können. Ein hochrangiger Manager von Siemens ist kürzlich mit der Warnung an die Öffentlichkeit getreten, dass eine "Abkopplung" der europäischen Wirtschaft von der chinesischen "Jahrzehnte" dauern würde. Das ist natürlich nur eine andere Art zu sagen, dass dieser Versuch an sich eine sehr schlechte Idee ist.
Oberflächlich betrachtet könnte es so aussehen, als gäbe es für Scholz – der durch und durch opportunistisch handelt – die Möglichkeit, als Vermittler aufzutreten oder zumindest geschickt zwischen den konkurrierenden Forderungen zu balancieren. Die Global Times, ein Medienunternehmen im Besitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, bereitete den Besuch des Kanzlers mit einem allgemein freundlichen und begrüßenden Artikel vor.
Im Wesentlichen wurde Scholz als eine Taube unter Falken dargestellt. Es wurde argumentiert, dass demgegenüber die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck klar für Konfrontation stehen, während der Bundeskanzler wohl nach einem ausgewogenen Ansatz suche.
Doch selbst wenn Scholz versuchen wollte, klug und flexibel zu sein, ist er in mehrfacher Hinsicht blockiert. Es wird ihm schwerfallen, ernst genommen zu werden, weil es sowohl Deutschland insgesamt wie auch dem Bundeskanzler mittlerweile an internationalem Ansehen und somit Deutschland in seinen Beziehungen zu China an Gewicht mangelt.
Schauen wir uns zunächst das Verschuldungsdefizit an: In wirtschaftlicher Hinsicht sind die chinesisch-deutschen Beziehungen beständig und vielfältig, wobei viele Faktoren wichtig sind. Mehrere Indikatoren sind relevant, wie zum Beispiel die ausländischen Direktinvestitionen, die derzeit rückläufig sind. Doch das Gesamthandelsvolumen zeigt, dass Deutschland keineswegs aus einer Position der Stärke oder gar Parität Peking gegenübertreten kann.
Laut Bloomberg ist China gemäß den Exportdaten von 2023 zufolge zwar immer noch Deutschlands größter Handelspartner. Als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt – die größte nach Kaufkraftparität – ist China aber der wichtigste Handelspartner für insgesamt 120 Länder. Das ist in der heutigen Welt auch nichts Ungewöhnliches. China ist auch der größte Außenhandelspartner der gesamten Europäischen Union. Andererseits rangiert Deutschland nur auf Platz acht der größten Abnehmer von Exporten aus China hinter den USA, Japan und sogar hinter Vietnam.
Das alles bedeutet zwar nicht, dass die Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland für Peking keine Rolle spielen würden, doch es bedeutet, dass sie für Berlin umso wichtiger sind. Unter rationalen Akteuren wäre ein solches Muster der beiderseitigen Abhängigkeit ein Grund für eine Zusammenarbeit. Das ergibt dagegen keine einseitige Hebelwirkung zu Gunsten Deutschlands. Wenn hier jemand überhaupt in der Lage ist, die Peitsche zu schwingen, dann ist es China. Möglicherweise war es ein Versuch, Berlin diese Tatsache "diplomatisch sanft" zu vermitteln, als die Gastgeber Scholz bei der Ankunft in der chinesischen Metropole Chongqing mit einem verblüffend sparsamen (um nicht zu sagen demütigenden) Empfangskomitee begrüßten.
Grundsätzlich handelt es sich bei Deutschland nach Angaben des Internationalen Währungsfonds um ein Land mit knapp 84 Millionen Einwohnern, dessen BIP-Wachstum in diesem Jahr voraussichtlich nur 0,5 Prozent betragen wird. In China dagegen leben allein in Chongqing über 30 Millionen Einwohner, China insgesamt hat eine Bevölkerung von mehr als 1,4 Milliarden Menschen und sein BIP wird in diesem Jahr schätzungsweise um 4,6 Prozent wachsen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Chinas Wirtschaft zwar auch Probleme hat, wie zum Beispiel im überdehnten Immobiliensektor, die von westlichen Untergangspropheten oft zwanghaft übertrieben werden. Die deutsche Wirtschaft ist dagegen nur noch ein großer Problemfall.
Der deutsche Bundeskanzler hält daher nur ein schwaches Blatt in der Hand. Es gibt nur einen Weg, dieses schlechte Blatt wenigstens gut zu spielen, und dieser Weg führt über die Politik. Scholz könnte Deutschland etwas Spielraum verschaffen, wenn er das täte, was Peking in dem oben erwähnten Artikel in der Global Times signalisierte: etwas mehr Autonomie zeigen, ein wenig mehr Distanz erkennbar werden lassen zwischen sich und den Hardlinern, die jetzt sowohl in Washington als auch in Brüssel dominieren.
