Von Dagmar Henn
In den vergangenen Tagen gab es eine Vorführung, wo sich die Zivilisation verortet und wo die Barbarei. Es ist gerade eine Woche her, da bombardierte Israel die iranische Botschaft in Damaskus. In Deutschland schreibt man nach wie vor gern von einem "Konsulargebäude", aber auch wenn es der Geräteschuppen des Hausmeisters gewesen wäre, solange er auf dem Gelände der Botschaft steht, fällt er unter den Schutz des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen.
In der Berichterstattung wird alles Mögliche thematisiert, aber nicht die Tatsache, dass hier ein Staat gezielt die Botschaft eines anderen in einem dritten angegriffen hat (inzwischen haben selbst die Vereinigten Staaten eingestanden, dass das ein israelischer Angriff war). Ganz zu schweigen davon, dass irgendeine Verurteilung dieses Übergriffs erfolgte. Im Gegenteil, man macht sich eher Sorgen, was jetzt Israel passieren könnte, wenn Iran zurückschlägt …
Und nun das Gegenstück in Lateinamerika. Ecuadorianische Spezialeinheiten stürmen die mexikanische Botschaft, in der der Stellvertreter des ehemaligen Präsidenten Raffael Corea, Jorge Glas, Asyl erhalten hatte. Der Akt wird in ganz Lateinamerika einhellig verurteilt, die extrem US-freundliche argentinische Regierung unter Javier Milei eingeschlossen. Nicht nur Mexiko, auch Nicaragua haben ihre diplomatischen Beziehungen zu Ecuador abgebrochen.
In beiden Fällen reden wir von Handlungen, die ein klassischer Kriegsgrund sind. Schließlich ist es nicht erst seit dem Abschluss des Wiener Übereinkommens im Jahr 1961 üblich, dass diplomatische Immunität gewahrt wird, nicht nur bezogen auf Personen, sondern auch bezogen auf das Gelände, auf dem sich eine Botschaft befindet. Auch wenn die Verpflichtung vor allem für den Empfangsstaat gegenüber dem Entsendestaat gilt, ist die Aufrechterhaltung dieser Regeln ein Interesse, das alle Staaten teilen. Oder zumindest teilen sollten. Völkerrechtlich war der israelische Angriff in Damaskus ein Angriff auf das Staatsgebiet von Iran, so wie der ecuadorianische ein Angriff auf das Staatsgebiet Mexikos war.
Es war tatsächlich über Jahrzehnte hinweg, auch mitten im Kalten Krieg, üblich, dass Angriffe auf Botschaften gemeinsam verurteilt wurden. Mehr noch – selbst während des Zweiten Weltkriegs wurde beispielsweise die deutsche Botschaft in Moskau nicht gestürmt, nachdem der deutsche Überfall begonnen hatte, sondern das Personal wurde per Zug nach Istanbul evakuiert, wobei sogar Zeit gelassen wurde, kritische Unterlagen vor dem Abzug zu vernichten.
Die Regeln sehen es vor, dass, falls diplomatische Beziehungen abgebrochen werden, die Botschaft eines anderen Landes Gelände und Gebäude betreut, bis besagte Beziehungen wiederaufgenommen werden. Sprich, wenngleich diese Beziehungen auf null heruntergefahren werden, lösen sich Eigentumsverhältnisse und Exterritorialität nicht auf.
Heute kann man es sich schon nicht mehr vorstellen, dass ein derartiger Übergriff wie in Damaskus oder Quito blockübergreifend verurteilt wird. Für die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad gab es zumindest noch eine Entschuldigung. Als 2014 in Kiew die russische Botschaft mit Molotow-Cocktails angegriffen wurde, war schon keine Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat mehr möglich. Seitdem verschwinden die Hemmungen in dieser Hinsicht im Westen immer weiter.
Was eigentlich zutiefst irritieren sollte. Die Reaktion, die die Staaten Lateinamerikas auf den Übergriff auf die Botschaft Mexikos zeigten, sollte genauso auf den Übergriff Israels auf die Botschaft Irans zu sehen sein. Gerade aus Europa – die Spielregeln der Diplomatie sind ein Produkt der europäischen Geschichte mit ihren vielen Kriegen, mit stetig wechselnden Koalitionen; eine kulturelle Errungenschaft, deren Wert man wohl nicht mehr wahrzunehmen versteht.
