Von Dagmar Henn
Vielleicht wäre es hilfreich, einen Online-Kurs in Völkerrecht für die deutschen politischen Eliten abzuhalten – am besten mit der Möglichkeit einer anonymen Teilnahme, damit sie nicht die Peinlichkeit einer Entdeckung fürchten müssen (wobei die Aussagen, die regelmäßig geliefert werden, schon genug sichtbarer Beleg für Ahnungslosigkeit sind).
Weil man nicht immer Außenministerin Annalena Baerbock als abschreckendes Beispiel anführen kann, hier einmal die Vorsitzende des Rats der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs:
"Die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland hat den Angriff des Iran auf Israel als "schändlich und völkerrechtswidrig" bezeichnet. Er sei daher "auf das Schärfste zu verurteilen."
Fehrs ist ziemlich typisch für die deutsche Schlagseite. Sucht man nach Äußerungen von ihr zum Genozid im Gazastreifen, findet man nur eine Aussage aus dem Dezember, in der sie beklagte, dass deutsche Jugendliche einseitig informiert werden, weil sie auf TikTok zu viele Videos aus Gaza sähen und es nur wenige "vergleichbare Bilder über den Terror gegen Israel" gäbe. Das mag daran liegen, dass die schrecklichsten Bilder des 7. Oktobers die Folge israelischer Hubschrauberangriffe gegen Israelis sind. Auf jeden Fall kam sie damals zu dem Fazit, man könne überhaupt nur einen humanen Umgang mit der palästinensischen Zivilbevölkerung fordern, "wenn wir uns zugleich fest an die Seite Israels stellen". Zwanzigtausend tote Palästinenser später scheint sie das immer noch so zu sehen.
Aber natürlich irrt sie sich mit "völkerrechtswidrig". Das, was diesem Angriff vorhergegangen war, wird in der deutschen Berichterstattung, wenn überhaupt, sehr verkürzt dargestellt. So etwa auf T-Online (und das ist noch eine der besseren Varianten):
"Seit Tagen war mit einem Vergeltungsschlag gegen Israel gedroht worden dafür, dass Benjamin Netanjahu das iranische Konsulat im syrischen Damaskus bombardieren ließ. Hochrangige iranische Militärs kamen dabei ums Leben. Iran wertete diesen Schlag ebenfalls als Angriff gegen das eigene Staatsgebiet."
Oder die Version des staatlichen Senders Deutschlandfunk:
"Der Iran hatte Vergeltung für einen Israel zugeschriebenen Luftangriff auf seine Vertretung in Damaskus am 1. April angekündigt. Bei der Attacke wurde unter anderem ein hochrangiger Kommandeur der Revolutionsgarden getötet. Diplomatische Vertretungen sind nach internationalen Vereinbarungen von Angriffen ausgenommen."
Man sieht, sie sind sich bezogen auf den israelischen Angriff nicht ganz einig; der Deutschlandfunk macht ihn zu einem "Israel zugeschriebenen", als gebe es in der Region einen weiteren Kandidaten für diese Attacke. Dafür wird hier zumindest erwähnt, dass ein Angriff auf eine Botschaft eine Überschreitung ist, auch wenn nur halb erklärt wird, warum. T-Online schreibt dafür, dass der Iran dies nur "als Angriff gegen das eigene Staatsgebiet" wertete, als wäre das eine Sache der Interpretation.
Ist es aber nicht. Zumindest nicht für jene Länder, die das entsprechende Abkommen unterzeichnet haben. Botschaften sind Staatsgebiet des Entsendestaates, gleich, in welchem Land sie stehen. Womit ein Angriff auf eine Botschaft ein unmittelbarer Angriff auf das Staatsgebiet wird, damit eine kriegerische Handlung und damit ein Auslöser für das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta. Zugegeben, in diesem Zusammenhang ist man in Deutschland gewissermaßen zwanghaft blind, spätestens seit Nord Stream, was ebenfalls ein Fall für Artikel 51 hätte sein müssen, wenn man nicht wüsste, dass die Täter in Washington …
Die Tatsache, dass der Staat, der die iranische Botschaft in Damaskus angegriffen hat, selbst das Abkommen unterzeichnet hat, das die Unverletzlichkeit der Botschaften festlegt (und selbst ebendiese Unverletzlichkeit von anderen einfordert), also die eigenen vertraglichen Verpflichtungen verletzt hat, kommt noch hinzu. Ganz zu schweigen von dem kleinen Problem, dass die Aufrechterhaltung des Prinzips der Exterritorialität im kollektiven Interesse aller Staaten liegen müsste. Nachdem eine Verurteilung des israelischen Angriffs durch den UN-Sicherheitsrat am Westen gescheitert war, ging es also nicht nur um eine Reaktion auf einen direkten Angriff des iranischen Staatsgebietes, sondern um die Verteidigung eines Prinzips, von dem sogar die Staaten des Westens profitieren, die, nebenbei bemerkt, ohne dieses Prinzip sehr schnell in vielen Weltgegenden Schwierigkeiten hätten, ihre diplomatische Präsenz aufrechtzuerhalten.