Schon die theoretische Möglichkeit, dass der deutsche Bundeskanzler vom Drehbuch abweichen könnte, ist für die Falken im Westen ein dermaßen alptraumhaftes Szenario in Bezug auf China, dass eine der beiden einflussreichsten US-Zeitschriften für internationale Politik zum Exorzismus griff, um Scholz jegliche abweichenden Ideen vorsorglich auszutreiben. Foreign Policy widmete einen ganzen Artikel der Frage, ob Scholz "den Schwanz einziehen" und sich gegenüber Peking zu versöhnlich zeigen werde. Während die Global Times in ihrem Artikel zum Besuch von Scholz eine Einladung in der Art "Ein Angebot, das Sie nicht ablehnen sollten" aussandte, lautete die Botschaft von Foreign Policy: "Wage es ja nicht!"
Aber Scholz sollte es wagen. Es wäre nur rational, weil es tatsächlich der einzige Trumpf ist, den er in der Hand hat. Wie Foreign Policy sehr wohl erkannt hat, kann die harte Linie der EU gegen China auf Dauer nicht aufrechterhalten werden, wenn Berlin davon abweicht. Und ohne die Aufrechterhaltung dieser Linie durch die EU würde auch für Washington das Spiel deutlich schwieriger werden. Genau das ist der Trumpf, den Scholz hat, aber nicht spielt: die Macht, beide Seiten auszubalancieren und gleichzeitig gegeneinander auszuspielen.
Leider stoßen wir hier an die sehr engen Grenzen von Olaf Scholz als Bundeskanzler. Er ist bei weitem kein Reichskanzler Bismarck. Stattdessen haben wir es mit einem Menschen zu tun, den man als den einerseits rücksichtslosesten, andererseits gegenüber den USA als den rückgratlosesten und unterwürfigsten Bundeskanzler seit 1949 bezeichnen kann. Scholz stand grinsend daneben, als Biden in seiner Anwesenheit ankündigte, dass die USA die Ostsee-Pipelines Nord Stream zerstören werden, wenn ihnen danach ist. Als genau das dann tatsächlich passierte, geschah – nichts! Der deutsche Staat nahm es wortlos hin, der Bundeskanzler Scholz grinste weiter vor sich hin.
Unter Scholz ist Deutschland zum perfekten Vasallen der USA geworden. Dementsprechend sind sich die derzeit regierenden Eliten in Brüssel und Berlin auch in allem absolut einig, weil Ursula von der Leyen als eine weitere ultraatlantische Politikerin die Europäische Kommission leiten darf. Einige Beobachter spekulieren zwar, dass Deutschland durchaus geschickt noch hier und da ausscheren könnte, doch in der Summe wäre selbst das für Peking wohl zu wenig.
Mit der Frage der Abhängigkeit sind wir auch beim vorletzten erheiternden Aspekt des Scholz-Besuchs in China angelangt: Der Bundeskanzler hatte im Vorfeld durchblicken lassen, dass er China bezüglich seiner Russlandpolitik und des Krieges in der Ukraine herausfordern wolle. Im Wesentlichen scheint Scholz zu glauben, dass es sein Recht oder gar seine Pflicht sei, China zur Lockerung seiner Beziehungen zu Russland zu drängen und dabei noch die unrealistischen Vorschläge des Westens zur Beendigung des Krieges in der Ukraine zu wiederholen, ohne anzuerkennen, dass Russland diesen Krieg wohl gewinnen wird.
An dieser erstaunlich unsensiblen Haltung sind zwei Dinge falsch: Erstens sind offensichtlich weder Deutschland noch die Europäische Union in einer Position, solche Forderungen an China zu richten. Beide haben weder Argumente noch die Macht, sie durchzusetzen. In solchen Fällen ist es meist klüger und würdevoller, einfach zu schweigen.
Zweitens gilt, wenn auch weniger offensichtlich: Wer ist denn dieser Olaf Scholz, der da versucht, sich in die von Rationalität und Respekt für die jeweiligen nationalen Interessen geprägte Partnerschaft zwischen Moskau und Peking einzumischen? Solange Deutschland wie bisher ein Schauspiel an bedingungslosem und irrationalem Gehorsam gegenüber der US-Regierung in Washington bietet, wird sich niemand für die Ratschläge von Scholz interessieren.
Das war das vorletzte Bonmot. Und nun die Pointe: Der Besuch von Scholz ist selbst ein Ausdruck dessen, dass es dem Westen nicht gelungen ist, China einzuschüchtern. In Deutschland klagen laut einer aktuellen Umfrage zwei Drittel der in China tätigen deutschen Unternehmen über angebliche Ungleichbehandlung im Land der Mitte. Trotzdem sind sie dort und wollen bleiben. Trotzdem kommt ein deutscher Bundeskanzler samt einem Flugzeug voller Wirtschaftsmanager zu Besuch.
Die tiefere Bedeutung der besagten Umfrage liegt darin, dass sie bloßlegt, wie unverzichtbar China für Deutschland ist – ungeachtet des Geredes vom "Verringern der Risiken" und von "Entkopplung". In nicht allzu ferner Zukunft könnte ein Amtsnachfolger von Scholz zu einer ähnlichen Reise aufbrechen – in Richtung Moskau. Nämlich dann, wenn eine weitere Realität so überzeugend geworden ist, dass niemand mehr an ihr vorbeikommt: Auch Russland lässt sich vom Westen nicht einschüchtern. Und so wie China bleibt auch Russland für Deutschland und ganz Europa unverzichtbar.
Übersetzt aus dem Englischen
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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