Im August 2014 hatte ich dazu einen kurzen Artikel geschrieben, und dabei die Reaktion auf den damaligen Angriff auf die Botschaft in Kiew sowie das Verhalten diverser internationaler Organisationen in Bezug auf die Ereignisse nach dem Maidan-Putsch mit der Legende verglichen, nach der Alexander der Große auf seinen Feldzügen hinter seinen Truppen die Brücken niederbrennen ließ, um einen Rückzug unmöglich zu machen. Damals war mein Fazit:
"Kaum jemand wundert sich darüber, dass sämtliche Strukturen, die zum Zwecke der Konfliktbegrenzung oder -beendigung entstanden sind, eine nach der anderen zu Klump gehauen werden. Dabei ist das ein weit stärkeres Warnsignal als NATO-Manöver oder das Gekreische des irren Dänen Rasmussen. Sie benehmen sich, als wäre nichts von all dem mehr nötig, wenn sie mit dem fertig sind, was sie vorhaben. Als gäbe es kein Morgen."
In den zehn Jahren, die seither vergangen sind, hat sich diese Entwicklung nur immer weiter verschärft. Der Umgang mit der Immunität von Botschaften ist nur ein Baustein; ein anderer sind Eingeständnisse offener Täuschung, wie von François Hollande und Angela Merkel bezogen auf die Minsker Abkommen; und nicht zu vergessen die Spionagehysterie, die immer neue Blüten treibt.
Vielleicht fällt es leichter, zu begreifen, warum das in diesen Zusammenhang hineingehört, wenn man stattdessen von Auslandsaufklärung spricht. Weil es eben nicht grundsätzlich um ein feindseliges Handeln geht, sondern eine der zentralen Funktionen dieser Tätigkeit die Bestätigung oder Widerlegung dessen ist, was das Gegenüber als öffentliche Position vertritt.
Nehmen wir einmal das private Gegenstück einer diplomatischen Krise. Ein Bekannter sagt zu mir, mein Freund gehe fremd. Nutze ich dann die erstbeste Gelegenheit, um besagtem Freund eine Ohrfeige zu verpassen und ihm seine Zahnbürste vor die Füße zu werfen? Wenn ich einigermaßen erwachsen bin, wohl kaum. Kann sein, dass ich ihn mit der Behauptung konfrontiere – aber gleich, was er sagt, ich suche auf jeden Fall nach einer Quelle, die mir bestätigen kann, ob überhaupt etwas dran ist, oder ob die Behauptung womöglich sogar stimmt, unabhängig davon, was mir mein Freund erzählt. Das heißt, ich unterhalte mich mit jemandem, der seine Geheimnisse kennt. Sein bester Freund beispielsweise.
Auf die staatliche Dimension übertragen, wäre besagter bester Freund ein Spion, den ich anwerbe. Wobei er eben durchaus die Funktion erfüllen kann, das angeschlagene Vertrauen wiederherzustellen, also die Krise zu beenden.
Es gibt Fälle, in denen ebendiese Funktion lebenswichtig sein kann, wie etwa in den 1980ern, als die Sowjetunion während des NATO-Manövers "Able Archer 83" einen tatsächlichen Angriff fürchtete. Es war die Bestätigung durch einen Agenten, dass kein Angriff geplant sei, die diese Krise entschärfte und verhinderte, dass die bereits startbereiten nuklearen Langstreckenbomber abhoben.
Das ist ein weiterer Grund, warum das augenblickliche Verhalten im Westen, das an jeder Ecke russische Spione sieht und zur Jagd auf sie bläst, vollkommen widernatürlich ist. Der andere Grund ist, dass man üblicherweise auch Agenten, die man identifiziert hat, nicht aus dem Verkehr zieht, sondern an ihrer Stelle belässt, solange es keinen wirklich dringlichen Grund gibt, anders zu handeln. Warum? Weil Kontrolle der entscheidende Punkt ist, und es vorteilhafter ist, eine bekannte Lücke bei Bedarf mit selbst gewählter Information (die auch falsch sein kann) zu füttern, als das Risiko einzugehen, es mit einer unbekannten Lücke zu tun zu haben.
Die Aufklärung ist, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren, die Schwester der Diplomatie. Während die Diplomatie sich um Verhandlungen bemüht, ist die Aufklärung damit befasst, die Verlässlichkeit des Verhandlungspartners zu überprüfen oder zu bestätigen. Was unwichtig scheint, solange die Beziehungen ideal funktionieren, vielleicht unerwünscht ist, wenn sie es nicht tun, aber absolut unverzichtbar, wenn man die Möglichkeit haben will, von einem schlechteren in einen besseren Zustand zu gelangen.