Eine attraktive Zusammenstellung des Nichtbegreifens lieferte der Hessische Rundfunk, der sich die Mühe gemacht hatte, einmal quer durch das politische Personal Hessens die Reaktionen einzusammeln. Durch die Bank wird so getan, als sei die iranische Reaktion aus heiterem Himmel erfolgt, dabei scheint mittlerweile ziemlich genau festzustehen, dass – wie vor dem Vergeltungsschlag nach der Ermordung von General Quasem Soleimani durch die USA – sogar vorgewarnt wurde.
Der bekannte Journalist Pepe Escobar fasst den Vorlauf auf seinem Telegram-Kanal folgendermaßen zusammen:
"Burns traf eine iranische Delegation im Oman. Es wurde ihm gesagt, dass eine Bestrafung der Israelis unvermeidbar sei – und alle US-Stützpunkte angegriffen würden und die Straße von Hormus blockiert würde, wenn die USA sich einmischten. Burns sagte: 'Wir tun nichts, wenn keine Zivilisten verletzt werden.' Die Iraner sagten: 'Es wird ein Militärstützpunkt oder eine Botschaft sein.' Die CIA sagte: 'Dann macht es.'"
Nun zurück zu den Hessen. "Diesen schändlichen Angriff verurteile ich auf das Schärfste! Unsere volle Solidarität gilt unseren israelischen Freunden", wird Ministerpräsident Boris Rhein zitiert. Der hessische Antisemitismus-Beauftragte Uwe Becker forderte gleich, "die diplomatischen Vertretungen Irans in Deutschland zu schließen", also den Abbruch der diplomatischen Beziehungen, und stellte sich mit Israel-Flagge vor das iranische Konsulat in Frankfurt.
Innenministerin Nancy Faeser, die jüngst erst Spitzenkandidatin der hessischen SPD in der Landtagswahl war: "All unsere Unterstützung und Solidarität gilt den Menschen in Israel angesichts dieser beispiellosen, brandgefährlichen und mit aller Schärfe zu verurteilenden Attacken des iranischen Terror-Regimes." Nicht zu vergessen, Janine Wissler von der Linken: "Wir verurteilen den Luftangriff auf Israel auf das Schärfste. Für die Menschen in Israel bedeutet er eine neue Stufe des Terrors. Wir stehen klar an der Seite Israels."
Nirgends auch nur der Ansatz einer Erkenntnis, dass der israelische Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus ein glasklarer Verstoß gegen das Völkerrecht war, auf den hin Iran auch einen Krieg gegen Israel beginnen könnte (es aber eben nicht tut).
Das Auswärtige Amt hat selbstverständlich noch einmal nachgelegt, den iranischen Botschafter einbestellt und erklärt, der iranische Vergeltungsschlag sei "klar völkerrechtswidrig und durch nichts zu rechtfertigen". Dies jetzt durch einen Sprecher, nicht durch die Nullstelle an der Spitze. Und Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann meinte dann noch, dass sich "Deutschland solidarisch an die Seite von Israel" stelle.