Vernünftiges Regierungshandeln – und das ist eine technische Ebene, unabhängig vom bestehenden politischen System – sollte danach streben, ein Maximum an Entscheidungsoptionen zu erzeugen. Wenn alle Entscheidungen vorab determiniert sind, was ungefähr so aussieht, wie sich die NATO-Staaten derzeit verhalten, dann verschwindet der Raum des Politischen. Es ist nicht wirklich schwer, Kriege zu beginnen, es ist schwer, sie zu beenden, aber dieses Feld von Diplomatie bis Aufklärung bietet die dafür erforderlichen Werkzeuge.
Gesetzt den Fall, man käme im Westen, oder in Teilen des Westens, zu der Einsicht, den ukrainischen Krieg zu beenden. Man würde versuchen, ein Verhandlungsangebot zu machen. Auf welcher Grundlage sollte Russland dem vertrauen, nach der inzwischen langen Liste von Täuschungen und Gesprächsverweigerung? Wie soll es möglich sein, das zerschlagene "offizielle" Vertrauen zu substituieren – was manchmal über persönliche Beziehungen möglich ist – wenn das diplomatische Personal so weit zurückgefahren ist, dass gerade noch das Minimum an konsularischer Tätigkeit möglich ist, und wenn andererseits jeder schon zum russischen Spion erklärt wird, der am Tag des Sieges ein belegtes Brötchen in der russischen Botschaft gegessen hat?
Je ernsthafter der Konflikt, desto wichtiger wird dieser "graue" Bereich rund um die formelle Diplomatie; wenn Angehörige der Bundeswehr Kontakte zu einem russischen Militärattaché haben, etabliert das einen Informationskanal, der eben nicht nur für eine der beiden Seiten vorteilhaft sein kann. Manchmal hat man das Gefühl, die entscheidenden Politiker des Westens hätten schlicht zu viele James-Bond-Filme gesehen, oder wären, nur weil das bei der CIA eine sehr mächtige Abteilung ist, der Überzeugung, genau darum ginge es im Kern bei der Aufklärung, weshalb man auch ganz dringend aus jeder Mücke einen Elefanten machen muss.
Zu den Nebenkanälen, die informelle Kommunikation ermöglichen, gehören beispielsweise auch internationale Sportverbände. Oder kulturelle Verbindungen. Normalerweise ist es ein weites Feld, mit vielen Möglichkeiten und Varianten, aber nachdem bereits 2014 die ersten Anfänge zu sehen waren, wurde spätestens seit 2022 alles attackiert, was auch nur irgendwie russisch aussah.
Was, und das ist der Punkt, der kaum verstanden wird, nicht Russland schadet, sondern Deutschland bzw. dem Westen. Denn es sind nicht Russlands Handlungsoptionen, die eingeschränkt werden, sondern die der westlichen Länder. Ebenso wie Verhaltensweisen, wie die von Hollande und Merkel, nur auf den ersten Blick einen Nutzen für die "eigene" Seite zu bringen scheinen; tatsächlich hat eine Untergrabung der Glaubwürdigkeit weit allgemeinere Folgen, während der Vorteil aus diesem Vorgehen auf eine einzelne konkrete Frage begrenzt und sehr vorübergehend ist.
Was jetzt, bezogen auf die private Erzählung weiter oben, etwa dem entspricht, dass besagter Freund ein geschickter Lügner ist, und sein Freund ihn wiederum deckt. Wenn das dann herauskommt, ist nicht nur die Beziehung mit besagtem Freund am Ende, sondern meine "Quelle" fällt gleichzeitig als Vermittlungsoption aus, auch dann, wenn der Freund plötzlich entdecken sollte, dass er die Beziehung halten will.
Der Westen selbst scheint unfähig, wahrzunehmen, welche Botschaft dieses Verbrennen von Brücken aussendet. Eine Botschaft, die mit jedem Schritt aus dem bestehenden diplomatischen und politischen Rahmen heraus weiter verstärkt wird. Im Gegenteil, es wird geradezu besessen danach gesucht, ob irgendwo noch ein Faden zu finden ist, der durchtrennt werden könnte, und nicht einmal die Abwendung des Globalen Südens konnte daran etwas ändern.
Wäre dieser Westen eine Person, und die Beziehungen, die abgebrochen würden, wären soziale, man wäre angesichts dieses destruktiven Furors versucht, von unmittelbarer Suizidgefahr auszugehen. Gleich, wie sehr in der Rhetorik Überlegenheit und Zuversicht betont werden, wer zuversichtlich ist, zu siegen, hat es nicht nötig, hysterisch zu reagieren. Und was von außen gesehen den Eindruck des Wahns hinterlässt, ist genau jene Kombination aus einem letztlich von Verzweiflung bestimmten Handeln mit einer zur Schau getragenen Hybris.
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