Wer also auch nur gehofft hat, dass ein halbes Jahr völkerrechtswidriges Gemetzel an palästinensischen Zivilisten in Berlin zumindest eine kurze Verzögerungsschleife zum Nachdenken vor der Absonderung neuer Treueschwüre auf Israel bewirkt hätte, sieht sich schwer getäuscht. Nicht nur, dass der israelische Angriff, der den Schlagabtausch eingeleitet hat, nicht verurteilt wurde, nein, man hält es nach wie vor für geboten, besonders unerbittlich der israelischen Regierung die Stange zu halten. Inzwischen sogar unerbittlicher als die USA, die zumindest begriffen zu haben scheinen, dass eine Eskalation gegen Iran im Wahlkampf nicht günstig wäre, schon allein wegen der Öltransporte durch die Straße von Hormus.
Die ARD-Tagesschau weiß natürlich wieder einmal genau, wie alles einzuordnen ist, und schreibt: "Der Iran hat Anerkennung von der internationalen Gemeinschaft wegen seiner angeblichen "Zurückhaltung" gegenüber Israel verlangt". Mit diesem Satz wird schon vorab die dann zitierte Erklärung aus dem iranischen Außenministerium ins Lächerliche gezogen:
"Statt Anschuldigungen gegen den Iran zu erheben, sollten die (westlichen) Länder sich selbst die Schuld geben und die Frage (…) beantworten, welche Maßnahmen sie gegen die Kriegsverbrechen Israels ergriffen haben."
Damit tut sich bekanntlich Deutschland besonders schwer. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, gewissermaßen das höchstrangigste Konzentrat des deutschen Übels, droht aber bereitwillig mit ihrem liebsten Mittel – gegen Iran, versteht sich.
"Mit Blick nach vorn werden wir über zusätzliche Sanktionen gegen den Iran beraten, insbesondere, was die Drohnen- und Raketenprogramme des Irans angeht."
Nach vierzig Jahren Dauersanktionierung dürfte diese Nachricht in Teheran für wahres Entsetzen sorgen. Ob aber tatsächlich alle Länder der EU ihren Tunnelblick teilen, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.
Interessant ist jedenfalls, dass auch die Warnungen, die vorab aus Teheran geschickt wurden, in Deutschland ebenso begrenzt wahrgenommen werden wie die eigentliche Bedeutung des israelischen Angriffs auf die Botschaft. Das ist selbst in anderen EU-Ländern anders. Das irische Fernsehen RTE beispielsweise befasst sich in seiner Berichterstattung sehr ausführlich mit diesen Warnungen, und damit, dass zwar die USA behaupten, sie hätten drei Tage vor dem Vergeltungsschlag keine Warnungen erhalten, dem aber die Vertreter mehrerer anderer Länder widersprochen haben:
"Türkische, jordanische und irakische Regierungsvertreter sagten, Iran habe Tage vor seinem Drohnen- und Raketenangriff auf Israel ausgiebig gewarnt, aber US-Vertreter erklärten, dass Teheran Washington nicht gewarnt hat, und es bedeutenden Schaden habe anrichten wollen.
Das türkische Außenministerium sagte, es habe vor dem Angriff sowohl mit Washington als auch mit Teheran gesprochen, und fügte hinzu, es habe als Vermittler Botschaften weitergegeben, um sicher zu sein, dass die Reaktionen angemessen seien."
Einer der Kommunikationskanäle sei auch über die Schweiz verlaufen. "Eine iranische Quelle, die über das Thema informiert ist, sagte, dass Iran die USA durch diplomatische Kanäle, darunter Katar, die Türkei und die Schweiz, über den Tag informiert hat, an dem der Angriff geplant sei, und gesagt habe, er werde in einer Weise durchgeführt, die es vermeide, eine Erwiderung zu provozieren."
Soviel zur "angeblichen Zurückhaltung" der Tagesschau. Mag ja sein, dass die Deutschen einfach beleidigt sind, weil sie nicht vorab informiert wurden. Es gab tatsächlich einmal eine Zeit, in der auch deutsche Diplomaten in einem solchen Moment als Vermittler hätten gesehen werden können, sogar von Iran. Das war allerdings lange vor Annalena Baerbock, die geholfen hat, die letzten Reste dieses diplomatischen Ansehens zu bestatten.
Auf jeden Fall steht zu fürchten, dass auch ein Online-Kurs über Völkerrecht dieses Defizit nicht zu beseitigen vermag. Die meisten Programme könnten die Zahl derer nicht bewältigen, die dringend dieser Bildungsmaßnahme bedürften.
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